Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VII.

Zwei Tage später saß Francine Le Hagre im Bibliothekszimmer des Schlosses und wartete auf den Rechtsanwalt Marchal – Mamas alten Verehrer –, der seine Ankunft angekündigt hatte. Hilflos und ungeduldig blätterte sie in dicken verstaubten Gesetzbüchern, verfing sich in den Untiefen der Jurisprudenz und blieb in den gelehrten Anmerkungen stecken.

Durch die offenen Fenster drang der Geruch feuchter Blätter, der trostlose Niederschlag des Herbstes, und erfüllte sie mit Trauer und Todesbangen. Nervös und aufgeschreckt erwartete sie jede Minute ungeduldig ein Ereignis, ein Unglück, die Post. Sie hatte ihrem Notar und ihren Freunden, Frau von Guertes und den Morlands geschrieben und ihrer Kammerjungfer Celine telegraphiert, sie möge mit ihren Kleider- und Wäschekoffern nachkommen. Keine Antwort, keine Nachricht. Auch ihr Gatte hüllte sich in Schweigen; sie hatte die Empfindung, daß eine Spinne ihr Netz um sie zog …

Obwohl sie hinter die Maske von Le Hagres Heuchelei geblickt hatte, war er ihr doch rätselhaft und in seiner Ungreifbarkeit beängstigend geblieben.

Er war auch wirklich ein merkwürdiges Produkt seiner Umgebung und übler Anlagen. Schon als Kind hatte er erkannt, daß die beste Ausflucht aus mißlichen Situationen die Lüge war. Die Lüge, gegen die unentwegt gepredigt wurde, und die doch jedermann skrupellos anwendete, wenn er damit etwas erreichen, dadurch etwas verbergen wollte … Man log aus Bequemlichkeit, aus Gewinnsucht, aus Eitelkeit, ohne Grund und zum Vergnügen. Seine Eltern logen ebenso wie alle anderen … Warum sollte er nicht lügen? Es war so bequem, so einfach, so wirksam. Die Wahrheit machte niemand Freude und schadete dem, der sie aussprach. Die Lüge wurde ihm zur Natur, um so mehr als ihn seine jesuitische Erziehung mit der klassischen Formel der Reservatio mentalis, dem heimlichen Vorbehalt, vertraut machte. Er genoß es geradezu als ein Vergnügen, ein Doppelleben zu führen und unter dem Schein äußerer Ehrbarkeit sein Herz voll Habsucht, Lüsternheit, Hoffart und Gier zu verbergen. Die Angst, die ständige Angst vor den Höllenstrafen, die er für seine Sünden vor Augen sah, erhöhte den gefährlichen Reiz der Situation. Gewiß, er hoffte rechtzeitig seine Rechnung mit dem Himmel machen zu können … aber ein Unfall, eine plötzliche Krankheit konnten ihn hinraffen, ehe dies geschah … eine unausdenkbare, quälende Idee …!

Verschlossenheit, Selbstbeherrschung, Tücke und Willenskraft bewahrten ihn davor, sich jemals zu verraten und nur von Wut und Haß übermannt, hatte er sich letzthin Francine gegenüber allzusehr gehen gelassen …

Francine fühlte, wie ihre Beklemmung in der Stille des leeren Hauses zunahm. Das Ehepaar Lurat war abgereist und sie hatte die Empfindung, daß sie in ihm keine Freunde hätte … Ihre Teilnahme, ihre Anerbieten, sich nützlich zu machen, waren schon unerträglich gewesen, und Gräfin Favié hatte auf die Frage Frau Lurats, ob es zur Scheidung kommen werde, sehr reserviert geantwortet, sie hoffe, daß die Mißhelligkeiten zwischen den jungen Eheleuten keine nicht wieder gutzumachenden seien …

Die Lurats hatten sich angeblinzelt. Man verstand schon … Wahrscheinlich war es Francine, die … Bei einer jungen Frau von so modernen und extravaganten Ansichten kein Wunder … Ja, so weit kam es, wenn man sich über die Meinung der Welt mokierte, wenn man den guten Ton nicht achtete, wenn es einem an Takt fehlte … Wenn der gute Le Hagre der schuldtragende Teil wäre, hätte man wohl keinen Grund gehabt, sich so zurückhaltend zu äußern! Also …

Und am nächsten Tag hatten sie taktvoll ihre Koffer gepackt und waren zugleich mit Charlie abgereist

Hilflos durchforschte Francine das allgemeine Inhaltsverzeichnis der Gesetzsammlung, einen eigenen massiven Band. Zwischen den enggedruckten Zeilen, die ihr wie Ameisen vor den Augen tanzten, standen größere, die wie Anführer Ordnung in die unentwirrbare Masse zu bringen versuchten.

Sie verlor den Weg, geriet ins Strafrecht und ins Handelsgesetzbuch. Überall unverständliche Ausdrücke: Tagsatzung, Einspruchstermin, Mandat, Konfiskation, dingliche Servitut … Und sie wunderte sich, daß sie, die – obwohl ihre beiden Eltern nichts davon hielten – viel mehr gelernt und gelesen hatte als der Durchschnitt ihrer Altersgenossinnen, nicht die geringsten Gesetzeskenntnisse hatte. Warum lernte man so viel Nebensächliches und erfuhr nichts über diese wichtige Materie, die doch offenbar mit ihren Fäden und Schlingen das ganze Leben umfaßte?

Sie mußte sich selbst über ihre Lage, ihre Aussichten informieren! Ihre Mutter würde trotz allem, aus Gründen der Moral und Religion, aus Rücksicht auf die Gesellschaft und auf Josette, immer zum Nachgeben raten. Gewiß war sie nur deshalb Marchal auf die Bahn entgegengefahren, um auch ihn in diesem Sinne zu bearbeiten.

Seite auf Seite flog raschelnd durch ihre Finger. Das war das Bürgerliche Gesetzbuch … Über Eigentum, Kauf, Tausch, Miete, Abstammung, Erbfolge kam sie endlich auf die Paragraphen, die Ehe und Ehescheidung behandelten …

Ja … Eheleute schuldeten einander Treue, Unterstützung, Hilfe … Der Mann war der Beschützer der Frau, die ihm Gehorsam schuldete … Das hatte sie bei der Trauung schon zu hören bekommen.

Weiter! Scheidung …? Aber das veraltete Werk enthielt nicht einmal noch die Bestimmungen, die um die Jahrhundertswende Gesetz geworden waren! Nichts, was sie belehren, beruhigen konnte …

Ärgerlich verließ Francine das Bibliothekszimmer und trat auf die Terrasse. Wie merkwürdig war es doch, daß sich die Menschen so schwer von alten Phrasen, von verstaubten Ideen losmachen konnten! Gedankenlos und ohne Kritik hielten sie sich an jedes ererbte Vorurteil … Ihre eigene Mutter, die in ihrer Ehe so Bitteres erfahren hatte, die auf Liebe und Glück verzichtet und als Entschädigung nicht einmal Zufriedenheit und inneres Gleichgewicht gewonnen hatte – fand nicht den Mut, jetzt, wo die Tochter einem ähnlichen Geschick zu verfallen drohte, ihr zuzurufen: Geh', zersprenge die Fessel, denk' an dich, sei stärker als ich zu meiner Zeit war! Nein, sie war für Kompromisse und fatalistische Hinnahme und stille Verzweiflung! Oh, Francine würde sich nie vom Schicksal stumm erwürgen, lebend begraben lassen! Sie war entschlossen, zu leben, wirklich zu leben …

Der Wagen mit Gräfin Favié und dem Anwalt Marchal rollte durch die Allee.

Einige Minuten später trat Gabriele sichtlich bewegt ein und sagte zu Francine:

»Sei unbesorgt, Marchal ist ganz deiner Ansicht …« Fast tat es ihr leid, daß sie ihn berufen hatte. War er nicht ein Freigeist, ein Spötter, ein Feind der Kirche? Wie oft waren ihre widersprechenden Ansichten gegeneinander geprallt … Aber sie durfte ihm nicht unrecht tun, ihm, dem ergebenen treuen Freunde, der sofort seine Kur in Vichy unterbrochen hatte, als er die Depesche erhielt.

»Übrigens«, fuhr sie fort, während sie ihren Hut ablegte, »ist die Sache nicht so einfach und Marchal fürchtet allerlei Schwierigkeiten.«

»Hier ist die Post«, unterbrach Francine. »Ein Brief von Charlie …«

Für Gabriele war der Zustand der Verliebtheit noch so neu und ungewohnt, daß sie ihre Verwirrung nicht verbergen konnte. Hundertmal hatte sie Briefe von ihm erhalten … Aber jetzt … Francine sah sie erröten.

»Willst du ihn nicht lesen?« fragte Francine leicht erstaunt. Sie kannte Charlies Schwärmerei für ihre Mutter und empfand für ihn mehr Sympathie als er glaubte, wenn sie sich über seine Lebensauffassung, die ihr oft etwas engherzig vorkam, auch manchmal in aller Freundschaft ein wenig lustig machte. Bei ihrer Ankunft hatte er ihr so brüderlich die Hand gedrückt und sich ihr in einer so zarten Form zur Verfügung gestellt, daß sie davon noch ganz gerührt war.

Die Zeilen tanzten vor Gabrieles Augen. Sie konnte nicht zu Ende lesen und rief, von einem Schwindel ergriffen:

»Gleich … ich gehe in mein Zimmer …«

Wenn Francine nicht so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen wäre, hätte sie das Benehmen ihrer Mutter gewiß in Verwunderung gesetzt.

Gräfin Favié schloß sich in ihrem Zimmer ein. Die gewaltige Erschütterung durch das Unglück ihrer Tochter hatte ihre eigenen Sorgen nur zeitweilig zurückgedrängt. Mit neuer Gewalt schlugen die Wogen der Leidenschaft um sie empor und ihr Herz klopfte stürmisch wie in der Nacht, als sie gezwungen war, Charlie in ihrem Zimmer zu verstecken. Welche Schande, wenn man ihn bei ihr gesehen hätte …! Schrecklich und süß waren die Gefahren ihrer Liebe …

In der kurzen Abschiedsunterredung nach Francines Ankunft, in ihrem Boudoir, hatte sie erst erkannt, wie teuer, wie unentbehrlich er ihr war. Er hatte sie beklagt und bedauert, als ob es sich nur um sie gehandelt hätte, und nur mit Mühe konnte sie ihn von seiner Absicht abbringen, Le Hagre zu stellen und zu fordern. Wie gerne hätte sie ihn an ihr Herz gezogen, seine Finger geküßt, sein Haar gestreichelt … Aber weniger denn je durfte sie sich jetzt gehen lassen, wo neue und schwere Mutterpflichten an sie herantraten.

Charlies Brief zitterte in ihren Händen. Ein peinlicher Zwischenfall hatte sich in seinem Regiment ereignet: Zwei Offiziersdamen hatten sich geweigert, einer dritten die Antrittsvisite zu erwidern, weil sie eine geschiedene Frau war … die Frau eines Leutnants. Wenn sie zufällig den Oberst geheiratet hätte, hätte man natürlich nie gewagt, sie zu brüskieren. Aus diesem nichtigen Zwist, aus dieser Weibergeschichte waren vier Duelle entstanden, die Zeitungen hatten den Fall aufgegriffen und glossiert, eine Interpellation in der Kammer war eingebracht worden. Und das Endresultat war, daß das 38. Dragonerregiment binnen acht Tagen in eine entfernte Grenzgarnison transferiert wurde. Charlie mußte natürlich mit und Urlaub war erst zu erwarten, bis Gras über den Fall gewachsen sein würde. Charlie war verzweifelt und beschwor sie, ihn von seinem Versprechen zu entbinden, daß er erst wieder kommen dürfe, wenn sie ihn riefe. Er müsse sie vor dem Abmarsch noch einmal sehen …

Allmählich begriff Gabriele die Bedeutung dieser Nachricht. Charlie wurde ihr für längere Zeit entzogen. Und im ersten Moment empfand sie es wie einen Trost, daß diese Trennung durch ein äußeres Ereignis erzwungen wurde, denn sie selbst hätte es doch kaum über sich gebracht, ihn von sich fernzuhalten, obwohl sie fühlte und wußte, welchen Sturm von Unsicherheit und Leid ihre so plötzlich erkannte Liebe ihnen bringen würde …


 << zurück weiter >>