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Dank Professor Abels energischem Eingreifen hatte das Meeting einen harmonischen Abschluß gefunden. Marion empfing die herzlichsten Komplimente von Herren und Damen, Professoren, Studenten und jungen Mädchen; es war der gewohnte Triumph. Der gewählte Kreis, den Mrs. Piggins zu einer kleinen »party« in ihr Haus geladen hatte, befand sich in feierlich-animierter Laune.
Das Heim der Dame Piggins lag ein wenig außerhalb des Städtchens; die Gäste wurden in mehreren Automobilen befördert. Ein weißhaariger Kavalier mit Knebelbart und feiner, pfiffiger Miene bat Marion scherzhaft-artig, mit seinem bescheidenen Ford vorliebzunehmen. Es war ein reizender alter Herr, sowohl schalkhaft als würdig. »Ihr Vortrag war ganz vortrefflich«, sagte er seiner Dame, wobei er ihr in den Wagen half. »In der Tat: Sie haben mir große Lust gegeben.« – Er redete deutsch, gewandt, wenn auch mit drolligem Akzent; zuweilen ging es ein bißchen daneben – so die Wendung über die »Lust«, die Marions Darbietung ihm gegeben hatte.
Sie mußte lachen, weil es komisch war; schämte sich gleich, und war erst wieder beruhigt, als sie ihn heiter reagieren sah. Er drohte ihr mit dem Finger; hinter der goldumrandeten Brille blitzten die blauen Augen, lustig und gescheit. »Lachen Sie nur, gnädiges Fräulein – es steht Ihnen gut zu Gesicht, und ich mag Personen, die sich amüsieren können! Habe ich vorhin etwas Dummes gesagt? Ja ja, ich vergesse die schöne, komplizierte deutsche Sprache! Sie müssen wissen, ich bin seit dem Jahre 1912 nicht in Europa gewesen. – Das ist lange her«, sprach der alte Herr. Dabei füllte sein Blick sich mit Wehmut. Erinnerungen enthalten immer auch Traurigkeit; sie erfreuen und betrüben das Herz. Der alte Herr lächelte, selig und melancholisch, weil er an Heidelberg dachte. Dort hatte er studiert. – »Wie schön ist Deutschland gewesen!« meinte er sinnend.
Er hieß Franklin P. Schneider und leitete das Germanistische Department der Universität. Seine Eltern stammten aus Hamburg. Er liebte Heines »Buch der Lieder«, Goethes »Faust« – aus dem er Partien ins Englische übersetzt hatte – Wagners »Lohengrin«, und den »Grünen Heinrich« von Gottfried Keller. Er besaß eine Kollektion von Bierseideln aus Bayern und Tirol. Bei festlichen Gelegenheiten spielte er Wiener Walzer auf dem Pianoforte –: alles sprach dafür, daß er sich heute abend dazu bereit finden würde. Er hatte in Berlin den jungen Kaiser bei der Parade und die Uraufführung von Hauptmanns »Webern« gesehen.
Er war Benjamin Abels Vorgesetzter. »I like Ben«, erklärte Professor Schneider mit warmem Nachdruck. »As a matter of fact, I am very fond of him. He is a grand fellow. Had you met him before?« Nein, Marion hatte erst heute das Vergnügen gehabt. »Er macht einen sehr guten Eindruck«, sagte sie, und sah plötzlich zerstreut aus. – 337
Bei Mrs. Piggins gab es Bier und Sandwiches mit einem Käse, der »Liederkranz« hieß –: alles zu Ehren des deutschen Gastes. Später wurde Whisky und Soda gereicht. Mr. Piggins, der Hausherr, war ein lustiger Onkel, er betonte: »Zu Vorträgen gehe ich niemals. Sie machen mich schläfrig.« Er interessierte sich für sein Geschäft, das genug Sorgen und Probleme mit sich brachte. »Was gehen die europäischen troubles mich an?« fragte er Marion. Er unterhielt sich glänzend mit ihr. – »Wir haben unsere eigenen Schwierigkeiten«, erklärte Mr. Piggins. Er sprach von den Arbeitslosen in den USA und von den gefährlichen Konsequenzen des »New Deal«. – »Eines muß man unserem Präsidenten lassen«, gab Piggins zu. »Er hat Courage. Ich bewundere ihn, weil er Courage hat. Aber als Geschäftsmann muß ich doch konstatieren . . .«
Seine Ansichten und Spekulationen waren für Marion lehrreich und unterhaltend. Mr. Piggins war realistisch, dabei nicht ohne Neigung zum Philosophischen. Er verstand: Die Welt verändert sich, das Neunzehnte Jahrhundert ist vorbei –: mit ihm die Epoche des unbegrenzten Liberalismus. »Wenn wir unsere Freiheit bewahren und verteidigen wollen, müssen wir sie vernünftig begrenzen.« Dies begriff und billigte Mr. Piggins. Er sagte: »Ich bin nicht reaktionär. Alles Neue hat meinen Beifall, sogar wenn es Opfer kostet. Gewerkschaften müssen wohl sein; die Leute wollen ihre Interessen kollektiv vertreten.« – Andererseits mochte er sich das Geschäft nicht verderben lassen. »Und wenn ich meine Bude nun zumache wegen der hohen Steuern?« Er fragte es etwas drohend. »Wer hätte etwas davon? Es gäbe noch ein paar Dutzend neuer Arbeitsloser . . .«
Marion hütete sich, Einwände zu machen. Sie hätte es als unschicklich empfunden, sich in Angelegenheiten zu mischen, von denen sie nicht genug wußte; und übrigens war sie müde. Es tat ihr wohl, zu lauschen, anstatt zu reden. Wie angenehm – in einer Sofa-Ecke zu ruhen, vor sich das Whisky-Glas, zwischen den Fingern die Lucky-Strike-Zigarette, und sich von einem nachdenklichen businessman in die Details der amerikanischen Verwaltung einweihen zu lassen! Er sprach von Spannungen und Hoffnungen; von Leistung und von Versagen. Er vertiefte sich in den Personalklatsch von Washington, nachdem er die großen Prinzipien und ihre Auswirkungen in der Praxis humorvoll-gründlich untersucht hatte. Er war sorgenvoll, aber im Grund optimistisch. Er meinte: »Wir sind ein großes und gesundes Volk – auch ein reiches –: warum sollte es mit uns schiefgehen? Wir sind jung. Das sind alles nur Kinderkrankheiten.« –
Marion bemerkte plötzlich – mit leichtem Schrecken –, daß sie nicht mehr aufmerksam zuhören konnte. Die Stimme des Mr. Piggins ward undeutlich; um so eindringlicher klang die des Professors Abel. Er saß am Kaminfeuer, mit Mrs. Piggins, dem wohlwollenden Kollegen Schneider und einem jungen Mann, der ein intelligentes, ziemlich hübsches, sehr braungebranntes Gesicht zeigte. Abel sagte: »Das war eine heikle 338 Diskussion heute abend. Wahrscheinlich habe ich meinen Ruf ruiniert. Mein charmanter Konpatriot, gegen den ich polemisieren mußte, wird verbreiten, ich sei Kommunist. Manche werden es glauben . . .« – Mrs. Piggins lachte entsetzt – während Benjamin abschließend konstatierte: »Dabei bin ich keiner.«
Er sprach zu dem Kreis am Kamin; seine Blicke aber gingen in die andere Ecke des Zimmers. Dort saß Marion mit Mr. Piggins. Sie dachte: ›Warum starrt er mich so an? Es ist unangenehm. Seine Augen passen nicht in sein Gesicht. Figur und Miene sind die eines behäbigen Familienvaters; der Blick aber wirkt sowohl dumpf als auch feurig. Ein enorm eigensinniger Blick . . . Die Mischung aus Pedanterie und Leidenschaft ist gefährlich.‹
Sie erkundigte sich: »Wer ist der junge Mann mit dem braunen Gesicht?« –: nur aus dem Bedürfnis, irgend etwas zu äußern. Ihre Frage kam überraschend; Mr. Piggins hatte von der Arbeitslosen-Unterstützung gesprochen: ›Man soll mit Frauen niemals über ernste Dinge reden‹, meinte er bitter. ›Noch die Gescheitesten sind nicht dazu imstande, sich länger als zehn Minuten zu konzentrieren.‹ – Dann gab er Auskunft. Der junge Mann war Direktor eines kleinen Museums, das zur Universität gehörte. Außerdem hielt er Vorträge über Kunstgeschichte. – »Ich hatte ihn für einen Studenten gehalten«, sagte Marion und zerknickte Streichhölzer zwischen ihren Fingern. »Er sieht wie ein Neunzehnjähriger aus . . .« Dabei überlegte sie sich: ›Habe ich mich bei Abel schon für seine ritterliche Hilfe bedankt? Es war besonders nett von ihm und sehr anständig. Das sollte ich ihm doch sagen . . .‹
Sie sagte es nicht. Sie ging langsam durchs Zimmer, von Mr. Piggins weg, der enttäuscht zurückblieb. Sie näherte sich der Gruppe am Kamin. Ihre Schritte waren sonderbar steif und stelzend. Das Lächeln auf ihrem großen, leuchtenden Mund schien erfroren. Sie bewegte ein wenig das leichte und edle Haupt, während sie stelzend schritt. Was machte sie so erstaunt, daß sie solcherart den Kopf zu schütteln hatte? Die Purpur-Fülle des Haars tanzte locker über einem Gesicht, das sehr blaß war.
In der Nähe des Kamins blieb sie stehen. Sie schien verlegen und war sonst doch die Sicherheit selbst. Sie konnte die Hände nicht stillhalten. Es gelang ihr, einen Aschenbecher umzustoßen. – »Wie dumm!« Ihr Lachen klang mühsam. Sie ließ sich in einen Stuhl fallen – so plötzlich, als hätte jähe Erschöpftheit sie hingeworfen. »Ich bin etwas müde . . .«
Sie hatte es zur Hausfrau gesagt, als Entschuldigung für das Malheur mit dem Aschenbecher. Indessen war es Abel, der antwortete. »Das glaube ich wohl. Sie verbrauchen Ihre Kraft auf dem Podium – man kann es sehen. Ein schönes und beunruhigendes Schauspiel . . .«
»Es freut mich, daß Ihnen mein Vortrag gefallen hat.« Marion sprach konventionell, beinah hart; sie selber wunderte sich über den abweisenden Ton ihrer Worte. War dies ihre Stimme? – ›Mein Gott, ich rede ja wie Mama es zu tun pflegte – ehe sie durch großes Leid verändert und 339 weich gemacht ward.‹ Marion empfand es mit leichtem Schauder. Übrigens begriff sie, daß ihre Äußerung nicht nur kalt gewesen war, sondern auch unpassend. Abel hatte keineswegs sein Gefallen an Marions künstlerischer Leistung ausgedrückt. Das Wort »beunruhigend«, das er benutzt hatte, war vielleicht in einem ablehnenden oder sogar kränkenden Sinn gemeint.
Die kurze Pause, die entstand, war peinlich. Abel schaute verdüstert; um so enthusiastischer verhielt sich der junge Braungebrannte. Er erklärte: ihm, jedenfalls, habe es kolossal gut gefallen – über alle Maßen gut, er sei ganz entzückt. Ob Fräulein von Kammer morgen noch in der Stadt sein werde? Es würde ihm eine Ehre sein, ihr die Ausstellung zu zeigen, die es jetzt hier im Museum gab. Eine außerordentliche Kollektion von Bildern; höchst eindrucksvoll: wenn man ihm glauben durfte. »Es ist eine Kriegs-Ausstellung«, erzählte er eifrig, »eine Anti-Kriegs-Propaganda; die meisten Werke stammen von solchen, die es selber mitgemacht haben, in den Schützengräben . . . Schauerliche Dinge darunter, aber alles sehr stark . . . Auch die Deutschen sind glänzend vertreten . . . Nun, Sie werden ja sehen . . .«
Marion wendete ein: »Aber wahrscheinlich werde ich morgen doch gar nicht mehr hier sein . . .« Sie lächelte, seltsam hilflos –: hilflos unter Abels starrem, forschenden, pedantisch-glühenden Blick.
»Natürlich werden Sie bleiben!« rief temperamentvoll der sportliche Kunsthistoriker. Marion dachte – müde und etwas wirr –: ›Sicher ist er ein guter Ski-Läufer; er sieht mir ganz so aus, als ob er gerade aus den Bergen käme. Ein netter Kerl . . . Daß mir immer wieder diese Jungens gefallen . . . Immer diese Leichtfüßigen, mit den schmalen Hüften und den kindlichen Stirnen . . . Immer diese Läufer, erst laufen sie hinter uns her, dann laufen sie vor uns davon . . . Nicht ganz der richtige Geschmack für eine schwergeprüfte Dame in mittleren Jahren . . .‹
Abels bohrender Blick war sehr wohl dazu imstande, die Gedanken hinter dieser Frauenstirn zu lesen. Er wußte: der junge Braungebrannte gefiel ihr – der ewige Boy, der schwärmerische kleine Museums-Direktor. Übrigens mochte Abel ihn gern, er war beinah mit ihm befreundet. Der ewige Boy war dreiunddreißig Jahre alt und hieß Jonny Clark. Benjamin kannte seinen Charme und seine Zuverlässigkeit, seine Intelligenz und das schöne Talent zur Begeisterung. Ein junger Mann mit feinen Qualitäten; aber nichts für Marion. Abel war sehr geneigt, mit gehobener Stimme vorzubringen: Verehrtes Fräulein von Kammer, ich verbiete Ihnen ausdrücklich, sich mit Mr. Clark intellektuell oder gefühlsmäßig weiter abzugeben. – Schluß mit dem Unsinn! – hätte Benjamin gern gerufen.
Statt dessen bemerkte er, mit einer gewissen Schärfe: »Fräulein von Kammers Rezitationen sind aufregend – so viel steht fest. Aufregung ist niemals ein reiner Genuß. – Sie sind eine Agitatorin, gnädiges Fräulein.«
Wollte er sie verletzen? Die amerikanischen Freunde mußten diesen 340 Eindruck bekommen; es berührte sie nicht angenehm. Sollte es Zank geben, am Kaminfeuer der Mrs. Piggins, zwischen Landsleuten und Gesinnungsgenossen – zwischen zwei Exilierten?
Marion aber fragte gelassen: »Agitatorin – für was?«
»Für das Gute«, gab Benjamin zu. »Für das Richtige und das Schöne. Gerade deshalb stört die agitatorische Geste. Sie paßt besser zu unseren Feinden. – Vergessen Sie doch nicht: wir sind immer in Gefahr, beim Kampf unser Niveau dem des Gegners anzugleichen. Wir imitieren, nur halb bewußt, Taktik und Gebärde des Feindes, in der Meinung, dies vergrößere unsere Sieges-Chancen. – Falsch!« rief Professor Abel und jetzt hatte er die Aufmerksamkeit des ganzen Kreises für sich. »Durchaus falsch! Stark sind wir nur, wenn wir ganz wir selber bleiben. Wäre der Kampf nicht sinnlos, wenn er uns dahin brächte, Werte und Gesinnungen aufzugeben, um derentwillen er doch eben geführt werden muß?«
»Danke für die Belehrung!« – Marion schien nun doch ziemlich enerviert zu sein. Sie zuckte böse die Achseln. »Sie finden also, daß ich mich mit meinem Vortrag auf Nazi-Niveau begebe!« – Mrs. Piggins lachte – ebenso entsetzt wie vorhin, als Abel angekündigt hatte, man werde ihn für einen Kommunisten halten.
Benjamin versetzte: »Das habe ich niemals andeuten wollen. Wie können Sie glauben, ich verfiele auf solche Absurdität?!« Die Frage klang heftig; indessen blieb der Blick forschend, zärtlich und ernst. – »Aber gewisse Symptome machen mich bedenklich«, sagte er.
Marion schwieg – zu verärgert, um sich zu erkundigen, von welcher Art die Symptome seien. Professor Schneider stellte die naheliegende Frage.
Abel redete strenge und pedantische Worte – was ihn keineswegs daran hinderte, die Dame, welche er attackierte, mit gierigem, verzücktem Blick zu betrachten. Er sagte: »Für jeden Agitator werden die großen Werte und Namen, auf die er sich beruft, Mittel zum Zweck. Er liebt sie nicht mehr um ihrer selbst willen – oder nicht mehr nur um ihrer selbst willen –; er nennt und preist sie, weil sie seiner Sache dienen. Ruhm und Reichtum eines dichterischen Werkes werden solcherart ›in den Dienst der Sache‹ gestellt. Das bedeutet: aus der Vision wird das Schlagwort; das höchst Komplexe erscheint vereinfacht; das Niveau ist gesenkt, dem Demagogen-Niveau des Feindes angepaßt. – Was hassen wir denn vor allem an der falschen Ideologie und bösartigen Praxis des totalitären Faschismus? Die Vergewaltigung der Wahrheit; die Entwürdigung des Geistes – die nichts anderes, als die Entwürdigung des Menschen ist. Vom Geist verlangt der Faschismus, er müsse immer und mit allen seinen Kräften den propagandistischen Absichten des Staates dienen. Der Geist als ein Propaganda-Instrument der Tyrannis –: dies ist seine letzte Entwürdigung. Machen wir uns nicht mitschuldig an ihrer Vorbereitung, wenn wir unsererseits die geistigen Werte rhetorisch ›benutzen‹, in der Auseinandersetzung des Tages – anstatt sie zu lieben, gerade weil sie 341 dem Tage entrückt sind, und das Unvergängliche, Unverlierbare, das schöne Menschliche repräsentieren?«
Das war ja ein richtiges kleines Kolleg – übrigens innig vorgetragen. Abel machte Eindruck, wenngleich seine Eloquenz auch befremdete: man war sie von ihm nicht gewohnt. – Marion überlegte sich: Will er mich kränken? Oder ist dieses seine Façon, mir den Hof zu machen? Ach, diese Professoren! Ach, diese Deutschen! . . .
Da er so ernst und innig bei der Sache war, fand sie es angebracht, etwas Vernünftiges zu erwidern, anstatt nur die Empfindliche zu spielen. Sie sagte: »›Das schöne Menschliche‹ –: hübsch und poetisch formuliert! Fraglich scheint nur, ob wir es auch ›das Unvergängliche‹ und ›das Unverlierbare‹ nennen dürfen. Gerade jetzt sieht es doch ziemlich bedroht und gefährdet aus; in Deutschland, zum Beispiel – wo es so besonders zu Hause schien – hat man es zur Zeit ganz verloren. Der Faschismus und ›das schöne Menschliche‹ vertragen sich nicht. – Sie haben es selber betont, Herr Professor! Deshalb bekämpfen wir den Faschismus. Man sollte nicht gar zu wählerisch sein in kriegerischen Zeiten; die Dinge vereinfachen sich. 's ist Krieg, 's ist leider Krieg –: um noch einen deutschen Dichter zu zitieren, den frommen Matthias Claudius. Hoffentlich finden Sie nicht, daß ich ihn ›demagogisch benutze‹ und ›entwürdige‹ . . . Entwürdige ich die Großen, wenn ich sie als Zeugen anrufe für unseren Zorn und für unsere Hoffnung? Wenn ich ihre Worte klingen lasse, zur Verteidigung des ›schönen Menschlichen‹?«
Es war ein kompletter Sieg. Mrs. Piggins weinte fast vor Rührung, sogar Mr. Piggins schmunzelte, Professor Schneider hob die feinen alten Hände und rührte sie Beifall klatschend, wobei er, fast zirpend vor Wohlgefallen, »Bravo! Bravo!« rief. Jonny, der Braungebrannte, konnte sich nicht beherrschen, er warf Marion eine Kußhand zu – wodurch Benjamin Abel zu neuem Widerspruch gereizt wurde. Während Marion geredet hatte, war Verklärung auf seinem Antlitz gewesen. Er schien ihre Worte mit halb geöffneten Lippen zu trinken. Er lauschte ihrem Wort, als wäre es eine Liebeserklärung – und sie galt ihm, er empfing sie mit innigem Blick und benommenem Lächeln. Gleich aber wurde er wieder streitsüchtig. Mochte der braune Jonny schwärmerisch sein und sich durch kleine Koketterien beliebt machen! Er – Benjamin – zog es vor, geistvoll zu hadern.
Er insistierte: Die Tendenz zur Vereinfachung ist das Charakteristikum der Barbaren. Uns jedoch sei nicht gestattet, dem Komplizierten aus dem Weg zu gehen durch rhetorische Tricks. Im Gegenteil: gerade die kämpferische Situation verpflichtet uns zu einer Gewissenhaftigkeit – die Leidenschaft keineswegs ausschließt. »Wenn wir uns an Schlagworten berauschen, sind wir nicht besser als der nationalistische Pöbel!« rief drohend Professor Abel. »Die großen Werte bleiben nur lebendig, wenn wir sie immer wieder in Frage stellen, sie immer wieder prüfen, revidieren, mit neuem Leben füllen. Der Wert der Freiheit zum Beispiel – um den es vor allem geht . . .« – 342
Das Gespräch dauerte lang. Marion blieb bei ihrem militanten Standpunkt: Nicht Analyse unserer moralischen und intellektuellen Begriffe sei das Gebot der Stunde; vielmehr: aktive Verteidigung unserer Position –: »womit ich nicht nur die moralische, sondern auch die physische Position meine!« – Benjamin, geistvoll hadernd, bestätigte: Gewiß, um unsere Position gehe es, sie sei vielfach bedroht. Wir verteidigen sie am besten, wenn wir sie befestigen, sie neu unterbauen. Gegen die geistig inhaltslose Aggressivität der Barbarei haben wir als stärkste, edelste und wirkungsvollste Waffe unser konstruktives, substantielles Denken; unsere Leistung, unseren moralischen Ernst, die hohe kulturelle Ambition.
Mrs. Piggins wurde ein wenig schläfrig, während ihr Gatte wach und munter blieb. »The continental troubles« waren nicht seine Sache; aber er zog doch gewisse Schlüsse – ein nachdenklicher Realist. Professor Schneider und der junge Museums-Direktor suchten, sich ins Gespräch zu mischen: Jonny, stets temperamentvoll zu Marions Gunsten; der Gelehrte sanft und vermittelnd, manchmal auch humoristisch. Einige der Gäste hatten sich schon zurückgezogen; es wurde auch kein Whisky mehr angeboten. Schließlich brach Marion auf.
Professor Schneider, natürlich, war etwas enttäuscht, weil man ihm keine Gelegenheit gewährt hatte, Walzer auf dem Pianoforte zu spielen. Indessen war er selbstbeherrscht genug, galant und schalkhaft zu bleiben; er erbot sich, Marion in seinem Wagen zum Hotel zu bringen –: »wenn Sie sich nicht davor fürchten, mit mir altem Schwerenöter durch die Nacht zu fahren!« scherzte er, mit etwas müdem Fingerdrohen. Museumsdirektor Jonny – unternehmungslustig, trotz der vorgerückten Stunde – erklärte: nein, es würde ungerecht sein. Kollege Schneider habe Fräulein von Kammer schon einmal befördern dürfen; nun sei er – der Braungebrannte – an der Reihe. Benjamin schwieg verbissen; seine Blicke wurden leidvoll und drohend. Marion bedankte sich bei der total erschöpften Mrs. Piggins für den »most delightful evening«, und verschwand in Jonny Clark's kleiner Limousine.
Der gelehrte Ski-Läufer erzählte lustige Dinge; seine Dame blieb schweigsam, lachte kaum, und refüsierte sogar den Drink, den er in der Hotel-Bar für sie bestellen wollte. Jonny fühlte sich etwas enttäuscht; doch küßte er ihr zum Abschied ausführlich die Hand – einerseits, weil er es für »continental« hielt; andererseits, weil es ihm sehr angenehm war, seine Lippen mit ihrem Fleisch in Berührung zu bringen. – »Darf ich Ihnen morgen das Museum zeigen?« fragte er, das Gesicht über Marions lange, unruhige Finger geneigt. Sie sagte: »Ja . . . natürlich . . . es wird mich interessieren . . .« Sie hatte vergessen, daß es ihre Absicht gewesen war, den nächsten Zug nach New York zu nehmen. Was sollte sie in New York? Tullio war auf und davon, hatte Abschied genommen mit hochtrabenden und konfusen Worten.
»Thank you«, sagte Jonny Clark. »Sleep well. See you tomorrow.« . . .
Marion konnte lang nicht schlafen. Sie dachte an den tückischen 343 jungen Deutschen. ›Er wollte mich aufs Glatteis locken und blamieren. Es ist ihm nicht geglückt. Ein Kavalier war zur Stelle – der hat sich ritterlich meiner angenommen. Später polemisierte er gegen mich, geistvoll hadernd. Welch seltsamer Kavalier! Stämmig und zart von Erscheinung; mit dem behäbigen Gesicht eines Familienvaters, einem frauenhaft kleinen Mund, und mit erstaunlichen Augen . . . Ein höchst kurioser Mann, dieser Benjamin Abel . . .‹
Sie dachte auch an Jonny, den Braungebrannten; aber nur flüchtig. What a charming boy – very attractive, indeed! Aber es war nicht mehr die Stunde für solche Spiele. ›Ich lasse mich nicht mehr ein‹, beschloß Marion – und dann war es Tullio, der göttliche Fensterputzer, der ihre Gedanken noch einmal beherrschte. Ach, diese Jünglinge, diese Knaben –: wie leicht, wie vergänglich sind ihre schnellen Triumphe! Sie treten ins Zimmer, ausgerüstet mit ihrem Charme, mit einem Kübel und diversen Lappen, sie lächeln, sie renommieren, sie siegen, und die erste Umarmung ist fast schon der Abschied: Leb wohl, und vergiß mich nicht! – Wie sollte sie ihn vergessen? Das mehrfach verwundete Herz verhärtet sich nicht; es wird doppelt empfindlich. Übrigens könnte Marion noch sehr realen Anlaß haben, sich an Tullio zu erinnern – mit Schmerz und Glück, Zärtlichkeit und Gram. ›Ich werde seiner gedenken – die Stunde kommt.‹ Sie ahnte es, sie wußte es schon fast. Indessen verdrängte sie noch die Ahnung und gestattete dem Wissen nicht, bewußt zu werden. –
Am nächsten Morgen, ziemlich früh, erschien Abel. Er brachte Blumen; er entschuldigte sich. »Ich war dumm, gestern abend. Alles, was ich vorgebracht habe, war schierer Unsinn.« – Marion widersprach – es war nun schon ihre Gewohnheit, ihm nicht recht zu geben –: »Doch nicht schierer Unsinn! Zwischen übertriebenen, schiefen Behauptungen, ist auch Kluges, Richtiges vorgekommen. Einiges habe ich mir genau überlegt und will es beherzigen.« Er lächelte dankbar.
Während er bei ihr saß, klingelte das Telephon: Jonny Clark erkundigte sich, wann er mit dem Wagen kommen dürfe. Abel erklärte schnell: »Der Wagen ist überflüssig. Ich begleite Sie ins Museum.« Marion, ohne ihn anzuschauen, sprach in den Apparat: »Der Wagen ist überflüssig. Professor Abel wird die Freundlichkeit haben, mich zu begleiten«. –
Benjamin Abel warb um Marion von Kammer. Noch hatte er ihr nicht gesagt, daß er sie liebte. Sie wußte es schon, obwohl er, innig und pedantisch, nur von hohen, schwierigen Dingen sprach. Er liebte sie, sein Herz war ergriffen, noch niemals war es solcherart ergriffen gewesen; er gestand sich, mit einem Schauder von Wonne und von Entsetzen: ›Ich liebe zum erstenmal. Sonderbar: man ist beinah fünfzig, man wird kahl und fett – da packt es einen wie nie zuvor. Alles, was bis jetzt gewesen ist, war nur Vorbereitung und lange Übung; die brave Annette, das süße Stinchen, und die wenigen anderen – ich habe sie ganz vergessen. Ich liebe Marion. Ich will sie heiraten. Sie gehört zu mir. Unsere Leben werden sich verbinden. Verbunden und vereinigt werden sie sinnvoll sein – 344 mein verworrenes Leben und ihres. Das Glück wird kommen, nach so langem Warten.‹ – Welch kühne, einfache Worte – noch nicht ausgesprochen, aber insistent und innig gedacht! Welche Naivität! Wieviel kindliche Verwegenheit! Das Glück – ein Alternder spürt es plötzlich in seiner Nähe. Er greift danach – aber nicht mehr mit der zuckenden Gebärde der Jugend; vielmehr mit zähem Griff, geduldig bei allem Überschwang. Die gediegene Passion des Alternden wird Marion überzeugen, überwältigen, gewinnen. Ist sie schon fast gewonnen? – Marion reiste nicht ab.
Die amerikanischen Freunde zeigten sich erfreut und leicht verwundert: Fräulein von Kammer blieb in der kleinen Universitäts-Stadt. Sie erklärte: »Es ist ruhig und hübsch hier. Ich habe jetzt Ferien, erst Mitte Januar fängt meine Tournee wieder an . . . Nach New York zieht mich beinah nichts.«
Mrs. Piggins führte die interessante junge Deutsche in den Damen-Club ein; Professor Schneider zeigte ihr seine Kollektion süddeutscher Trinkgefäße und ließ sich gern dazu überreden, auf dem Klavier die lieben alten Walzer vorzutragen. Jonny Clark hoffte zunächst: Sie bleibt meinetwegen . . . Indessen war er nicht schwer von Begriff – ein heller Kopf, und übrigens ein anständiger Kerl. Er verzichtete auf jeden Flirt mit Marion, als er verstanden hatte, was Kollege Abel empfand und sich erhoffte. Keine Handküsse und flotten Komplimente mehr von seiten des Braungebrannten. Er redete nur noch von Politik, erwog die Chancen des Spanischen Bürgerkriegs, der sozialen Entwicklung in Frankreich und des italienischen Imperialismus. Er war ein gescheiter und gebildeter Junge; jetzt erst stellte es sich so richtig heraus.
»Es sind Typen von seiner Art, die mich hoffnungsvoll für Amerika machen«, erklärte Benjamin. Er war sehr erleichtert, weil der hübsche Jonny nicht mehr mit Marion kokettierte. »Ein prachtvoller Kerl!« stellte er fest – und konnte es sogar ertragen, daß Marion ihm ausnahmsweise recht gab. »Junge Leute von seiner Sorte kommen in Europa selten vor. In diesem Lande trifft man sie ziemlich oft. Sie haben einen gut entwickelten, gut trainierten Verstand, und sind dabei einfach geblieben, frisch, herzlich, naiv. Sie gefallen mir sehr. Sie sind weder verkrampft, noch dogmatisch, noch größenwahnsinnig, noch manisch depressiv, wie die meisten unserer europäischen Intellektuellen. In Europa gibt es eine Jugend, die am Geist leidet wie an einer Krankheit – und eine andere, die alles Geistige verachtet und bekämpft. Die jungen Leute bei uns fallen auf den ideologischen Schwindel des Faschismus herein, weil sie entweder gar nicht denken, oder weil ihre Gedanken starr und überspitzt geworden sind. Die hysterischen Intellektuellen und die Blöden sind das Menschenmaterial, aus dem der Faschismus seine aggressive Armee rekrutiert. In den Vereinigten Staaten habe ich junge Intellektuelle gefunden, die nicht hysterisch sind, und weder physisch noch moralisch verkrüppelt. Es ist doch erfreulich, einen Jungen wie diesen Jonny Clark anzusehen!« 345 Benjamin fühlte sich schon so sicher, daß er sogar diese Bemerkung riskierte. »Ein hübscher, sportlicher Kerl – appetitlich vom Scheitel bis zu den Zehen – und dabei Hirn im Kopf! So was Angenehmes, Nettes! Dieser Typus hat Zukunft – und eine Zukunft, die von diesem Typus repräsentiert wird, möchte ich wohl noch erleben!«
Marion mußte ein bißchen lachen. »Sie sind ja ganz verliebt in den Burschen . . .« Er versetzte ernst: »Weil Sie nicht mehr in ihn verliebt sind, Marion!«
Hierauf ging sie nicht ein. Er ward gleich verlegen – er errötete, wie sie mit Rührung bemerkte – und erging sich wieder in eifrigen Betrachtungen, eine Menschheits-Zukunft betreffend, die vom Typus des braungebrannten und gescheiten Jonny beherrscht sein sollte. Der philosophische Liebhaber unterhielt seine Dame, die lächelnd lauschte. »Was ist unser letzter, definitiver Einwand gegen den Faschismus in all seinen finsteren Variationen? Daß er die Entwürdigung des Menschen bedeutet! Eine Horde dekadenter Barbaren sollte uns, mittels einiger infamer Tricks, stehlen dürfen, was wir uns erworben haben, in einer Geschichte von Jahrtausenden? – Hoho!« rief der Professor – seinerseits grimmig munter und aggressiv. »So geschwind geht das nicht! Unsere Kraft-Reserven sind bei weitem noch nicht verbraucht. Die besseren Menschen scheinen eine Weile gelähmt; um so heftiger wird plötzlich ihr Widerstand. Der Humanismus wird aggressiv auf der ganzen Linie werden – wartet es nur ab!« Benjamin prophezeite es mit zornigem Behagen. Der Sozialismus ist nur ein Teil seines Programms – welches umfassend sein muß. Ziel und schöne Perspektive ist die totale Wiederherstellung, die totale Erneuerung, die Steigerung und Erhöhung der Menschenwürde – vom ökonomischen bis zum Religiösen. Mit neuem Stolz wird der Mensch sich der Schönheit seines Leibes, der Gaben seines Geistes bewußt. Er organisiert die Erde, deren Herr er ist – dank seiner schönen, stolzen Eigenschaften. Endlich siegt die Vernunft. Überwunden sind Haß und Angst, samt dem nationalen Vorurteil – Pest und Betrug unserer Epoche. Auch der Dünkel der weißen Rasse ist dahin: in der Welt-Republik hat gleiche Würde und gleiches Recht, wer das schöne, stolze Menschenantlitz trägt. Das Leben wird leichter und bequemer; die Technik nimmt uns die niedrige Arbeit ab. Die Epoche der wirklichen, der fundamentalen Probleme bricht an. Der Mensch – entlastet von den ökonomischen und politischen Sorgen – findet Zeit und Kraft für das Wesentliche, Große; es sind endlich seine Angelegenheiten, denen er sich zuwendet. – Ich sehe ein Jahrtausend der enormen inneren Abenteuer!« Der Professor dämpfte die bewegte Stimme. Die utopische Vision, die er im Herzen trug und mit Worten andeutete – weil er wünschte, seine Dame zu unterhalten und sich zu gewinnen – hatte die Kraft, ihn beinah bis zu Tränen zu erschüttern. Sein zärtlich-dringlicher Blick war feucht. Er sagte leise: »Alles dieses ist vorstellbar – und also wird es geschehen. Der Mensch ist zäh; er verwirklicht, was er sich vorstellen kann. Geschichte ist erfüllte Utopie. 346 Die technischen Vorbedingungen zu einem Zeitalter, das fast das Goldene wäre, sind durchaus gegeben. Es fehlen noch die moralischen. Die werden sich entwickeln –: ich bin voll Vertrauen. Inmitten des sittlichen Absturzes, dessen Zeugen wir sein müssen, bereitet der sittliche Aufschwung sich vor. Die Menschheit ist jung, sie tritt gerade erst ins Mannesalter ein. Ihre Pubertäts-Krankheiten sind besorgniserregend, wir konstatieren garstige Symptome. Das soll uns nicht mutlos machen.«
Er war voll Vertrauen, weil sein Herz voll Liebe war. Er liebte diese Frau – ihre mageren Glieder, die schrägen Augen, die lockere Mähne des Haares –; er wollte mit ihr leben, seine inständige Absicht war: glücklich zu sein –: daher die Begeisterung und der gewagte Flug seiner Gedanken. Eine Konversation, die mit anerkennenden Bemerkungen über das appetitliche Äußere und die intellektuelle Zuverlässigkeit eines jungen Kollegen begonnen hatte, hob sich und vertiefte sich, ward sehr ernst und sehr spielerisch, bekam verzückte Akzente.
Der alternde Freier begriff: Anmut und Charme der Jugend habe ich längst nicht mehr – bin übrigens auch als Zwanzigjähriger kein Adonis gewesen. So muß ich mit anderen Mitteln werben und imponieren. Sie freut sich an meinen Einfällen, und meine Erwägungen lassen sie nachdenklich werden. Sie lächelt mir schon zu, sie drückt meine Hand, wenn ich komme oder Abschied nehme. Sie wird mich lieben, sie ist klug und gut. Ich gewinne ihr Herz. Sie liebt mich schon. Ach – hätte ich schon gewonnen?
Sorgenvoll stimmte ihn, daß sie gerade am Weihnachtsabend allein sein wollte. Warum weigerte sie sich, mit ihm, Benjamin, in aller Stille eine Flasche Champagner zu trinken? – Sie schloß sich in ihr Hotelzimmer ein, und eben dort war es doch am wenigsten gemütlich. Die enge Stube war entweder überheizt oder eisig kalt. Telephonbuch und kleine Bibel, die den Nachttisch zierten, ließen sie kaum wohnlicher werden.
Ein fremdes Bett, ein fremder Stuhl, eine fremde Wand . . . Marion dachte: Viel anders kann das Zimmer nicht gewesen sein, in dem Tilly ihren Todestee schlürfte. Auch ihr deklassierter Schupo-Mann war auf und davon – und sie spürte des Kind im Leibe. – Arme kleine Schwester, dir hat keiner helfen können. Gibt es Hilfe für mich? . . . Ach, ich hätte große, große Lust, mir eine Portion Tee zu bestellen. Veronal-Tabletten wären auch zur Hand; das Todes-Süppchen ist schnell bereitet. Es darf aber nicht sein. Ich muß das Kind bekommen.
Denn nun wußte sie, warum ihr schwindlig geworden war auf dem Podium und woher die jähen Übelkeiten kamen. In Tullios Armen hatte sie es empfangen, als er den zornigen Schlachtgesang der Liebe hören ließ. Sein Samen – der Samen des Vagabunden – war fruchtbar geworden in ihrem Leib. Sie hatte in seinem Antlitz nur die Augen gesehen, kindlich und tragisch geöffnet unter den kühnen Bogen der Brauen. ›Ich bin deine Witwe, Marcel! In meinem Herzen bleiben, Wundmalen gleich, die Spuren deiner ungeheuren Blicke. Als ich lag und empfing, haben deine Augen 347 mich angeschaut – oh, wie sternenhaft! oh, wie lieblich, wie streng! Du wolltest nicht, daß ich den Tod empfange. Ich soll den Sohn tragen, es ist deiner. Ich muß das Kind bekommen. Was tue ich nur? Ich kann gar kein Kind gebrauchen, ich bin eine Emigrantin, eine Vagabundin, eine Kämpferin; ich bin keine Mutter. Übrigens ist es einfach peinlich, ein Kind ohne Vater zu haben; es schickt sich nicht, man wird es mir übelnehmen. Tullio als Vater – eine groteske Vorstellung! Der göttliche Fensterputzer als Papa! Ich muß lachen. Ich muß bitterlich weinen. Ich will das Kind nicht bekommen. Ich muß es bekommen. Warum muß ich denn? Die Abtreibung wäre noch kein Risiko, ich fände einen gefälligen Arzt. Wer hindert mich daran, das einzig Vernünftige zu tun, den Eingriff vornehmen zu lassen? Wer wagt es, mich dran zu hindern? – Wir sollen Kinder bekommen, ich weiß es. Damit es nur weitergehe . . . Es soll weiter gehen.‹
Sie nahm Veronal – eine bescheidene Dosis. ›Ein wenig Schlaf darf ich mir wohl gönnen‹, meinte sie. ›Morgen früh fasse ich dann definitive Beschlüsse. Noch länger hier zu bleiben, hätte wenig Sinn. Ich darf mir nicht von Benjamin, innig und pedantisch, den Hof machen lassen, da ich doch von einem Fensterputzer geschwängert bin. Morgen oder übermorgen fahre ich nach New York. Ich absolviere den Rest der Tournee, wie mein Vertrag es verlangt, und kehre im Frühling nach Europa zurück. Mama wird sich über ein Enkelkind freuen – sogar, wenn der Vater ein verschollener Italiener ist.‹
Da fielen die Augen ihr zu; das Medikament tat seine gute Wirkung. Ehe sie einschlief, dachte sie noch an ein Haus, in dem sie als Kind jahrelang einen Tag der Woche – den Sonntag – verbracht hatte. Warum fiel es ihr ein, gerade jetzt, und mit solcher Deutlichkeit? Sie sah einen Garten, Blumenbeete und Brunnen – alles ein wenig verwunschen. Eine Terrasse war da, mit Malereien geschmückt, die verblaßten und zerbröckelten. Schöne Räume mit dicken Teppichen; eine Freitreppe, die auf halber Höhe einen kleinen Balkon oder Erker bildete: dort stand ein ausgestopfter Pfau –: ›ich habe niemals Angst vor ihm gehabt‹, erinnerte sich Marion, schon fast im Schlaf. ›Ich habe seinen seidig weichen Bauch gestreichelt, und immer lachen müssen, wenn Tilly behauptete, er könne beißen. Wie lang ist dies alles her! Warum erscheint es mir plötzlich? – Es muß noch ein Raum in jenem schönen Haus unserer Kindheit gewesen sein – an den kann ich mich nicht mehr erinnern. Er lag tiefer als die Diele und die Salons – in einem Kellergeschoß. Eine gewundene, geheimnisvolle Treppe führte hinunter. Aber ich weiß nicht mehr, wie es aussah und wie es roch, in dieser entlegenen Kammer. Ich finde den Weg nicht mehr die verborgene Treppe hinunter – und doch muß ich sie oft gegangen sein, Hand in Hand mit Tilly – damals, in der versunkenen Zeit. – Versunkener Raum – ich finde den Zugang nicht . . .‹
Abel inzwischen, feierte im Kreis der Kollegen. Nur die Unverheirateten hatten sich eingefunden; aus dem Radio schallten Weihnachtslieder; mehrere Herren sangen fröhlich mit, andere wurden melancholisch. Benjamin 348 gehörte weder zu den Munteren, noch auch zu den Betrübten. Er dachte angestrengt nach – was ihn freilich am Sprechen hinderte und seinen Blick recht finster werden ließ. Die Kollegen vermuteten: Es ist die Heimat, nach der er sich sehnt. Alle Deutschen werden sentimental, wenn Weihnachten ist . . . Sie sagten: »Prost, alter Junge!«, und hoben die Whisky-Gläser. Er aber dachte an Marion.
Er beschloß: Morgen gestehe ich ihr, was ich fühle und will. Der erste Weihnachts-Feiertag ist ein schönes Datum für die große Erklärung.
Marion sah müde aus, als sie Abels matinale Visite empfing. Sie erklärte: Ich habe nicht gut geschlafen. Indessen war sie reizender denn je. Begehrenswerter denn je – so fand Benjamin – schien ihr blasses, mattes Gesicht unter der lockeren Fülle des Haars. Sie trug ein schwarzes Pyjama, eng anliegend, dem Kostüm eines Pierrots ähnlich. Übrigens duftete sie stärker als gewöhnlich; Benjamin zuckte zusammen, als sie erwähnte: »Der gute Jonny hat mir ein sehr feines Pariser Parfüm geschenkt, es muß hier teuer sein, meine Lieblingsmarke.« Hatte sie auch einen neuen Lippenstift? Der große Mund leuchtete fast erschreckend in der Blaßheit ihrer erschöpften Miene. Sie bewegte sich lässig durchs Zimmer –: ein nicht mehr ganz junger Page, parfümiert und mager, mit einem überanstrengten Zug zwischen den Augenbrauen. Sie fragte mit sanfter, tönender Stimme: »Was führt Sie so früh zu mir, lieber Freund?« Es klang konventionell, dabei lockend. Auf dem dunklen Seidenstoff ihres Hausanzuges bewegten sich unruhig die weißen Finger ihrer rastlosen Hand.
Wie verführerisch war Marion an diesem festlichen Morgen! Benjamin war drauf und dran, es ihr zu versichern; konnte indessen nur stammeln. Was er vorbrachte, war verworrenes Zeug – der Inhalt ließ sich mehr erraten als verstehen. Daß er sie liebe – darauf lief es hinaus. Dies hatte sie schon gewußt; ihr mattes, strenges Gesicht blieb undurchdringlich. Sie schwieg; er verlor vollends die Fassung.
Auf seiner Miene ereigneten sich Dinge höchst erstaunlicher Art. Der kleine Mund zwischen den schweren Wangen verzerrte sich, daß es schien, er lachte –: ein gequältes Grinsen – nun sah es wieder mehr nach Weinen aus. Auch die Stirne war sehr in Mitleidenschaft gezogen; sie warf Falten wie ein Wasser, über das ein Windstoß fährt. Die Falten hatten krause, barocke Formen, sie vergingen geschwind, waren gleich wieder da, vertieften sich, lösten sich nochmals. Am schlimmsten aber stand es um die Augen; dort herrschte Raserei. Sie waren blutunterlaufen und zeigten die bedenkliche Neigung, hin und her zu rollen, als suchten sie in allen Ecken des Zimmers gierig nach einem verlorenen Gegenstand. Plötzlich wurden sie starr – was auch recht unheimlich wirkte. Hatten sie das verlorene Kleinod gefunden? Hielt Marion es zwischen ihren Fingern fest? Auf ihre bleichen, unruhigen Hände fixierte sich Benjamins flehender, verzückter Blick.
Welch rührendes, groteskes Schauspiel bot der bejahrte Freier! Mit eindrucksvoller Eloquenz hatte er, gestern noch, die Menschenwürde 349 gepriesen; nun entwürdigte er sich, ward fast komisch – zu Füßen des Menschen, an dem ihm alles gelegen war. – Ja, er hatte sich vor Marion auf die Knie geworfen. Er tat dies Äußerste, er wagte die schamlose Geste, er fürchtete nicht, ridikül zu scheinen. Er ließ sich hinplumpsen, schwer und dick wie er war –: es machte ziemlichen Lärm. Die Pose des Jünglings, der die Entflammtheit seines jungen Herzens beichtet –: ach, höchst seltsam nahm sie sich aus, da der Alternde nun, pedantisch-ausführlich, in ihr verharrte. Er hielt dem Mädchen sein großes, zerfurchtes Gesicht hin, sein entwürdigtes Antlitz – wie respektabel war es einst gewesen! Jetzt schien es entstellt und verwüstet, zerstört von Leidenschaft, und die Blicke vor Angst und Hoffnung erblindet. – ›Lies in meinen Zügen!‹ forderte das entstellte Antlitz des Mannes. ›Erfahre, was ich gelitten habe! Nimm den schonungslosen Bericht, die genaue Chronik meines langen, kummervollen Daseins entgegen – in den Falten auf meiner Stirn kannst du alles lesen!‹
Sie prüfte die weite, inhaltsvolle Fläche dieses Menschengesichtes. Sie hörte seine geflüsterte, mühsam hervorgestoßene Rede: »Du mußt bei mir bleiben . . . Ich will dich . . . Wir werden glücklich – zusammen . . . Marion, du bleibst bei mir . . .« Sie rührte sich nicht. Sie forderte ihn nicht auf, sich zu erheben.
Endlich legte sie die Hände auf seine Schultern. Endlich sprach sie.
»Es geht nicht. Es kann nicht sein.«
Er ließ die Augen ein wenig rollen. Sie fürchtete, er werde gräßlich schreien. Jedoch hauchte er nur: »Warum nicht?«
Sie wiederholte: »Es geht nicht.«
»Du wirst dich an mich gewöhnen«, hauchte er eigensinnig. »Wahrscheinlich wirst du mich lieben.«
Sie erhob sich; tat ein paar Schritte. Sie winkte ihm flüchtig, etwas ungeduldig zu, er möge sich doch endlich wieder auf seine Füße stellen. Als er sich aufrichtete, ächzte er ein wenig; seine Hosen waren an den Knien bestaubt. Sie bemerkte es mit schrägem Seitenblick. Sie hustete nervös; zündete sich eine Zigarette an. Während sie schweigend rauchte, stand er mit geducktem Schädel und wartete. Schließlich fragte er nochmals: »Warum nicht?«
Sie lief durchs Zimmer, wandte ihm den Rücken. Über die Schulter, die sie enerviert bewegte, rief sie ihm mit trockener Stimme zu:
»Ich erwarte ein Kind.«
Er veränderte weder die Haltung noch den Ausdruck der Miene. Er fragte, beinah tonlos:
»Von wem?«
Da verlor sie die Fassung. Wütend zerdrückte sie die Zigarette im Aschenbecher – den sie vom Tische stieß – dabei stampfte sie kurz mit dem Fuß auf, ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Was geht es Sie an?!« – Sie schien völlig verzweifelt.
Er blieb insistent. »Ich muß es wissen.«
Zu seiner Überraschung lachte sie, kurz und böse. Dann wurde sie wieder 350 gelassen. Sie legte den Kopf in den Nacken; unter halb gesenkten Blicken hatten ihre Augen ein Leuchten, in dem Spott und Mitleid sich mischten – auch etwas Zärtlichkeit enthielt es, wie Benjamin mit bebender Hoffnung zu konstatieren meinte.
Sie erklärte ruhig: »Mein Kind ist von einem jungen italienischen Fensterputzer. Ich habe ihn in New York kennengelernt. Er hat mich verlassen.«
»Er hat Sie verlassen?« Die Spannung wich von Benjamins Zügen. Sie glätteten sich, wurden sanft. Ein Lächeln ohnegleichen – ein Schimmer der Erleichterung, des Triumphes, des Erbarmens, der unendlichen Zärtlichkeit – verschönte das unjunge Antlitz des Liebenden. »Warum hat er Sie denn verlassen?« forschte er mit inständiger Pedanterie.
Marion ihrerseits glich nun einem Schulmädchen, das in peinlicher Sache verhört wird und sich schämen muß. »Er hatte mich wohl satt.« Eine flüchtige Röte lief über ihr blasses Gesicht. – »Er ist nach Europa gefahren«, sagte sie noch. »Er will kämpfen.«
Der Liebhaber examinierte sie weiter. »So waren Sie ganz allein?«
Sie bestätigte: »Ich war ganz allein.«
»Ein Kind ohne Vater . . .« Er schüttelte nachsichtig und verwundert das Haupt. »Das ist doch eine große Unannehmlichkeit . . .«
»Was Sie nicht sagen . . . !« Sie lachte erbittert; griff nach einer neuen Zigarette.
Seine Stimme ward feierlich. »Nun hat es ja einen Vater. – Ihr Kind wird meinen Namen tragen, Marion!«
Dabei war er auf sie zugetreten. Er legte die Arme um ihren Hals. Er war etwas kleiner als sie. Sie neigte ihr ermüdetes, blasses, schönes Gesicht, damit er es küsse. Sie hielt stille in seiner Umarmung. Er suchte nicht ihren Mund. Seine Lippen berührten sehr vorsichtig ihre gesenkte Stirn.
Sie fragte, bewegungslos: »Wird das fremde Kind Sie nicht stören?« Darauf er – milde tadelnd, als müßte er sie an das Bekannteste und Wichtigste erinnern –: »Ich liebe dich.« Sie lächelte, dankbar und erschöpft. – »Wirst du dich daran gewöhnen können, daß ich dich so sehr liebe?« erkundigte sich Professor Abel besorgt. »Werde ich dir nicht lästig sein? Wirst du mich gerne haben? Und auf welche Art?«
Sie hatte eine sanfte Gebärde der Abwehr. »Es ist doch noch nichts entschieden . . .« Gleich mußte sie erleben, daß er wieder heftig ward. – »Es ist alles entschieden!« Mit gravitätischer Schalkhaftigkeit fügte er hinzu: »Das Kind braucht doch einen Vater!«
In ihrem Kopf waren müde, wirre Gedanken. Sie überlegte: ›Wie schlau sie sind – diese Liebenden! Sie nutzen alles zu ihrem Vorteil . . . Ich habe nicht gewußt, daß ihm so viel an mir liegt. Es muß ihm ungeheuer viel an mir liegen, da er keinen Anstoß nimmt an meiner Schwangerschaft. – Tue ich etwas Schlechtes, wenn ich ihm erlaubte, der Vater meines Kindes zu sein? Wen könnte ich fragen? Ich habe nur die Antwort, die aus mir selber kommt . . .‹ 351
Die Augen des Liebenden wanderten unersättlich über die Landschaft des geliebten Gesichtes. Sie verweilten auf dem Mund, der mit großer, schön geschwungener Kurve sich festlich darbot. – Der Liebende sah: ›Ihre Lippen öffnen sich. Sie erwartet den Kuß. Man lebt lange, geht durch manche Qual, – und ein atmender Mund, der sich lächelnd öffnet, bringt unvermutet die stumme Botschaft, die Verheißung und die Erfüllung. Mir ist Glück beschieden – wer hätte es je gedacht . . . !‹ –
Die nächsten Tage waren voll Gespräch; es galt, die Vergangenheit zu besprechen und die Zukunft. Was die Zukunft betraf, so schien alles einfach. Abel hatte beschlossen: »Wir heiraten in etwa vierzehn Tagen.« Marion fand nichts einzuwenden. Sie schaute ihn sinnend an; lächelte; schwieg; fragte schließlich »Machen wir keinen Fehler?« Darauf Benjamin, sehr zuversichtlich: »Wir tun das Richtige.« Da nickte sie ernsthaft: »Ja. Es ist wohl das Richtige, was wir tun.«
Sie würde ihren Kontrakt erfüllen, die Tournee zu Ende führen; neue Angebote aber wollte sie ablehnen. Ende Februar verließ Benjamin die Universität im Mittelwesten; er hatte schon ein anderes Angebot aus einem der südlichen Staaten. »Dorthin reisen wir zusammen, als Herr und Frau Professor.« Er freute sich sehr darauf. »Und dort kommt dein Kind zur Welt. Unser Kind . . .«, schloß er innig.
Die Vergangenheit war komplizierter als die Zukunft. Beide hatten viel zu erzählen. Marion erfuhr Benjamins ganzes Leben, nichts ward ausgelassen, weder die brave Annette noch das süße Stinchen. Das »Huize Mozart« kam vor, und der schaurige Brummer, Herr Wollfritz, das Flüchtlings-Comité in Skandinavien, die ersten schweren Wochen in New York: alles wurde beschworen. »Anfangs habe ich mich vor Amerika gefürchtet«, gestand er. »Und jetzt bin ich so gerne hier . . .«
Wie schwierig war es für Marion, von Marcel zu berichten! Auch Martin und Kikjou waren Figuren, die sich in gedrängter Form kaum beschreiben ließen. Sie verweilte lange bei Tilly, ihrer armen Schwester: Benjamin erschrak und erbleichte, als er von ihrem Abenteuer hörte und wie arg es geendigt hatte. »Arme Tilly! Arme Marion!« Er nahm sanft ihre Hand. Und: »Arme Marion!« sagte er noch einmal, als sie Tullio schilderte, und die kurze heftige Wonne, die sie mit ihm genossen hatte. War er eifersüchtig? Er sagte:
»Du hast dich noch niemals lieben lassen, wie eine Frau sich lieben lassen soll –: jetzt geschieht es dir zum erstenmal oder du duldest es zum ersten Male. Du hast zu viel experimentiert, das war sehr gefährlich. Du bist doch kein Junge – wenngleich du magere Glieder wie ein Junge hast. Du bist eine Frau – die amazonenhafte Allüre kann keinen täuschen, der dich wirklich kennt.« – »Amazonenhafte Allüre?« Sie schien ein bißchen gekränkt. Er belehrte sie zärtlich: »Du hast ein Element, einen Teil deines Wesens überbetont –: ein echtes Element, einen wichtigen Teil; aber etwas anderes ist zu kurz gekommen. Du warst zu aktiv. Du hast deine jungen Freunde geliebt – beinah wie ein Mann die Frau lieben soll. 352 Dadurch hast du dir viel Schmerz angetan und bist reif geworden, weil du gelitten hast. Jetzt beginnt etwas Neues für dich, auf der Höhe deines reichen Lebens. Du wirst ein Kind haben, und du erlaubst einem Mann, dich zu lieben.«
Marion hörte sich dies an und fand es teilweise richtig. Gerade deshalb wurde sie ärgerlich. Sie zerknackte Streichhölzer zwischen den Fingern. »Die Zeit der Jugend-Tollheiten wäre also vorbei.« Ihr Lächeln war ziemlich sauer. »Darauf läuft deine kleine Predigt doch wohl hinaus.« – Er blieb ernst, obwohl sie kicherte. – »Etwas Neues fängt an!« erklärte er, mit bewegtem Nachdruck.
Er rührte sie durch seine feierliche Unbeholfenheit. Sie fand ihn auch etwas komisch. Sie fühlte sich sehr wohl in seiner Nähe, er hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Ihr Lachen bekam sanftere Laute. Ihr lachendes Gesicht barg sie an seiner Schulter. Er hörte sie sagen: »Alter Benjamin! Ich mag dich . . . Ich mag dich . . . Wenn du nur nicht immer wie ein Lehrer sprechen wolltest! Natürlich fängt etwas Neues an. Das Leben hat es so an sich, immer neue Situationen zu produzieren. Das ist ja das Interessante! – Das ist ja das Schöne . . .«, gestand sie an seiner Schulter. –
Am Silvesterabend gab Professor Abel eine »party« in seiner gemütlichen kleinen Wohnung. Marion erschien vor den übrigen Gästen – Benjamin hatte es ausdrücklich verlangt. »Du bist die Hausfrau und mußt meiner Lucy helfen, das Buffet zu richten.« Lucy war eine fröhliche, dicke Negerin, dem Professor sehr herzlich ergeben, und übrigens, als einzige Person in der Stadt, von seinem neuen Glück unterrichtet. Sie strahlte über das ganze Gesicht. »My Professor sure got himself a fine girl!« stellte sie mit Befriedigung fest.
Was das Buffet betraf, so war es schon in perfekter Ordnung. Marion fand: »Für mich bleibt nichts mehr zu tun.« Benjamin aber erklärte, animiert und geheimnisvoll: »Es ist sehr gut, daß du so früh gekommen bist!« Er hatte eine Überraschung vorbereitet – wie sich bald erwies. »Bei uns ist es jetzt sieben Uhr«, bemerkte er schmunzelnd. »In Zürich haben sie ein Uhr morgens.« Marion wußte nichts damit anzufangen. »Natürlich«, sagte sie. »In Zürich ist der Silvesterabend schon vorbei.« – Benjamin, munter und rätselhaft: »Hoffentlich noch nicht ganz!« Dann rückte er mit der Überraschung heraus: »Ich habe eine Telephon-Verbindung nach Zürich angemeldet!« – »Eine Telephon-Verbindung?« Marion konnte es gar nicht fassen. »Ich soll mit Mama sprechen? – Aber das muß furchtbar teuer sein!« Sie war recht erschrocken. Benjamin rieb sich die Hände. »Es ist mein Weihnachtsgeschenk, mein Neujahrsgeschenk und mein Verlobungsgeschenk!« Sie hatte ihn noch nie so aufgeräumt gesehen. Er behauptete übermütig: »Ich kann es mir leisten! Ein wohlbestallter Professor darf wohl mal mit seiner Schwiegermutter telephonieren!«
Da läutete schon das Telephon. Lucy watschelte hin; Benjamin – ihr nach und riß ihr den Apparat aus der Hand. »Ist das Pension ›Rast und 353 Ruh‹ in Zürich?« fragte er gierig. Es war Pension »Rast und Ruh.« – »Marion – deine Mutter!« rief Benjamin.
Frau von Kammer, auf der anderen Seite des Ozeans, plapperte aufgeregt: »Wer spricht denn? Was ist denn los?« Und Marion – die sehr blaß geworden war –: »Ich bin es, Mama! Es ist Marion. Marion spricht . . .« Da wurde Marie-Luisens Stimme ganz klein und zittrig. »Marion . . . Kind . . . Es ist doch nicht möglich! Wo steckst du denn? Bist du denn nicht in New York?« – Die Tochter erklärte: Nein, ich bin auf meiner Tournee im Mittelwesten von Amerika, in einer kleinen Stadt, du hast wohl nie ihren Namen gehört, es ist eine besonders nette kleine Stadt . . . »Ich habe mich verlobt!« rief Marion über zwei Kontinente und das Atlantische Meer – über viele Städte, Ebenen, Flüsse und Gebirge hin, über ein fast unendliches Wasser hin berichtete die Tochter der Mutter:
»Ich habe mich am Weihnachtstag verlobt, Mama! Kannst du mich hören?« – »Natürlich kann ich dich hören!« rief Frau von Kammer. »Deine Stimme klingt, als ob sie hier im Zimmer spräche, es ist wunderbar! – Mit wem hast du dich denn verlobt, liebes Herz?« – »Es ist ein Deutscher«, teilte die Tochter mit. »Ein Professor, er heißt Abel, er ist uralt und hat einen weißen Vollbart . . .« Sie mußte lachen; Benjamin machte wütende Zeichen. »Er wird dir nachher guten Abend sagen, er ist taub und wird kein Wort verstehen, wenn du zu ihm sprichst, er ist sehr komisch – es ist sehr komisch von mir, daß ich ihn gerne mag . . .« Der Bräutigam rang die Hände. Marion fragte: »Wie geht es denn bei euch, Mama? Hast du die Pension eröffnet? Habt ihr einen netten Silvesterabend gehabt? Sind die Gäste schon weg? Schläfst du schon? Habe ich dich gestört?«
Marie-Luise wollte alles auf einmal erzählen; überstürzte sich, brachte fast gar nichts heraus. Immerhin ließ sich verstehen: Der Betrieb von Pension »Rast und Ruh« hatte vielversprechend gestartet. »Wir haben acht Gäste, lauter reizende Menschen, und zum Abendessen waren Ottingers da, und Peter Hürlimann, Ottingers haben Champagner gestiftet, es war ein sehr hübscher Abend, wir haben die neue Pension hochleben lassen – denke dir: Frau Ottinger war ein bißchen beschwipst!« Marion erfuhr – über den Ozean, über so viele Ebenen und Städte – die Details des Züricher Silvester-Menüs. »Tilla hat sich um alles gekümmert«, betonte Marie-Luise bescheiden. »Und wie bezaubernd sie aussieht – du kannst es dir gar nicht vorstellen! Sie trug ein neues Schwarzseidenes – ganz einfach, aber so schick! Jetzt ist sie ja schon im Schlafrock . . .« Es klang, als ob Frau von Kammer sich bei Marion wegen des nachlässigen Kostüms ihrer Freundin entschuldigen wollte. – Herr Ottinger hatte mit seiner »Lebensbeichte eines Eidgenossen« viel Erfolg –: auch dies ward Marion noch zugerufen, über Wellen und Berge. »Und das Buch ist unserer Tilly gewidmet! Ist das nicht rührend? Sie wird nicht vergessen von ihren Freunden, auch Peter Hürlimann hat etwas zu ihrem Andenken komponiert, eine Art von Requiem, der gute Junge, es klingt interessant, ich kann 354 es nicht ganz verstehen. – Tilly wird nicht vergessen!« rief die Mutter vom Zürichberg. Und Marion, im Mittelwesten der USA, wiederholte: »Sie wird nicht vergessen.«
Später mußte Benjamin die Schwiegermama telephonisch begrüßen – es wurde ein langes Gespräch, ein ziemlich kostspieliges Weihnachtsgeschenk. Marie-Luise gratulierte dem fremden Herrn; dabei fiel ihr ein, daß sie der Tochter gar nicht ordentlich Glück gewünscht hatte –: »Mein Gott, ich bin so vergeßlich! – Machen Sie mein Kind glücklich!« verlangte die Mutter, aus großer räumlicher Distanz. »Haben Sie wirklich einen langen weißen Bart?« – »Keine Spur!« Benjamin legte größten Wert darauf, dies richtigzustellen. »Ich bin glattrasiert!«
Auch Lucy wurde zum Apparat geschoben; sie kicherte und wischte sich die Hände an der Schürze, als sollte sie der Königin von England die Hand reichen. Sie knickste sogar; denn sie dachte: Wahrscheinlich kann man mich auch sehen, da man mich hören kann . . . Jedenfalls ist es ratsam, sich manierlich aufzuführen, wenn man schon mal mit Europa spricht. Übrigens war sie davon überzeugt, daß Zürich die Hauptstadt des Deutschen Reiches sei, daß dort ein Kaiser mit einem kolossalen Schnurrbart regiere, und daß alle Leute beständig Hofknickse exekutierten oder sich tief verneigten. »Happy New Year, Ma'am!« rief die dicke Lucy, wobei sie sich vor Lachen ausschütten wollte.
»Ein glückliches neues Jahr!« wünschte Frau Tibori aus Pension »Rast und Ruh«: ihre Stimme hatte noch den süßen und tiefen Klang; ein Unter- und Nebenton von Klage war ihm beigemischt. Die Tatsache, daß Marion heiraten wollte, schien sie zu rühren, beinah zu erschüttern. »Alles, alles Gute!« sagte sie immer wieder, enthusiastisch und dabei irgendwie warnend. Ihr lag daran, der Tochter ihrer Freundin zu bedeuten: Liebes Kind, das Leben ist schwierig, und die Männer tun alles dafür, es uns erst recht bitter und kompliziert zu gestalten! Machen Sie sich keine Illusionen über Ihren Bräutigam, liebes Kind – er mag ein charmanter Mensch sein, aber wohl kaum viel zuverlässiger als der Rest. Mein Gott – wenn ich an meinen Kommerzienrat denke! Oder an den Jungen von mexikanischer Abkunft! Was für ein kleiner Schuft! – »Alles, alles Gute!« wiederholte sie mit düsterem Überschwang.
»Alles, alles Gute!« –: eine halbe Stunde später hörte Marion den herzlich gemeinten Wunsch aus dem Munde der amerikanischen Freunde. Mrs. Piggins weinte fast, als Professor Abel feierlich mitgeteilt hatte: Marion und ich werden heiraten. – »Ich habe es geahnt!« schluchzte die gute Dame, obwohl ihr alles überraschend kam. Mr. Piggins, ein nachdenklicher Realist, fand das Arrangement vernünftig und lobenswert. Jonny Clark, der es wirklich geahnt hatte, zeigte musterhafte Selbstbeherrschung. Immerhin bedeutete es ihm einen Schock. Er hatte für diese seltsame Europäerin mit den schrägen Augen ein entschiedenes Faible gehabt. Isn't she utterly attractive? – dachte Jonny, der Braungebrannte. Und er beschloß: Nun küsse ich ihr nochmal die Hand! Das kleine Vergnügen darf ich mir wohl 355 gönnen als Lohn für so viel selbstlose Zurückhaltung! – Dem Kollegen Abel klopfte er die Schulter: »Congratulations, old chap!« Sie tauschten männlich-befreundete Blicke. Sie mochten sich. Sie tranken sich herzlich zu.
Der alte Professor Schneider war schier außer sich vor Vergnügen über das charmante Ereignis. Er bekam feuchte Augen, sein Mienenspiel war sowohl schalkhaft als auch ergriffen. »Und sie passen so gut zueinander!« sagte er immer wieder. Dann spielte er den Hochzeitsmarsch von Mendelssohn auf dem Klavier. »Ihr werdet nach Deutschland zurückkehren!« prophezeite er dem jungen Paar, und ward wehmütig in der Erinnerung an längst verflossene Heidelberger Studententage. »Ihr werdet gute Amerikaner sein – und ich wünschte mir, ihr bliebet immer hier. Aber Deutschland kann auf die Dauer Menschen von eurer Art nicht entbehren. Ihr werdet zurückkehren!« verhieß er, und bewegte die alten, etwas gichtischen Finger munter über die Tastatur.
Übrigens hatte er seinerseits noch eine kleine Sensation auf Lager. Wer hatte ihm denn geschrieben? Von wem war der Brief, mit dem er jetzt neckisch winkte? – Abel erriet es nicht; der Brief kam von Professor Besenkolb aus Bonn.
»Was will denn das alte Untier?« – Benjamin schien belustigt, aber auch ärgerlich.
Besenkolb erkundigte sich bei Schneider, ob es in den Staaten keine Chancen für einen berühmten alten Germanisten gebe. In fast demütigen Wendungen bat er um Protektion. Er hatte das Nazi-Regime gründlich satt, er war enttäuscht und verbittert. »Die jungen Leute lernen nichts mehr«, klagte der Gelehrte aus Bonn. »Sie machen Geländeübungen. Ich habe mir das anders vorgestellt. Mich hat der ›Völkische Beobachter‹ angegriffen, weil ich meinerseits Goethe nicht scharf genug getadelt habe wegen seiner lahmen Haltung während der Freiheitskriege. Ein alter Patriot wie ich muß sich sagen lassen, es fehle ihm an Interesse für die nationale Ehre. – Ich will weg.«
Besenkolb hatte sein zorniges und bekümmertes Schreiben einem Schweizer Bekannten mitgegeben, der es von Basel aus beförderte. – »Das ist doch amüsant!« meinte Schneider. Er kannte die Geschichte des Zwistes zwischen Besenkolb und Abel, und hatte den Zeitungsartikel gelesen, in dem der »alte Patriot« den jüngeren Kollegen als »Schänder deutschen Kulturgutes« denunzierte. – »Das ist doch drollig!«
Auch Abel fand, daß es drollig war, und schämte sich nicht, seinen Triumph zu zeigen. »Mit miserablem Benehmen macht man nicht immer die besten Geschäfte«, stellte er fest. »Auch Schurken können mal reinfallen.« – »Und es geschieht ihnen recht!« rief Professor Schneider, befriedigt über das prompte Funktionieren der moralischen Weltordnung. –
Der Abend in Abels Junggesellenwohnung ward so außerordentlich gemütlich, daß die amerikanischen Freunde noch Wochen und Monate später 356 davon zu singen und zu sagen wußten. Man konnte von einem Gemütlichkeits-Rekord sprechen: darüber war nur eine Meinung bei allen, die das unbeschreiblich trauliche Fest mitmachen durften. Als die Uhr von der Universitätskirche Mitternacht schlug, fiel man sich gerührt in die Arme. Es kam so weit, daß Professor Schneider die dicke Lucy küßte, die ihrerseits nicht davon lassen konnte, zu knicksen und sich tief zu verneigen; sie war ein wenig von Sinnen, seit sie mit der Kaiserlichen Hauptstadt telephoniert hatte. Alle brüllten: »Happy NewYear! – A very very Happy New Year!« Die Stimmung erreichte ihren Höhepunkt, als Jonny Clark bunte Papierhelme und falsche Nasen verteilte. Ein Professor der englischen Literatur – sonst ein stiller, reservierter Herr – machte exzentrische Schritte, wobei er sich mit der flachen Hand abwechselnd auf die Stirn und auf die Knie schlug. Er behauptete, dies sei Schuhplattler, er habe es in Oberammergau so gelernt. Ein ernstes Fräulein, das in der Bibliothek arbeitete, bekam einen Lachkrampf, Jonny mußte ihr den Rücken klopfen – was ihr so angenehm war, daß sie nun erst recht weiter lachte. Mrs. Piggins sollte von Professor Schneider einen Tanz lernen, der »Big Apple« hieß und große körperliche Gewandtheit voraussetzte. Sie tat ungeschickte Sprünge und rief immer wieder: »It's much too difficult!« Schließlich sank sie in einen Sessel und brachte nur noch hervor: »My Lord – what fun we are having!!« – als müßte sie sich und alle Anwesenden an diesen erfreulichen Umstand erinnern.
In einer stilleren Ecke sagte Marion zu Benjamin: »Komisch – jetzt ist es in Zürich sieben Uhr morgens. Mama schläft noch. Aber es ist schon hell.«
Marion und Benjamin hatten nur noch ein paar Tage für ihr Beisammensein und für die vielen Gespräche. »Dann soll ich dich sechs Wochen lang nicht sehen«, sagte er. »Es ist schlimm.«
Wenn er nichts in der Universität zu tun hatte, war er fast immer mit ihr. Sie saßen zusammen in ihrer Hotelstube, oder im Bibliothekszimmer seiner Wohnung, oder in einem Lokal. Bei angenehmem Wetter gingen sie spazieren und freuten sich der bescheidenen Reize einer flachen Landschaft. Einmal schlug Marion plötzlich vor, sie wollten Kaffee im Restaurant des Bahnhofes trinken. Abel mochte nicht recht. »Ich hasse Bahnhöfe . . .« Sie bestand darauf. – »Bahnhöfe sind scheußlich; aber ich bin nun mal an sie gewöhnt. Ab und zu muß ich einfach Bahnhofs-Luft riechen . . .« – Er tadelte sie: »Eine miserable Gewohnheit!« Sie machte ihr trotziges Gesicht: »Kann schon sein . . .«, und jubelte, als sie die vertrauten Träger mit den roten Mützen sah, und die Pullman-Wagen, und das kümmerliche Buffet, wo die Leute schalen Orangensaft und lauen Milchkaffee schlürften.
Sie behauptete: »Es ist reizend hier!« Er schüttelte mißbilligend das Haupt. Sie erkundigte sich, ob er auch die Neger in den Schlafwagen so sehr liebe. Er antwortete ausweichend; sie sagte: »Es sind lauter 357 herzensgute Menschen! Ich fühle mich bei ihnen geborgen wie in Abrahams Schoß. Sie behandeln mich so väterlich: das ist wohltuend. Wenn ich im Pullman-Car Zigaretten rauche – was doch eigentlich verboten ist – lächeln sie mir mild und schelmisch zu –: ich könnte ihnen um den Hals fallen.«
Später wurde sie ernster. »Ich werde das Reisen nie ganz aufgeben können«, erklärte sie kummervoll aber entschieden – als setzte sie dem Bräutigam auseinander: Auf mir liegt ein kleiner Fluch, ich bin eine Reisende, es läßt sich leider nicht ändern. »Ich bin auch ehrgeizig«, gab sie zu. »Benjamin – du erwartest doch nicht, daß ich Schluß mit meiner Karriere mache? – Es ist eine so alte Gewohnheit von mir, mich den Leuten für Geld zu zeigen!«
Er versetzte: »Du sollst später entscheiden, ob du weiter auftreten und reisen willst. Zunächst wirst du wohl etwas stiller leben müssen – wegen des Kindes.«
Sie senkte das Gesicht und blieb still, für mehrere Sekunden. Schließlich sagte sie – aus was für Gedankengängen heraus? –: »Es gibt noch so viel zu tun.« Benjamin nickte ernst. Sie schaute ihn an: »Für uns beide. Sehr viel zu tun – für dich und für mich . . .«
Dann wendete sie sich von ihm ab, um einen Träger mit roter Kappe zu beobachten; er verlud Handgepäck auf einen Karren. In einer Viertelstunde ging der Zug nach Chicago. Marion sagte:
»Als der brave Schneider uns neulich prophezeite, wir würden nach Deutschland zurückkehren –: es kam mir so sonderbar vor. Wollen wir denn zurückkehren?«
»Ich weiß nicht«, sagte Benjamin. »Ich muß oft darüber nachdenken. Natürlich hängt es von tausend Umständen ab, die sich gar nicht voraussehen lassen. Aber alles in allem glaube ich doch eher: ich will nicht zurück . . .«
Sie schaute sinnend dem Rauch ihrer Zigarette nach. »Ich glaube, alles in allem will ich doch zurück . . .« Dabei schien sie plötzlich zu frösteln. Sie zog den Mantel enger um ihre Schultern. »Es wird schrecklich sein . . .«, sagte sie und lächelte angstvoll.
»Was?« fragte er. Sie erwiderte – die Augen beim Gepäckträger, der seinen Karren zum Perron schob, wo der Chicago-Zug stand –: »Die Heimkehr. – Man wird nichts mehr erkennen!« Dies sagte sie hastig, hatte dabei auch wieder die fröstelnde Bewegung der Schultern. »Alles wird total verändert sein – unheimlich fremd geworden . . . Die Straßen, die Gesichter – alles . . . Vor allem die Gesichter, natürlich.« Der Gepäckträger war verschwunden. Mehrere Reisende drängten zum Perron. Der Zug nach Chicago mußte bald fahren. »Ich fürchte mich davor, in Deutschland Menschen wiederzusehen, die ich früher gekannt habe«, sagte Marion.
»Ich auch«, sagte Benjamin. »Deshalb möchte ich nicht zurück.«
Sie redete weiter: »Wir sind so sehr abgeschnitten von Deutschland – es beunruhigt mich oft. Natürlich, wir bekommen Berichte; wir haben 358 Freunde, Verbindungsleute, die uns alles erzählen, was drinnen vorgeht. Aber genügt es? – Ich weiß doch nicht, ob es völlig genügt . . . Vielleicht entgeht uns das Wesentliche. Wir können uns vielleicht die Atmosphäre im Reich gar nicht mehr vorstellen. Unter dem Druck dieser Atmosphäre bilden sich dort vielleicht Charaktere, die wir kaum begreifen; formieren sich Fronten, von denen wir ausgeschlossen bleiben . . .«
»Ich glaube nicht«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß wir viel versäumen. Wir kennen doch Menschen, die noch jahrelang im Dritten Reich gelebt haben. Sind sie um eine bedeutende innere Erfahrung reicher als wir? Ich habe die meisten seelisch ausgehöhlt, geschwächt, fast erledigt gefunden. – Das Dritte Reich hat eigentlich keine Realität. Ihm fehlen alle Elemente der Größe – selbst im Negativen. Es ist durch und durch journalistisch. Seine Basis ist das Schlagwort; die Propaganda – die für sein Entstehen die Voraussetzung war. Das Leben verödet, es verliert seine Inhalte, seine Substanz. – Es wird niemals ein großes Epos über Nazi-Deutschland geschrieben werden«, versicherte er mit überraschender Dezidiertheit. »Nicht einmal ein großes Epos der Anklage – wenn alles vorüber ist. Dieser monströse Staat ist hohl wie die Köpfe derer, die ihn dirigieren. Das Hohle haßt oder bewundert man nur, solange es Macht hat. Wenn es gestürzt ist, vergißt man es möglichst schnell, wie einen Alptraum.«
Marion erinnerte sich an ein paar Zeilen, die sie oft rezitiert hatte: »Nicht gedacht soll seiner werden . . .« Es war eine ihrer wirkungsvollsten Nummern gewesen. Sie begann, fast mechanisch, das schauerliche Fluch-Gedicht aufzusagen; unterbrach sich aber, und wiederholte eigensinnig:
»Wir müssen zurück. – Ungeheure Aufgaben werden sich stellen, wenn der Alptraum ausgeträumt ist. Wer soll sie denn bewältigen – wenn wir uns drücken?! Die alten Gruppierungen und Gegensätze – ›rechts und links‹, ›bürgerlich und proletarisch‹ – werden keine Geltung mehr haben. Die Menschen, die guten Willens sind – die anständigen Menschen finden sich, vereinigen sich, arbeiten miteinander. Wir gehören doch zu ihnen! – Wollen wir uns denn ausschließen?!« Sie packte Abel am Arm. Sie rief ihm zu: »Komm mit mir!« – als führe der Zug dort draußen auf dem Geleise nicht nach Chicago, sondern nach Berlin, und sie müßten sich sputen, um ihn noch zu erreichen.
»Aber ich bin so gerne in Amerika!« sagte er, etwas schläfrig. »Und ich mag Professor Besenkolb nicht wiedersehen.« – »Den lassen wir hinrichten!« entschied Marion. Sie lauschte, schräg gehaltenen Kopfes. Dies war das Geräusch des Zuges, der sich langsam in Bewegung setzte. Der Gepäckträger kehrte mit leerem Karren in die Bahnhofshalle zurück.
Marion sank ein wenig in sich zusammen. Sie wandte Benjamin ihr Gesicht zu – ein erschöpftes Gesicht, mit kleinen Falten um die schrägen Augen und den üppigen Mund. Die Hände hoben sich von ihrem Schoß; bewegten sich matt, mit einer ratlosen Geste, und senkten sich wieder – zu kraftlos jetzt, um auszudrücken, was dies Herz verwirrte. Ihr Haupt glitt ein wenig zur Seite, als wollte es ausruhen auf der Schulter des Mannes. 359
Sie lächelte zaghaft, um Verzeihung bittend –: wegen ihrer Reiselust, und wegen ihrer garzugroßen Müdigkeit. Das verschwimmende Lächeln gestand: Mein Bedürfnis nach immer neuen Strapazen ist ebenso stark wie meine Angst vor ihnen. Du hast dir eine sonderbare Frau genommen, lieber Benjamin. – Dies sagte sie nicht. Vielmehr bemerkte sie nur, mit einem entgleitenden Lächeln und einem entgleitenden Blick – als ließen alle Not und alle Hoffnung in den paar vagen Worten sich zusammenfassen –:
»Ich bin so lange unterwegs gewesen . . .« 360