Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
»Wenn Sie meine Meinung interessiert,« sagte Fomette zu Broussin, »bitte: Diese junge Frau täte am besten daran, zu ihrem Mann, der sie anbetet und den sie liebt, zurückzukehren.«
Und als Broussin ihn sehr überrascht um die Begründung dieser Ansicht fragte, setzte der Richter eifrig fort:
»Haben Sie die zwei beisammen gesehen? Haben Sie die Zeugeneinvernahme geleitet? Nicht wahr, nein! Ein alter Praktiker wie ich läßt sich nicht täuschen! Ich verstehe die feinsten Nuancen zu deuten und sage Ihnen, daß dieser Gatte offensichtlich nur von der einen Idee besessen ist, die Verzeihung seiner Frau zu erlangen, ihre Liebe wieder zu gewinnen. Und die junge Frau! Sie kämpft gegen die bedauerlichen Einflüsse an, die ihre Ehe zu zerstören suchen, und fühlt im Grunde ihres Herzens sehr wohl, wohin sie gehört, wo ihr Glück liegt …«
Seine Genugtuung, seine Selbstzufriedenheit verblüffte Broussin.
»Also, Sie glauben, daß nach all dem die Wiederaufnahme des Zusammenlebens wünschenswert oder auch nur denkbar wäre …«
»Warum nicht, wenn das Scheidungsbegehren abgewiesen wird?«
»Wie sollte das möglich sein? Der Ehebruch ist doch bewiesen!«
»Die Wiederversöhnung nicht minder …«
»Aber, aber …!«
»Da gibt es kein aber … Zwei einwandfreie Zeugen, die Mutter und die Klosterfrau, haben den intensiven Grad dieser Versöhnung bezeugt …«
»Das ist doch absurd!« rief Broussin. »Für mich besteht kein Zweifel darüber, daß nicht nur keine Versöhnung stattgefunden hat, sondern daß Frau Le Hagre für ihren Gatten nichts wie Abscheu und Haß empfindet.«
»Lassen Sie sich nur nicht unbewußt zu irgend einer Parteilichkeit verleiten«, riet Fomette mit wohlwollendem Spott. »Ich, der ich der Sache vollkommen vorurteilslos gegenüberstehe – denn ich betrachte sie vom Standpunkte absolutester Gleichgültigkeit – ich gebe Ihnen auf Grund meiner Menschenkenntnis die Versicherung, daß die junge Frau längstens drei Monate nach Abweisung ihres Scheidungsbegehrens mit ihrem Mann wieder in glücklichster Harmonie zusammenleben wird. Und wenn Sie an meiner Stelle das Beweisverfahren geleitet hätten, würden Sie meine Meinung teilen. Mir macht man nichts vor …«
Broussin sah ein, daß es am klügsten war, ihm nicht zu widersprechen.
»In der Tat,« sagte er, »Sie haben vielleicht recht. Ich hatte ja nicht Gelegenheit, das Verhör zu führen …«
Er war überzeugt, daß es nicht schwer fallen konnte, Fomette zu einer anderen Ansicht zu bekehren, wenn man es geschickt anstellte. Unglücklicherweise durchkreuzte der Beginn der Gerichtsferien seinen Plan. Die Mitglieder des Senates zerstreuten sich nach allen Richtungen. Francine hatte gehofft, daß Trassier vielleicht gleich nach Einsicht in den Akt über das Zeugenverhör das Urteil fällen würde. Aber er war nicht mehr dazugekommen und hatte die Entscheidung auf den Herbst vertagt.
Francine durfte sich, diesmal mit der formellen Zustimmung Le Hagres, nach Aygues-Vives zurückziehen, aber vorher hatte sie zu ihrem großen Schmerze Josette ausliefern müssen, die sich im Moment der Abreise weinend an ihre Mutter geklammert hatte.
Der August verlief langsam und trostlos. Francine hatte die fixe Idee, daß Josette krank werden könnte, und interessierte sich in ihrer Sehnsucht nach dem Kinde für nichts anderes.
Auch Gabriele litt unter den zwiespältigen Gefühlen, die ihr Herz erfüllten. Sie konnte sich nicht verhehlen, daß sie Charlie über alle Maßen liebte, und sagte sich doch immer wieder, daß sie ihm niemals angehören würde.
Auf ihren einsamen Spaziergängen durch den Park von Aygues-Vives grübelte sie über ihr verfehltes Leben nach, über ihre entfliehende Jugend, über Altern und Tod. Und sie wußte doch, wenn Charlie plötzlich gekommen wäre, hätte sie ihm in die Arme sinken müssen … Nachts im Traume hörte sie seine Stimme, fühlte sie seine Küsse. Fieber verzehrte sie. Und am Morgen erwachte sie in Tränen gebadet und verzweifelt.
Auch Charlie litt, aber er ertrug den Schmerz als Mann. Er hatte sich vorgenommen, Gabrieles Schwäche zu schonen und seine hohe Liebe rein zu erhalten. Wenn er litt, so sollte doch niemand es ihm anmerken, am wenigsten die Geliebte …
Im September kam Josette; Francine wurde durch ihre Anwesenheit, ihre strahlende Heiterkeit getröstet und beschäftigt und fühlte sich weniger unglücklich. Aber während sie bis dahin geglaubt hatte, daß ihr nur Josette gefehlt habe, kam ihr jetzt zu Bewußtsein, daß Éparvié seit ihrer Abreise von Paris nicht geschrieben hatte. Er hatte versprochen, daß er sie besuchen würde, und war nicht gekommen. Natürlich war es besser so, denn seine Anwesenheit hätte Gräfin Favié zweifellos beunruhigt, und Francine sah ein, daß sie aus Rücksicht auf ihren Ruf nicht vorsichtig genug sein könne. Üble Nachrede lag auf der Lauer und Neugierde bewachte jeden ihrer Schritte …
Immerhin schien es ihr, daß Éparvié die Vorsicht ein wenig übertrieb. Fürchtete er, sie zu kompromittieren? Oder hatte sie ihm überhaupt Gefühle zugeschrieben, die er gar nicht empfand? Nein, sie konnte sich nicht getäuscht haben … Deutlich entsann sie sich der schönen Stunden ihres letzten Beisammenseins …
Er, der sonst wenig redete, war gesprächig geworden und hatte ihr in lebhaften Bildern das harte und beglückende Leben der schrankenlosen Freiheit geschildert, an dem er auf seinen Reisen Geschmack gefunden hatte. Er hatte ihr den Zwiespalt seiner Seele geschildert, die sich in der Einsamkeit der Wildnis nach Paris gesehnt hatte und die sich hier von der Frivolität und Leichtfertigkeit des Treibens in Europa abgestoßen fühlte.
Francine wunderte sich, daß er in diesen harten Jahren so gut, einfach und maßvoll geblieben war. Sie bewunderte seine Energie, seine aufrichtige Offenheit und empfand in seiner Nähe ein angenehmes Gefühl des Geborgenseins. Man brauchte sich vor ihm nicht zu verstellen und nicht zu überwachen und konnte sich geben, wie man war. Er gefiel ihr, trotz seiner ergrauten Schläfen und seines verbrannten Teints, denn aus seinen Augen leuchtete das Feuer eines leidenschaftlichen Herzens und jede seiner Bewegungen bewies Entschlossenheit und Kraft. Sie erriet, daß er bereit war, sie zu lieben, daß er sie schon liebte, nie aufgehört hatte, sie zu lieben, und sie rechnete es ihm hoch an, daß er aus Zartgefühl jedes Geständnis vermied. Seine Treue rührte sie.
Eines Tages erhielt sie einen Brief ihres Freundes, in dem er ihr seinen Standpunkt erklärte. Er versicherte sie seiner vollkommensten Ergebenheit und bat sie ohne Umschweife, daran zu denken, daß er, wenn die Stunde ihrer Freiheit endlich geschlagen haben würde, bereit sei, ihr sein Leben zu weihen, falls sie geruhe, sein Anerbieten anzunehmen. Er bat sie, diese Worte nicht als Zudringlichkeit aufzufassen, berichtete, daß er in Geschäften für zwei oder drei Monate nach dem Süden reisen müsse, daß er aber auf ihren ersten Ruf zur Stelle sein würde.
Kein Wort, das an eine eigentliche Liebeserklärung erinnerte, keine romanhaften Phrasen. Der Antrag eines Mannes, der wußte und sagte, was er wollte …
Lange blickte Francine verträumt gegen den Abendhimmel. Als Gräfin Favié sich näherte, hielt sie ihr den Brief entgegen.
»Lies, Mama«, sagte sie ruhig und glücklich, denn die Liebe, die in ihr erwachte, war still und tief wie die Freundschaft.
Gräfin Favié schien verwirrt: die Offenheit Éparviés kam ihr ungewöhnlich, fast ungehörig und, unter den gegebenen Umständen, verfrüht vor. Trotzdem lächelte sie und sagte:
»Unser alter Freund ist noch immer so verrückt … Was sagst du dazu? Nichts? Soll das ein Zeichen der Zustimmung sein? Würdest du ihm im Ernst dein Schicksal und das deines Kindes anvertrauen?«
»Ja«, sagte Francine und wunderte sich selbst, daß sie ohne Zögern und ohne Bedenken antworten konnte.
Der Herbst war vergangen, der Winter kam. Sépale und du Foudray hatten ihre Plaidoyers gehalten, der Vertreter der Staatsanwaltschaft hatte seine Meinung abgegeben und endlich, an einem grauen traurigen Tag, an dem die Schneewolken tief am Himmel standen, verkündigte Präsident Trassier die Entscheidung des Gerichtshofes.
Mit Rücksicht darauf, daß der Ehebruch zwar nachgewiesen sei, daß aber die von dem beklagten Le Hagre eingewendete Wiederversöhnung ebenfalls in einwandfreier Weise durch Zeugen bewiesen sei, da sich die Anwesenheit der Klägerin, Francine Le Hagre, unter dem ehelichen Dache nicht anders erklären ließe, würde das Klagebegehren abgewiesen und die Klägerin zur Tragung der Kosten verurteilt.
So schwanden Francines Hoffnungen.