Klaus Mann
Der Vulkan
Klaus Mann

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Viertes Kapitel

Martin ist krank, »eine Lungenentzündung«, sagt Doktor Mathes. Und David Deutsch gegenüber erklärt er: »Das kommt nicht selten vor, im letzten Stadium des Morphinismus.« – Bald scheint eine Besserung zu konstatieren; sie hält nicht an, der Rückfall stellt sich ein. – »Ich möchte die Verantwortung nicht mehr alleine tragen.« Das Gesicht des Doktors ist recht düster geworden. »Wir wollen ihn in ein Krankenhaus transportieren. Auch tut man gut daran, seinen Eltern Nachricht zu geben.«

David hat es Martin beizubringen: »Du mußt in ein Krankenhaus.« Der nimmt es aber nicht schwer. »Natürlich«, meint er nur. »Das ist gewiß vernünftiger.« – Woher kommt ihm dieses Vertrauen? Wie erklärt sich solche Euphorie? Er bekommt kleinere Dosen Morphium als sonst; sein Herz hielte die starken nicht aus. Nicht das Gift also kann es sein, das seinen Blick derart leuchten macht; wohl auch nicht nur das Fieber. – »Es ist hübsch hier«, sagt er, da man ihn im Hospital gebettet hat. »Ich fühle mich wohl. Ja, rücke mir das Kissen zurecht! Vielen Dank, lieber David.«

 

Martin, der den Tod gewollt hat, nun, da er ihm so nahe ist, erkennt er ihn nicht. So lange hatte er ihn herbeigerufen, ihn gelockt, jetzt aber will er seine Zeichen nicht verstehen, und er scheint unempfindlich für die Liebkosung seiner dunklen Hand. »Wenn ich wieder gesund bin«, versichert er dem David Deutsch, der fast den ganzen Tag an seinem Krankenbett verbringt, »wenn es mir ein bißchen besser geht, dann reise ich mit Mama in die Schweiz. Soviel Geld wird mein alter Herr schon noch auftreiben. Er ist ja gar nicht so schrecklich arm, wie er immer tut. Eigentlich ist er wohl noch ziemlich wohlhabend, weißt du . . .« Das »weißt du« auf die etwas selbstgefällig-doktrinäre Art zerdehnt, die man an ihm kennt. – Das Sprechen macht ihm Schwierigkeiten, er muß husten.

»Sicher, Martin, die Schweiz wird dir gut tun.« Welche Anstrengung kostet es David Deutsch, zu lächeln! »Aber du sollst jetzt nicht so viel reden!« – Und Martin behauptet: »Ich fühle mich heute viel besser.« Ach, er hat ihn gelockt, er hat sich so tief mit ihm eingelassen, so zärtlich-gründlich hat er sich mit ihm beschäftigt, und nun erkennt er ihn nicht . . . Martin liegt in einem billigen Hospital; das Geld, welches sein Vater, auf Davids dringliche Bitten, aus Berlin geschickt hat, reicht nicht aus, um den Aufenthalt in einer guten Privatklinik zu bezahlen. David hat ohnedies seine geringen Ersparnisse angreifen müssen, damit Martin ein Einzelzimmer bekommen konnte. David hätte es nicht ertragen, den Freund in einem Raum mit fremden, kranken, vielleicht übelriechenden, boshaften Leuten zu sehen . . . Ein bescheidenes Zimmer: nur das Bett, zwei Stühle, ein kleiner Nachttisch und Waschgeschirr. Auf dem Nachttisch stehen immer Blumen. David bringt jeden Tag gelbe Rosen oder bunte Tulpen 235 mit, und vielleicht etwas Obst oder ein Buch mit Bildern, in dem der Fiebernde blättern kann.

Die Krankheit zieht sich hin; übrigens ist ihr Verlauf ungewöhnlich, gegen die Regeln: eine Lungenentzündung mit atypischen Komplikationen. David möchte Einzelheiten wissen, aber der Professor, ein schweigsamer und zurückhaltender Herr, gibt keine Auskunft. Es tritt eine Besserung ein, eine trügerische kleine Erholung; David meint schon aufatmen zu dürfen, aber dieser günstige Zustand hält sich nur wenige Tage, und da das Fieber wieder steigt, wird das Gesicht des Professors bei der Morgenvisite sehr ernst. »Ich habe beinah keine Hoffnung mehr für Ihren Freund«, erklärte er David.

Ließe nur Kikjous Adresse sich feststellen! Aber Kikjou scheint vom Erdboden verschwunden, niemand weiß, wo er sich aufhält. Martin fragt manchmal nach ihm – nicht sehr oft; aber doch mit einer Dringlichkeit, einer Gier, die zu verbergen er sich nicht mehr die Mühe nimmt, oder nicht mehr fähig ist. »Hast du nichts von Kikjou gehört?« – »Doch, er ist in Lausanne, bei seinen Verwandten, er hat eine recht unangenehme Grippe, sowie es ihm besser geht, wird er kommen.« David Deutsch ist so erfinderisch geworden, es fällt ihm so vieles ein, um Martin nur die schlimme Wahrheit zu ersparen: daß Kikjou völlig unauffindbar ist; daß er sich ganz und gar von Martin und von allen, die mit Martin zusammenhängen, zurückgezogen hat. – »So so, eine Grippe«, sagt Martin, der es zu glauben scheint. »Armer Kikjou, er hat immer Pech. Aber warum schreibt er denn nicht? Das könnte er doch wirklich mal tun.« – »Er hat mir eine Karte geschrieben«, erzählt David flink. »Er läßt dich schön grüßen, und er verspricht dir einen langen, netten Brief.« – »Das ist brav von ihm.« Martin lächelt matt und froh zur Decke hinauf. »Wenn ich mit Mama in der Schweiz bin, soll er mitkommen; dafür wird das Geld meines alten Herrn schon noch langen . . .«

Kikjou hält sich rätselhaft verborgen. Marion reist wohl gerade durch die Böhmischen Bäder. Marcel ist in Spanien. Keiner von den nächsten Freunden ist da. Nur aus der »Schwalbe« spricht ab und zu jemand vor: das Meisje oder die Proskauer. Einmal erscheint sogar die Frau Wirtin selbst: energisch, von etwas polternder Munterkeit, dabei gemütvoll – und David kann sie nur mit Mühe daran hindern, sich im Krankenzimmer ihre dicke, kurze Zigarre anzuzünden. »Aber es würde doch gar nichts schaden«, meint Martin mit einer Stimme, die so schwach geworden ist. – Es ist gerade während der kurzen Zeit, da sein Zustand sich zu bessern und das Schlimmste überstanden zu sein scheint. »Ich könnte ja auch selber mal wieder eine Zigarette rauchen . . . David, hast du keine Chesterfield da?« – »Der Junge ist richtig!« ruft die aufgeräumte Schwalbe, und kratzt sich mit Behagen das kurze, borstige, graue Haar. Aber ein bittender, fast drohender Blick Davids bestimmt sie dazu, auf ihre Zigarre dieses Mal zu verzichten.

Da Martins Befinden sich noch einmal verschlimmert, telegraphiert 236 David an Frau Korella, Nürnberger Straße, Berlin – und sechsunddreißig Stunden später trifft die Mutter ein. »Ich wäre ja noch schneller gekommen«, entschuldigt sie sich, gleich auf dem Bahnhof, bei David Deutsch, der sie abgeholt hat. »Aber ich mußte mir erst ein französisches Visum besorgen, das ist alles so umständlich heutzutage.« Frau Korella bittet immer um Entschuldigung; sie wirkt, als wolle sie beständig um Pardon ersuchen für die simple Tatsache ihrer Existenz. Herr Korella sagt es ihr oft: »Du mußt mehr Selbstbewußtsein zeigen, Hedwig. Nur mit Selbstbewußtsein kommt man durch diese harte Zeit.« Aber weder ihr Junge, Martin, noch ihr Gatte haben durch das Benehmen, das sie ihr gegenüber an den Tag legen, dazu beigetragen, Frau Hedwigs innere Sicherheit zu kräftigen und zu stützen.

Frau Korella sieht stets verweint aus, sie hat immer etwas verschwollene und gerötete Augenlider. Jetzt erscheint ihr Gesicht ganz verwüstet von wahren Exzessen des Schluchzens; sie hat während der ganzen Reise, vom Bahnhof Zoo, Berlin, bis zu der Pariser Gare du Nord, ohne jede Unterbrechung geschluchzt. Die Tränen haben ihre Züge fast aufgelöst, sie haben sie weggewaschen, wie ein nasser Schwamm die Kreideschrift von einer schwarzen Tafel wäscht. »Aber er lebt noch?« ruft flehend die Mutter, und sie klammert sich mit einem Griff, der überraschend hart und heftig ist, an Davids Arm. – »Er lebt noch«, bestätigt der junge Deutsch, mit einer Stimme, die Frau Hedwig keine Zweifel darüber läßt, daß ihr Sohn nur noch eine kurze Zeit, vielleicht nur noch Stunden wird atmen dürfen.

Die Mutter besteht darauf, sofort ins Hospital zu fahren, obwohl David sie dringend dazu auffordert, sich erst im Hotel etwas auszuruhen. »Es gibt keine unmittelbare Gefahr für den Augenblick«, versichert er ihr. Aber die Verweinte bleibt hartnäckig: »Ich will keine Minute verlieren. Gleich muß ich ihn sehen . . .« –

Martin ist gar nicht besonders erstaunt, daß die Mutter plötzlich vor ihm steht. »Bist du auch einmal nach Paris gekommen, Mama?« ist alles, was er sagt, und er lächelt, während er ihr seine schrecklich mager gewordene Hand hinhält. Wie sie glüht, wie heiß und trocken sie ist, die arme schöne Hand ihres Sohnes! Frau Korella muß sich ungeheuer beherrschen, um nicht schon wieder in Tränen auszubrechen. Sie nimmt alle Kräfte zusammen, und ihr Gesicht bekommt einen harmlos-ruhigen, fast vergnügten Ausdruck. Mit einer Stimme, die wirklich beinah unbefangen klingt, sagt Frau Korella: »Ich wollte doch einmal nach meinem alten Jungen sehen – ob er mir in Paris auch keine Dummheiten macht.« Martin geht ein auf das Spiel; er spielt es weiter; er flüstert: »Du siehst doch, ich bin ganz brav . . .« – Seit einigen Tagen ist er nicht rasiert worden; ein blonder Bart – der auf der Oberlippe nicht mehr wächst – rahmt seine sanfte, strahlend bleiche Miene. So sind junge Märtyrer auf Heiligenbildern dargestellt – denkt stolz die Mutter. Was muß er alles durchgemacht haben, daß er so schön werden konnte!

Eine halbe Stunde lang unterhält Martin sich bei ganz klarem 237 Bewußtsein, fast angeregt, mit seiner lieben Mama. Mühsam flüsternd erkundigt er sich nach allerlei: »Wie sieht es denn aus in Berlin? – Ich kann es mir schon gar nicht mehr vorstellen . . . Überhaupt«, fällt ihm plötzlich ein, »ich weiß ja gar nicht mehr, was los ist; seit Wochen habe ich keine Zeitungen gesehen. Warum bringt man mir eigentlich keine Zeitungen mehr?« fragt er mit einer gewissen Gereiztheit. David Deutsch lächelt um Verzeihung bittend, wobei er sich seitwärts verneigt. Aber Martin winkt schon wieder ab: »Du hast ja ganz recht. Was soll ich mit Zeitungen? Steht ja doch immer nur derselbe Schwindel drin. – In Deutschland wird es nie mehr besser werden . . . Du kannst froh sein, daß du jetzt in Paris bist, Mama . . . Paris ist sehr hübsch, bist du denn schon auf der Place de la Concorde gewesen? Eine großartige Sache . . . Ich werde dich nächstens mal hinführen . . .« – »Ja ja«, sagt die Mutter, »du wirst mich nächstens mal hinführen.«

Martin verstummt, Schleier scheinen sich vor seine Augen zu senken, ihr Blick gleitet ab ins Leere. Nach einer langen Pause sagt er noch: »Früher konnte es in Berlin sehr nett sein . . . Reizend . . . Warum bin ich eigentlich so lang nicht dort gewesen? Zu dumm, so lang von zu Hause fort sein . . . Ich möchte Kikjou einmal Berlin zeigen . . . Wo ist Kikjou?!« schreit er plötzlich. »Ich will Kikjou suchen! Ich muß nach Berlin, mit dem kleinen Kikjou!!« Er wirft die Decken von sich, David muß ihn halten, damit er nicht aus dem Bette springt. Die Mutter legt die Arme um seinen Hals. Er wird ruhiger. »Kikjou glaubt an Gott«, erzählt er der Mutter, die gar nicht weiß, wer das Wesen, das diesen sonderbaren Namen – Kikjou – trägt, eigentlich ist. »Er glaubt ganz fest an Gott, an die Erzengel, und an alle Heiligen . . . Kikjou hat jetzt Grippe, ich weiß, deshalb kann er nicht hier sein. Aber sowie er wieder gesund ist, und mich wieder besuchen kommt, muß ich alle diese Dinge ausführlich mit ihm besprechen, alle diese Dinge vom lieben Gott . . .«

 

Es dauerte noch mehrere Stunden lang. Der Kranke kam nicht mehr zu einem klaren Bewußtsein. Er phantasierte ohne Unterbrechung. Seine wirren Reden kreisten um Kikjou und den lieben Gott; auch gewisse Verse des verruchten Lieblingsdichters kamen vor. Einmal schrie er: »Kikjou hat den lieben Gott entdeckt – eine enorme Entdeckung! Aber ich stehe nicht in Gunst bei Ihm. Kein Lichtstrahl trifft mich aus Seinen großen schönen, fürchterlichen Augen. Ich gehe. Ich gehe ja schon . . . Wenn du die Mythen und Worte entleert hast, sollst du gehen . . . Niemand wird weinen, wenn du verschwunden bist . . . Der liebe Gott, den Kikjou entdeckt hat, kennt keine Tränen . . .«

Der letzte Kampf war sehr schwer. Martin saß starr aufgerichtet im Bett, mit gereckten Armen. Er bewegte die Arme –: nach was griff er denn? Wen wollte er denn berühren? Erschauernd fiel die Mutter über sein Lager. Ihr graute; denn Martin, ihr armer Sohn, ward geschüttelt von 238 Fäusten, die unsichtbar sind. Auch schien es ihr, daß er strahlte. Von seinem Gesicht, das gleich erstarren würde – die Mutter wußte es: nun würde sein Gesicht gleich erstarren – kam Glanz. Um sein immer noch aufgerichtetes Haupt, so schien ihr, zuckte ein Glorienschein wie von Blitzen, ein elektrisches Diadem, eine tödliche Krone.

Die feurige Zierde um seine Stirn erlosch, seine Hände sanken: sei es, weil sie nun berührt hatten, was zu berühren sie so gierig gewesen; sei es, weil sie es für immer unerreichbar gefunden –, und während sein Blick brach, sanken seine Glieder und das endlich erlöste Haupt in die Kissen zurück.

Es kostete große Mühe, Frau Korella vom Lager ihres Sohnes zu entfernen. David Deutsch begleitete sie in ein Hotel, wo er ihre Koffer schon hatte unterbringen lassen. Er übernahm es auch, an Martins Vater nach Berlin zu telegraphieren. Ihm war es angenehm, daß er noch irgend etwas zu tun hatte, und wenn es auch melancholische Kleinigkeiten waren –, ehe er nach Hause gehen mußte, wo nur die furchtbaren Gedanken, die Erinnerungen und die Einsamkeit ihn erwarteten.

Als er, eine Stunde später, sein Zimmer betrat, saß im Halbdunkel ein Mensch auf dem Sessel am Fenster. »Wer ist das?« rief David, der sehr erschrak. Eine leise, glockenhaft reine Stimme antwortete: »Ich bin es, verzeihen Sie bitte.« Es war Kikjou. Als er ihn erkannte, brach David in Tränen aus. Bis zu diesem Augenblick hatte er nicht weinen können. Kikjou fragte schnell: »Er ist also tot?« Da der Schluchzende nickte, faltete Kikjou die Hände. »Gott sei seiner armen Seele gnädig.«

Auf diese Worte hin, die Kikjou mit wunderbarer Glockenstimme, leise, aber innig akzentuiert vorbrachte, machte David eine ungeheure Kraftanstrengung, um seinen Weinkrampf zu unterdrücken. Er ballte die Fäuste, biß die Zähne aufeinander, daß sie knirschten, und bog den Rumpf in heftiger Verrenkung nach rechts, wobei er die Schenkel beinah bis zu den Schultern hochzog, und sogar etwas hüpfte. Ja, die ungeheure physische Mühe, die es ihn kostete, des Weinens Herr zu werden, brachte ihn dazu, mit geschlossenen Füßen, etwa zwei Zentimeter hoch in die Luft zu springen. Es war ein grotesker und erschreckender Anblick. Erschreckend war auch das Zornesfunkeln in Davids Augen, als er jetzt Kikjou anschrie: »Sparen Sie sich Ihre frommen Wünsche und Gebete! Wenn es Ihren lieben Gott überhaupt geben sollte, dann ist Martin ihm näher gewesen als Sie, mit allen Ihren Sprüchen und Litaneien!«

Kikjou schwieg, sein fahles, liebliches Gesicht blieb starr. Die Augen, in denen Grün, Hellblau, Goldbraun, Violett und Schwarz sich in einer zugleich undurchdringlichen und strahlend hellen Tiefe mischten, schauten an David vorbei. Nach einer großen Pause sagte er: »Wahrscheinlich haben Sie recht. Wir wissen nicht, wen der Herr liebt und bevorzugt.« Er verstummte noch einmal; in seinen Augen wurden alle Farben von dem Schwarz verschlungen; sein Blick war in Finsternis getaucht wie ein Gewässer, über das finstere Wolken ziehen. »Ich bringe Unglück«, sagte er 239 noch, wieder nach großer Pause. Und er stand schön und trostlos da –: ›Wie ein Todesengel‹, dachte David, der seine Heftigkeit von vorhin bereute. Da Kikjou immer noch schwieg, fragte David nach einer Weile mit etwas bebender Stimme: »Warum sind Sie nicht bei ihm gewesen? Ich werde es niemals verstehen, warum Sie nicht gekommen sind. Er hat immer wieder nach Ihnen gefragt – nur nach Ihnen. Haben denn all meine Nachrichten Sie nicht erreicht? Die Briefe, und die drei Telegramme?«

»Nein«, antwortete Kikjou, »ich habe nichts bekommen.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Aber ich wäre wohl auch in Belgien geblieben, wenn alle Ihre Botschaften mich erreicht hätten. – Martin brauchte mich nicht, er wollte mich nicht mehr. Er hat etwas anderes mehr geliebt als mich. Er hat dem Dunklen Engel Stirn und Lippen zum Kuß geboten. Der Dunkle Engel zog ihn innig an sich. Gott sei Martins armer Seele gnädig.«

Der kleine Kikjou hatte wieder die Hände gefaltet. Aber er neigte das Gesicht nicht, wie man es zum Gebet neigt. Er hielt es aufrecht, und er lächelte.

David Deutsch erschrak. ›Warum lächelt er? Er sieht fast aus, als habe er den Verstand verloren; aber ein Wahnsinniger ist er nicht. In was für Geheimnisse ist er eingeweiht, und was für Bilder schauen nun seine Augen? – Spielt er Komödie? Heuchelt er? Aber Heuchler haben nicht diese Flamme im Aug, und nicht dies bleiche Leuchten über Stirn, Haar und Mund . . .‹

 

Zur Beisetzung von Martins Asche ist Herr Korella in Paris eingetroffen – ein ziemlich gebrochener Mann. Es ist zu viel für ihn gewesen in den letzten Jahren: erst der Verlust seines Notariats, dann seiner Praxis, und nun diese Tragödie mit dem Jungen. Was hat Herr Korella denn getan, womit hat er sich denn versündigt, daß ihm so viel Entsetzliches zugemutet, so viel Schreckliches über ihn verhängt wird, von einer Instanz, die Herr Korella, Atheist und Freimaurer, niemals »Gott« nennen würde, aber deren unbegreifliche und unbarmherzige Macht er erschauernd spürt. Er hält sich sehr aufrecht, Herr Korella, der Vater. Aber eben durch diese krampfhaft steife Haltung wirkt er besonders zusammengebrochen; alle haben den Eindruck, daß es diesem Mann natürlicher wäre, gebückt zu gehen, ja, vielleicht auf allen vieren zu kriechen, die Stirn in den Staub gepreßt. Über den Lippen, die immer ein wenig zittern, hat der Vater ein kleines Schnurrbärtchen, welches wie bereift aussieht: kein graues Schnurrbärtchen, sondern ein schwarzes, auf das Reif gefallen ist. Unter den Augen, die glasig blicken, gibt es traurige Säckchen: rötliche Verdickungen, wahrscheinlich tun sie immer ein wenig weh. Herr Korella trägt einen abgeschabten schwarzen Paletot mit speckigem Samtkragen, dazu weiße Gamaschen, runden steifen Hut, und einen dicken, schwarz lackierten Spazierstock mit Silberkrücke. Zur schäbig-altväterlichen 240 Eleganz solchen Aufzuges paßt die mühsame Grandezza seines Benehmens. Er bietet Frau Korella den Arm – arme Frau Korella, die buchstäblich in Tränen zu zerfließen droht und deren Gesichtszüge auf eine beängstigende Art weggewischt und abgewaschen scheinen –; er führt Frau Korella zum Eingang des Friedhofes wie zum Portal eines Ballhauses; seine Gesten, sein Gang sind marionettenhaft zuckend, ach, eigentlich möchte er auf allen vieren kriechen, zerfurchte Stirne und bereiftes Schnurrbärtchen im Staube, zu dem wir alle zerfallen werden . . .

Nicht sehr viele Leidtragende sind auf dem Friedhof erschienen; einige Stammgäste aus der »Schwalbe«: Kikjou, David Deutsch, die Proskauer, Doktor Mathes, und eine hagere Dame, die nur wenigen bekannt ist. Sie hält ein helles Lederköfferchen, in dem es klappert, unter dem Arm; es ist Friederike Markus – war sie denn befreundet mit dem Verstorbenen? Stand sie denn auch mit ihm in Korrespondenz? Martin ist doch ein so fauler Briefschreiber gewesen, aber Frau Viola ist es ja gewohnt, auf lange Ergüsse nur kärgliche Antwort zu erhalten. Wie dem auch sein möge: sie ist anwesend, und sie drückt als erste der aufgelösten Mutter Korella stumm die Hand. Übrigens befindet sie sich in Begleitung eines blonden jungen Mannes, der gleichfalls allen unbekannt ist und sich im Hintergrund hält. – Während die Schwalbe mit großen, gleichsam zornigen Schritten breitbeinig auf- und abgeht, wie ein Kapitän auf Deck seines Schiffes bei bewegter See, sagt Doktor Mathes zu Dora Proskauer: »Martins Lungenentzündung war von sehr besonderer Art. Da er nun tot ist, darf man wohl davon reden. Er war durch und durch infiziert. Ich möchte annehmen, daß er sich die intravenösen Injektionen mit einem nicht sterilen Instrument gemacht hat. Daher bildeten sich die Abszesse in seinem Inneren.« Die Proskauer sagte leise – ohne jeden Affekt, wie es schien, aber doch energisch –: »Hören Sie bitte auf.«

Übrigens regnet es, zu Beisetzungen gehören Regen, nasse Parapluies und der Geruch feuchter Mäntel. David Deutsch hat vorgehabt, eine kleine Rede zu halten – damit doch etwas gesprochen werde; denn es ist ja kein Geistlicher zugegen. Martin hat keiner Religionsgemeinschaft angehört, weder der israelitischen, deren Mitglied sein Vater ehemals gewesen ist, noch der protestantischen, zu der sich Frau Korella bekennt. Aber David versagt, er hat seine Kraft überschätzt. In verzweifelt schiefer Haltung steht er da; er verneigt sich seitwärts, lächelt verzerrt, eine ganze kleine Pantomime von hilflosen und närrischen Höflichkeitsbezeigungen führt er auf; aber über seine Lippen kommt kein Wort. Die rüstige alte Schwalbe ist es, die die Situation halbwegs rettet; sie schiebt David resolut beiseite – ihr zerzaustes, borstiges Grauhaar ist naß vom Regen, ihr energisch gutmütiges Kapitänsgesicht naß von Tränen, und ihre Stimme ist rauh, zittert wohl auch ein wenig, gibt aber doch markige Töne her, da sie nun ausruft:

»Martins Vater und Martins Mutter! Meine lieben Kinder! Ich kann keine Worte machen, und das hätte unser Kamerad auch nicht von mir 241 verlangt, unser Freund, von dem jetzt nur noch dieses bißchen Asche übrig sein soll. Aber seine Gedanken und die Anmut seines Wesens, und alles, was er gewesen ist, das darf doch nicht einfach so verlorengehen, das muß doch nachwirken – in uns, in uns nachwirken, meine ich; wir bewahren es doch. Er hat ja auch ein Dutzend sehr schöner Gedichte geschrieben, schlimm genug, daß es nicht mehr gewesen sind.« Hier hört man, wie Herr Korella sich gramvoll und ein wenig indigniert räuspert, und wie Frau Korellas Schluchzen heftiger wird – es ist erstaunlich, wieviel Tränen sie herzugeben hat, es scheint, als sei der Brunnen ihrer Tränen unerschöpflich, nun fließt das salzige Naß wieder so reichlich, als beginne die arme Frau gerade jetzt erst zu weinen, während sie doch in Wahrheit seit so vielen Stunden ohne jegliche Unterbrechung schluchzt. – Leichte Bestürztheit bei der kleinen Zuhörerschaft; manche deuten sogar durch Stirnrunzeln und Kopfschütteln eine gewisse Empörung an. Die alte Schwalbe aber – unbeirrbar, immer aufrichtig, das Herz auf dem rechten Fleck, weder durch Tränenbäche noch durch Stirnrunzeln irgend aus dem Konzept zu bringen –, alte Schwalbe, angesichts der kleinen schwarzen Urne ebenso natürlich und ungeniert wie hinter ihrer Theke im Lokal – fährt fort: »Schrecklich oft habe ich ihn auszanken müssen wegen seiner sündhaften Faulheit. Was hätte der nicht alles schaffen können! Aber es lag ihm wohl nichts daran. Er hat viel zu früh aufgehört. Was hätte er noch alles bringen und bedeuten können, für ihn selber und für die Freunde! Er war ja so reich – so reichlich ausgestattet mit schönen Gaben. Aber er hat sich nicht schonen und nicht aufsparen können; er hat furchtbar mit sich gewüstet. ›Auf was soll man denn warten, für welch kostbare Gelegenheit soll man sich denn aufheben?‹ hat er mir oft gesagt. Ich habe ihn dann zurechtgewiesen: ›Aber du willst doch Deutschland wiedersehen, Martin, und du wirst in Deutschland noch viel zu tun haben.‹ – Dann hat er nur sonderbar gelacht, und hat vielleicht mit einer schönen, traurigen Bewegung gesagt – mit einer Bewegung, wie sie ihm niemand nachmachen kann –: ›Ach, Deutschland!‹ . . . Unser Freund hat furchtbar unter allem gelitten, was dort geschieht; es hat ihn beinah verzehrt – von innen verzehrt –, ich weiß es –, und es hat sicher seinen Tod beschleunigt. – Diese Mörder!« ruft, plötzlich sehr zornig, die alte Schwalbe, und sie hebt die Faust – sie reckt ihre sehnige alte Faust über diesem kleinen, schwarzen Behälter, der die Asche ihres liebsten Gastes birgt –: »Diese Mörder da drüben! Sie bringen nicht nur die um die Ecke, die sie totschießen oder zertrampeln oder erschlagen; sondern auch die vielen andern, denen sie die Freude am Leben und das Leben selber kaputt machen; die sie erledigen, die sie zerstören: einfach, weil für empfindliche Lungen die Luft nicht zu atmen ist, die von diesen Ungeheuern vergiftet wird! – nicht nur in Deutschland! Der Pestherd schickt seine Dünste aus. Daran – und an nichts anderem! – ist unser Martin eigentlich gestorben!« – Neues Räuspern des Herrn Korella, diesmal heftiger. Ist das eine passende Grabrede? Diese merkwürdige Person namens 242 Schwalbe irrt sich augenscheinlich im Ort: sie ist hier auf keiner Volksversammlung. Das scheint ja eine rechte Hetzerin zu sein. Schon die Anspielung auf Martins Faulheit vorhin ist eine horrende Taktlosigkeit gewesen. Der Junge war ja recht träge, zugegeben; aber man erwähnt es doch nicht am Grabe. Und nun, diese Entgleisung, unerhört, das ist doch geradezu eine Rücksichtslosigkeit. Schließlich muß ich morgen nach Berlin zurück, denkt Herr Korella, und er spürt eine Beklemmung in der Magengegend bei dieser Idee. Wer weiß, ob nicht unter den Trauergästen ein Spitzel ist, man muß immer mit sowas rechnen. Und überhaupt, es ist ja Unsinn, was sie da redet, es ist doch der schiere Quatsch. Die Nazis sollen schuld sein an Martins traurigem Ende? Alles was recht ist, aber man kann die Leute doch nicht für jedes Unglück verantwortlich machen. Ich, als Vater, habe immer gewußt, daß es mit dem Jungen nicht gut ausgehen wird, trotz seinen schönen Talenten . . .

Die kleine Trauergemeinde läßt deutlich merken, daß man zum zweiten Mal peinlich berührt ist von der seltsamen Unbeherrschtheit der alten Schwalbe. Natürlich gibt man ihr recht und unterschreibt innerlich ohne Vorbehalt die wilden Worte, die sie vorgebracht hat. Aber – so empfindet man allgemein – eine gewisse Rücksicht auf die alten Herrschaften aus Berlin wäre doch ratsam und am Platze gewesen. – Betretene Gesichter im ganzen Kreise; nur der fremde junge Mann, den die gleichfalls ziemlich fremde Friederike, genannt Frau Viola, mitgebracht hat, wirkt gänzlich unbeteiligt; etwas gelangweilt, und als interessiere ihn nichts von dem, was hier geredet oder getan wird, spielt er mit seinen Handschuhen.

Übrigens scheint die alte Schwalbe zu spüren, daß sie Mißfallen, oder doch Verwunderung erregt hat. Sie beißt sich die Lippen; schüttelt den Kopf, als wolle sie sich selber zurechtweisen: Dummes Ding, kannst du dich denn gar nicht ein bißchen zusammennehmen! – und sie wird sogar etwas rot; es macht einen sonderbaren und recht rührenden Eindruck, wenn ein verwittertes, von allen Winden und Wettern gegerbtes Kapitänsgesicht, wie das der Mutter Schwalbe, sich schamhaft verfärbt. Ihre Stimme ist weich und leise, da sie nun fortfährt:

»Hoffentlich hast du jetzt die Ruhe, lieber Martin, nach der du dich so gesehnt hast. Uns wirst du sehr fehlen, es wird schwer und bitter sein, sich daran zu gewöhnen, daß du nicht mehr da bist. Wir sind doch eine Familie – nicht wahr, Kinder, ich übertreibe nicht, und es ist keine sentimentale Redensart, wenn ich uns so bezeichne?« Dies sagt sie bittend, fast flehend, und ihr Blick wandert in einer ängstlichen Frage von einem zum anderen. Alle nicken ihr zu. Die leichte Mißstimmung ist schon wieder verflogen. Sie ist eben doch eine prachtvolle alte Person, unsere Schwalbe, freilich sind wir eine Familie, und dir, alte Schwalbe, haben wir dankbar dafür zu sein; denn du hältst uns zusammen, du bist der Kapitän und die Mutter, die Ernährerin und der General.

»Ja ja«, ruft die alte Frau, jetzt beinah freudig, und aus ihrem ängstlich forschenden Blick ist ein zuversichtlich leuchtender geworden. »Eine 243 Familie – das sind wir –, und das sollt ihr auch in Berlin erzählen!« Dabei wendet sie sich triumphierend Herrn und Frau Korella zu, die nicht wissen, ob sie gerührt oder empört sein sollen, und in Wahrheit beides gleichzeitig sind. »Davon sprecht in Berlin!« verlangt die Schwalbe von ihnen. Aber dann schaut sie wieder weg von Martins krampfhaft steif aufgerichtetem Vater und von der tränennassen Mama, und ihre Augen bleiben noch einmal an dem schwarzen kleinen Behälter hängen, an dem bescheiden verzierten Gefäß, in dem das graue Aschenhäufchen aufgehoben ist. »Nun ist unsere Familie plötzlich viel ärmer geworden« –: dieses wird von ihr vorgebracht, als spreche sie zu sich selbst und habe vergessen, daß es hier Zuhörer gibt. »Viel ärmer geworden«, wiederholt sie mit betrübter Nachdenklichkeit. »Der Beste ist weg.« Sie zuckt die Achseln, mit einer bitteren und gar nicht pathetischen Resignation.

»Ja, er ist wohl so ziemlich der Beste gewesen . . .« Dabei hat ihr Gesicht etwa den Ausdruck, welchen es bekommt, wenn Frau Schwalbe die Geschäftsbücher prüft: es ist, als ließe sie in Eile sämtliche Mitglieder ihrer großen Familie Revue passieren, und als prüfe sie, hastig aber genau, die Valeurs jedes einzelnen, um festzustellen, ob Martin wirklich der Wertvollste gewesen ist. Und sie kommt zum Ergebnis: »Ich behaupte gar nicht, daß er der Tüchtigste war, oder der Nützlichste, oder der Tapferste, oder der Klügste; aber in einem gewissen Sinn ist er der Kostbarste von uns gewesen; er war vom Kopf bis zu den Füßen aus einem sehr feinen, seltenen, edlen, leicht zerstörbaren Material gemacht. – Von allen meinen Kindern habe ich dieses am liebsten gehabt.« Großes, zärtlich-schmerzliches Lächeln – mütterliches Lächeln auf dem Kapitänsgesicht. »Das darf nun keiner von euch anderen übelnehmen«, bittet sie sanft. »Einen muß man doch am liebsten haben – so ein Herz ist ungerecht.« Mit einer weit ausholenden, ungeschickt großartigen Gebärde deutet sie auf ihr Herz, das unter dem dunklen Regenmantel, unter der streng zugeknöpften grauen Bluse so stark, so innig, so jugendlich klopft. »Diesen also hat mein Herz bevorzugt«, verkündigt die alte Schwalbe, fürstlich-eigensinnig, einer Königin ähnlich, die dem Günstling in majestätischer Laune einen höheren Orden verleiht, als er ihm wohl eigentlich zukäme. – »Schlafe in Frieden!« – Wieder eine unbeholfen-pathetische Geste; ein weites Breiten der Arme, das eigentlich gar nicht zu den Worten paßt, die sie spricht. »Vielleicht gibt es einen Ort, von dem aus du uns zuschauen und beobachten kannst. Nun, wir wollen jedenfalls so leben, als wachtest du über uns, und wenn wir einmal etwas Gutes erreichen und einen tüchtigen Schritt weiterkommen – dann werden wir an dich denken, und eine Stimme, ganz tief drinnen in uns, wird sagen: Bist du jetzt zufrieden, lieber Martin? Freust du dich etwas mit uns, an dem unbekannten, wahrscheinlich sehr weit entfernten und vielleicht sehr schönen Ort deines Aufenthaltes? – Wie schade, wie jammer-jammer-schade, daß du nicht mehr mit uns sein kannst . . .«

Dieses war die höchst überraschende, teilweise anstößige und teilweise 244 ergreifende Trauerrede der alten Schwalbe. Sie hat geendigt, nun tritt sie zurück und wischt sich die Augen mit einem großen, nicht ganz sauberen Männertaschentuch. Viele weinen im Kreise; andere schauen starr und gramvoll vor sich hin. Jemand aber stößt einen kleinen, durchdringenden Klagelaut aus – es klingt wie das Heulen eines fremdartigen Tieres in der Nacht. Dieser Jammerruf kommt von Kikjou; er hat sich bis jetzt ganz still im Hintergrund gehalten, nun aber taumelt er, er scheint niedersinken zu wollen, ja, er wäre gestürzt, wenn nicht David Deutsch ihn aufgefangen hätte. David ist mit elastisch-behenden Sprüngen herbeigehüpft; er lächelt verzerrt, mit verzweifelter Höflichkeit, und in den Armen hält er den Knaben, an dem Martins Herz mit so unglücklicher und zäher Leidenschaft hing; den problematischen kleinen Vagabunden, den grüblerischen Aventurier –: eine wie leichte Last ist er an Davids Brust, David ist doch gewiß nicht sehr stark, sicherlich ist er kein Riese, aber der kleine Kikjou wiegt so gut wie nichts. Und wie bleich Kikjous Gesicht ist – buchstäblich alle Farbe ist aus ihm gewichen, auch die Lippen sind weiß, nur auf den geschlossenen Lidern und unterhalb der Augen gibt es dunkle Töne; schwärzlich-graue, blaue und violette Schatten sind wie mit einem Pinsel in die kranke Helligkeit dieses leidenden Gesichts getupft. – Ein paar Sekunden später nimmt Kikjou sich wieder zusammen; er lächelt mühsam: Danke; er drückt David die Hand, und nun kann er schon ohne Hilfe stehen.

In traurigem Défilé ziehen die Stammgäste der »Schwalbe« und die paar Fremden an Martins Eltern, an Herrn und Frau Korella aus Berlin, vorbei. Händeschütteln und gemurmelte Phrasen des Beileids. Frau Schwalbe umarmt Mutter Korella, die sich mit dem triefend nassen Tüchlein die geschwollenen Augen wischt; alte Schwalbe küßt Mutter Korella auf beide Wangen, Herr Korella sieht mit Mißbilligung zu. Er hat der temperamentvollen Dame ihre unkonventionelle und in vieler Hinsicht schokierende Grabrede ganz entschieden übelgenommen. Zu David Deutsch, der nun seinerseits den schiefen Bückling vor ihm macht, sagt er deutlich und nicht ohne Schärfe – obwohl die Schwalbe sich ganz in der Nähe befindet und seine Worte verstehen kann –: »Ich bedaure es aufrichtig, lieber Herr Doktor, daß Sie die Ansprache nicht halten konnten. Denn Sie sind es doch wohl, der meinem Sohn von allen hier Anwesenden am nächsten gewesen ist.« Er sieht mit einem strengen Blick erst an Frau Schwalbe vorbei, dann an Kikjou, dem er demonstrativ nicht die Hand gereicht hat.

Der einzige, dem Vater Korella hier ein gewisses Vertrauen entgegenbringt, ist David Deutsch; nun wird es deutlich, denn der alte Herr legt diesem Freund seines Sohnes einen Arm um die Schulter, und er führt ihn ein wenig bei Seite. David, in besonders schiefer Haltung – den Oberkörper verrenkt, im überhöflichen Eifer des Lauschens – nickt erregt mit dem Kopf und scharrt mit den Füßen die Erde wie ein nervöses Roß. 245

Herr Korella – ein total gebrochener Mann, der sich unter schier übermenschlichen Mühen steif und gerade hält, als hätte er einen Stock im Rücken –, Herr Korella bringt mit bebenden Lippen sein kleines Anliegen vor: Ob der junge Herr Deutsch ihm, dem Vater, bei der genauen Durchsicht von Martins Papieren behilflich sein möchte? »Vielleicht finden wir wertvolle Dinge unter diesen Niederschriften«, sagt der Vater, und in seinen Augen, die sonst über den schweren, entzündeten Tränensäcken einen so stumpfen Blick haben, gibt es plötzlich ein stolzes kleines Aufleuchten. »Geistige Kostbarkeiten,« fährt er erhobenen Hauptes fort, »literarische Leckerbissen«, sagt er, und läßt die Zunge über seine Lippen gleiten, als sei dort etwas Süßes abzulecken, »kurzum, Werke, auf welche die Öffentlichkeit einen Anspruch hat.« David hält dies für sehr wohl möglich, und steht Herrn Korella, selbstverständlich und ohne Vorbehalt, zur Verfügung. – »Wir begeben uns dann wohl am besten sofort in Martins Hotel und machen uns an die Arbeit«, schlägt Herr Korella unternehmungslustig vor. »Meine Zeit hier in Paris ist sehr knapp bemessen.« Herr Korella sieht auf die Uhr, als komme es auf jede Minute an und es sei kein Augenblick zu verlieren. »Morgen früh – morgen früh muß ich ja zurück nach Berlin . . .« Während er das Wort »Berlin« spricht, wird sein Blick wieder stumpf und glasig. Herr Korella senkt langsam den Kopf; er hält den Nacken hin, als erwarte er einen Schlag.

Frau Korella ist inzwischen von dem fremden jungen Mann, der als Kavalier der Friederike Markus auftritt, ins Gespräch gezogen worden. Der junge Mann stellt sich selber vor, er heißt Walter Konradi – ein fein empfindender Mensch, wie es scheint; er hat viel Verständnis für die bittere Lage der Mutter Korella; in schlichten, aber gut gewählten Worten drückt er sein Beileid aus. »Und nun werden gnädige Frau sich wohl eine Zeitlang in Frankreich aufhalten, zur Erholung?« – Walter Konradi erkundigt sich respektvoll und beinah zärtlich. Nein, Frau Korella muß morgen früh nach Berlin. – Nach Deutschland zurück? In diese Hölle? Walter Konradi ist ganz Bedauern. Aber Mutter Korella sagt einfach: Nun, es ist doch mein Vaterland – und sie meint es ehrlich, ja, sie freut sich fast auf ihre Wohnung in der Nürnberger Straße. – Gewiß gewiß, unser Vaterland. Der junge Herr deutet durch Lächeln ein geheimes Einverständnis zwischen sich und Frau Korella an. Unser Vaterland, sicher, das klingt sehr hübsch. »Aber schließlich«, bemerkt Konradi, nun vertraulich-leise, »schließlich, nach allem, was man uns dort angetan hat! Ich bin auch in einem Konzentrationslager gewesen . . .«, betont er, nicht ohne Stolz. Und er berichtet, immer mit dem vertraulich-gedämpften Ton, aus was für Gründen er hineingeraten sei und unter welch phantastischen Umständen er es verlassen habe. – Freilich, solche Dinge sind schrecklich, Frau Korella gibt es gerne zu; in ihrem Bekanntenkreis hat sich ja auch so manches ereignet, und was hat man ihrem armen Gatten nicht alles angetan! Konradi schüttelt voller Mitgefühl den Kopf. Dann meint er abschließend: »Nun, was mich betrifft, ich habe die Nase voll. Ich bleibe 246 im Ausland; da darf man doch wenigstens den Mund aufmachen.« – »In Ihrem Fall ist das auch etwas ganz anderes: Sie sind jung.« Frau Korella stellt es ohne Bitterkeit fest. »Aber ich – eine alte Frau – wo soll ich denn hin?«

Madame Schwalbe, die ein paar gute Worte zu dem todesbleichen Kikjou gesagt hat, wendet sich wieder an Frau Korella und erkundigt sich, ob die beiden Herrschaften ihr das Vergnügen machen wollen, einen Imbiß in ihrem Lokal zu nehmen. »Es ist sehr bescheiden bei uns«, versichert sie, »kein Luxusrestaurant, das dürfen Sie nicht erwarten. Aber vielleicht interessiert es Sie, den Platz kennenzulernen, wo unser Martin in den letzten Monaten seines Lebens so viele Stunden täglich verbracht hat.« – Ja, das würde Frau Korella natürlich ungemein interessieren: sie bestätigt es mit eifrigen Worten. Übrigens hat sie nun zu weinen aufgehört, das Gespräch mit Walter Konradi scheint sie erfrischt und fast getröstet zu haben: ein sympathischer junger Mann, es geht etwas Vertrauenerweckendes von ihm aus. – Doch, Frau Korella hätte entschieden Lust, noch eine kleine Weile im Kreis von Martins Freunden zu verbringen, und das berühmte Etablissement, die »Schwalbe«, zu besichtigen. Jedoch tritt Herr Korella hinzu und mahnt seine Gattin – wobei er wieder eisig an der Schwalbenwirtin vorbeisieht –: »Wir haben keine Zeit zu verlieren, meine liebe Hedwig. Es gibt noch manches zu erledigen. Der junge Herr Deutsch wird so freundlich sein, uns bei der Durchsicht von Martins Papieren behilflich zu sein.« Frau Korella nickt gehorsam, dabei sieht sie bedauernd Konradi an: Schade, ich wäre gern noch ein bißchen mit Ihnen und den anderen zusammengeblieben. Aber wahrscheinlich hat Korella recht . . .

Herr Korella findet, daß er sogar ganz entschieden recht hat. Nichts könnte ihn dazu bewegen, sich auch noch in dieses Emigrantenlokal zu setzen. Es handelt sich doch um einen verrufenen Platz, und vielleicht wird Herr Korella beobachtet. Abgesehen aber von vorsichtigen Erwägungen solcher Art: Herr Korella spürt, daß er in dieses Milieu überhaupt nicht paßt. Er hat in Deutschland manches durchgemacht, und vieles ist ihm von den Nazis angetan worden – mehr vielleicht, als all den jungen Leuten hier im Kreise, und als dieser Madame Schwalbe, die den Mund so voll nimmt –; aber Herr Korella, ein deutscher Bürger – obwohl die Deutschen ihn als ihresgleichen nicht mehr anerkennen – findet doch eine tiefe Kluft zwischen sich und den Vaterlandslosen. ›Keinesfalls möchte ich zu denen gehören, die im Ausland sitzen und ihre Heimat beschimpfen‹ – so denkt er. ›Denn im Schimpfen auf die Heimat besteht doch wohl die Tätigkeit der Emigranten vor allem.‹ Herr Korella hat für sein Vaterland im großen Weltkrieg gekämpft; es ist ein Jammer und eine bittere Schmach, daß seine Landsleute dies nun ihrerseits vergessen zu haben scheinen. Aber ein Mann von seinem Schlage ist nicht gesonnen, das schlimme Unrecht, das die Deutschen ihm zufügen, nachträglich gleichsam zu rechtfertigen, indem er sich zu den Feinden des 247 Reiches, zu den internationalistischen Hetzern gesellt. – Herr Korella bedankt sich bei Mutter Schwalbe mit einer knappen Neigung des Kopfes für die freundliche Einladung; bietet Frau Korella den Arm, und entfernt sich – würdevoll, von etwas schäbiger Eleganz. David Deutsch folgt dem Elternpaar, mit schiefen, gleichsam um Verzeihung bittenden Verneigungen von Mutter Schwalbe und den Freunden Abschied nehmend. Kikjou, die schönen Augen von undefinierbarer Farbe im weißen Gesicht klagend aufgerissen, bleibt zurück, unter der kräftigen Obhut der Schwalbenwirtin, die ihn an sich zieht wie ein Muttertier sein Junges. Bis zum Schluß der Zeremonie ist er von Herrn Korella auf ungeheuer verletzende Art geschnitten worden. ›Sehr verdächtige Gestalt‹, ist Herrn Korellas Eindruck von dem bleichen Knaben. ›Wirkt kolossal ungesund. Ich bezweifle, ob seine Beziehungen zu meinem Martin sich überhaupt noch im Rahmen des Gesetzmäßigen gehalten haben . . .‹

Nach Herrn Korellas Abgang gibt es ein erleichtertes Aufatmen unter den jungen Leuten. Die alte Schwalbe macht: Uff! – womit sie dem allgemeinen Empfinden Ausdruck verleiht. Man hat es sich – vielleicht aus einer Art von Pietät, die sich auf Martin bezieht; vielleicht aus Mitleid angesichts der Tränen, die Frau Korella so beängstigend reichlich hat fließen lassen – zunächst nicht eingestehen und nicht recht zugeben wollen; aber von Anfang an ist Herr Korella bei Martins Kameraden Gegenstand eines gewissen Mißtrauens und sogar von Antipathie gewesen. Wer jenseits des feurigen Kreises, wer innerhalb der unüberschreitbaren Reichsgrenzen seinen Aufenthalt hat, muß sich vor den Losgelösten, den Emigranten auf eine besondere Art rechtfertigen und beweisen, um sich ihr Vertrauen zu gewinnen oder gar ihre Freundschaft. Die Losgelösten sind argwöhnisch, und wer aus dem Lande kommt, das für sie unbetretbare Gegend ist – die verlorene Landschaft, der zugleich ihr ganzer Haß und ihre ganze Sehnsucht gelten –, der hat sich ihren scheelen Blick, ihr prüfendes, überlegendes Schauen wohl gefallen zu lassen. Zwischen jenen, die sich über die Straßen deutscher Städte noch mit Selbstverständlichkeit bewegen, und zwischen den anderen, denen diese Gassen und Plätze nur in nächtlichen Gesichten mehr erscheinen, die halb Alpträume, halb Wunschträume sind – zwischen den Daheimgebliebenen und den Ausgewanderten springt ein Abgrund auf, wenn sie durch Zufall irgendwo einander begegnen. Es gibt Worte, es gibt vielleicht sogar Blicke und Erkennungszeichen, die geeignet sind, solchen Abgrund zu überbrücken oder ganz zu schließen und die Atmosphäre des Vertrauens zwischen den sich-Entfremdeten herzustellen. Herr Korella hat dieses Wort, diesen Blick, dieses Zeichen nicht gesucht, oder doch nicht gefunden. Der Abgrund blieb, und er vertiefte sich noch durch des Vaters würdevoll-steifen Abgang. Uff! machte Mutter Schwalbe. Dann forderte sie die ganze Gesellschaft auf, im Lokal bei ihr »einen Happen« zu essen.

Friederike Markus, die schon seit geraumer Weile in einen Zustand völliger Geistesabwesenheit versunken schien und, mit zugleich starrem 248 und ruhelosem Blick, seltsam lächelnd ins Leere träumte, wollte sich hastig verabschieden; doch ihr sympathischer Kavalier – sportliche und vertrauenerweckend saloppe Figur im gegürteten hellen Regenmantel – bettelte schulbubenhaft: »Aber Viola! Sei doch nicht langweilig! Es tut dir so gut, einmal unter Leute zu kommen!« Woraufhin das abgestorbene Lächeln der Markus sich zärtlich belebte. »Wenn es dir Freude macht, Gabriel«, sagte sie, und ihr trostlos wandernder Blick blieb liebevoll an seinem hübschen, harten Gesicht hängen. – Frau Schwalbe, die Friederike flüchtig kannte und viel über sie gehört hatte, sagte besonders herzlich: »Das ist recht, daß Sie auch mal mit uns sein wollen, Frau Markus!« Auf ihre resolute Art machte sie sich selber mit Friederikens jungem Begleiter bekannt: »Ich bin Mutter Schwalbe.« Und er, korrekt sowohl als sonnig, ein Hacken-Zusammenschlagen mit eleganter Nachlässigkeit andeutend: »Walter Konradi mein Name.« – »Warum nennt Frau Markus Sie dann Gabriel?« wollte die Schwalbe wissen, die Unklarheiten nicht ausstehen konnte. Statt seiner antwortete Friederike, schwärmerisch und hastig:»Weil er für mich – nur für mich – Gabriel heißt!« – »Aha, ich verstehe«, lachte behaglich die Wirtin. »Und Sie heißen, nur für ihn, Viola.«

Genosse Konradi wurde auch mit den jungen Leuten bekannt; »sonderbar eigentlich, daß man sich noch nie begegnet ist«, bemerkte einer von ihnen. Konradi erzählte, daß er während der letzten Monate in der Schweiz gewesen sei. Übrigens war er allen sympathisch durch sein offenes, frisches und intelligentes Wesen, das, dem Ernst der Stunde entsprechend, gleichzeitig auf eine dezente Art beschattet schien. Nur der Proskauer fiel die erschreckende Härte seiner stahlblauen Augen unter den blonden, dicken Brauen auf. Sie tadelte sich aber selbst wegen des leichten Widerwillens, den sie spürte. ›Das sind unkontrollierte Affekte‹, sagte sie sich. ›Er ist sicher ein anständiger, brauchbarer Mensch.‹

In der Métro, auf der Fahrt vom Friedhof nach Montparnasse, berichtete er von seinen Abenteuern im Konzentrationslager. »Lustig war es auch manchmal!« Dabei hatte er ein trotziges kleines Auflachen, und was folgte, war eine umständliche Anekdote von der humoristischen Sorte, in der heimliches Zigarettenrauchen, die Dummheit eines SA-Führers und die schlauen Einfälle eines »jüdischen Kameraden« die Hauptrolle spielten. Jemand erkundigte sich, wann er denn ins KZ gekommen sei – worauf er munter erwiderte: »Na, doch natürlich schon im Frühling 33, ist ja Ehrensache. Mich haben die Hunde doch besonders auf dem Strich gehabt, wegen meiner Tätigkeit an den Universitäten. Hat denn keiner davon gehört, was ich da alles angestellt habe?« Jemand glaubte sich zu erinnern. Konradi kramte in seiner Brieftasche und holte Papiere hervor, die seine Einlieferung ins Konzentrationslager bestätigten. »Ein offizielles Abgangszeugnis habe ich nicht«, lachte er geheimnisvoll. Er sprach gedämpft und schickte ängstliche Blicke durch den Waggon. »Man weiß doch nie, wer einem gegenübersitzt«, raunte er, wobei er die Stahlaugen mißtrauisch zusammenkniff. »Hier in Paris wimmelt es ja von Spitzeln . . .« 249

Die Patronne des Hotels hatte das Ehepaar Korella und Monsieur David Deutsch selber nach oben geleitet. Es bedeutete einen heftigen und quälend-rührenden Eindruck für David, den Raum wieder zu sehen, in dem er Martin so unzählige Male besucht hatte –: das stattliche Atelier mit dem hübschen Blick aus dem großen Fenster; das komfortable Studio mit breitem Divan und eigenem Bad, das eigentlich immer über Martins Verhältnisse gewesen war und auf dem er so eigensinnig bestanden hatte.

Nun hielt sich Herr Korella über das »luxuriöse Appartement« auf, in dem sein Junge logiert hatte. »Wir sparen in Berlin mit jeder Briefmarke und jedem Trambahnbillett«, sagte der Vater gekränkt, »damit wir dem Jungen was schicken können – und er etabliert sich hier wie ein Millionär!« Dann kam Herr Korella wieder auf die hohen Begräbniskosten zurück, von denen er schon unterwegs ausführlich geredet hatte. Was ihn jedoch am allermeisten kränkte und erregte, das waren gewisse anstößige und mysteriöse Posten auf Martins Hotelrechnung. »Warum hat er denn so oft Löcher in die Bettbezüge gebrannt?« wollte Herr Korella erbittert wissen. »Immer wieder ist etwas für verbrannte Leintücher und Kissen zu bezahlen. Ich kann mir das gar nicht erklären; es sieht geradezu nach böser Absicht aus – als hätte es ihm Vergnügen gemacht, das gute weiße Zeug zu ruinieren –: auf meine Kosten, natürlich!«

Für David war es ein fast körperlicher Schmerz, sich derlei anhören zu müssen. Alles an ihm zuckte; dabei gab er sich die größte Mühe, ein liebenswürdiges Gesicht zu machen. Das Lächeln aber, das er produzierte, ward immer verzerrter. Übrigens hatte er den besten Willen, innerlich nicht ungerecht gegen Martins Vater zu sein. ›Sicherlich gab es für den Alten Grund genug, sich Martins wegen Sorgen zu machen‹, dachte er. ›Martin verhielt sich dem Vater gegenüber oft merkwürdig brutal. »Der Alte ist reicher, als er zugibt; der Alte soll zahlen . . .« ›Vielleicht ist dieser Alte eher noch etwas ärmer, als er es gerne zeigen möchte . . .‹

Inzwischen war Herr Korella in eine Art von nervös-schimpfendem Lamentieren geraten. »Der Junge wußte eben überhaupt nicht, was das bedeutet: Geld!« rief er weinerlich. »Diese ganze sogenannte Emigration war doch nur ein ungeheurer Luxus, und ich mußte ihn zahlen! Der Junge hatte ja immer schon die fixe Idee, daß er nur in Paris leben könne – wie oft mußte ich ihm diese verrückte Bitte abschlagen: ihn nach Paris übersiedeln zu lassen! Nun, und dann kam Hitler, und unser Martin hatte endlich seinen Vorwand, zu behaupten, es sei in Deutschland nicht mehr auszuhalten! Andere haben es auch ausgehalten!« rief der Vater mit bitterer Miene. »Aber unser Martin tat sich ja immer so viel auf seine Sensibilität zugute – diese elegante Empfindsamkeit auf meine Kosten!« Herr Korella hatte sich sehr in Zorn geredet; das Weiße seiner Augäpfel färbte sich rötlich.

Hier war es die verweinte Frau Hedwig, die eingriff. Sie nahm all ihren Mut zusammen, um auszurufen: »Aber Felix! Vergiß doch nicht, wo wir sind! Hast du denn kein fühlendes Herz im Leibe?« 250

Der Alte, halb noch ärgerlich, halb schon beschämt und besänftigt, murrte: »Der Junge mußte ja seinen Willen immer durchsetzen. Du wirst wohl selbst zugeben, liebe Hedwig, daß es besser für ihn gewesen wäre, wenn man ihm diese sogenannte Emigration einfach verboten hätte, wie einen dummen Streich.«

David, der vor qualvoller Verlegenheit völlig schief wurde – die rechte Schulter schien nach oben zu wachsen, während die linke melancholisch herabsank – schlug zitternd vor: »Es scheint mir ratsam, die Durchsicht der Papiere in Angriff zu nehmen.«

Die Schreibtischlade war nicht zugesperrt. Der Vater öffnete sie: Frau Korella griff gierig nach dem Blatt, das zuoberst lag. Aber der Gatte nahm es ihr aus der Hand. »Laß mich, bitte!« bat er streng, wobei er sich schon die Brille aufsetzte. »Ein Gedicht«, stellte er fest, beinah triumphierend, als hätte er überraschend einen kleinen Schatz entdeckt. »Es ist betitelt Sterbestunde«, sagte er, etwas mißbilligend. Dann versuchte er, die Strophen zu deklamieren, die David so gut kannte und so innig liebte.

›Wunderlich‹, dachte David Deutsch, ›sehr sehr wunderlich, daß dieser fremde Herr mit der Brille, dort am Tisch, Martins Vater sein soll. Wie jämmerlich schlecht er die Verse liest – er hat nicht die entfernteste Ahnung, was sie bedeuten. Er hat keine Ahnung . . . Was weiß er von seinem Sohn? Und was wußte Martin von ihm? Er wäre so leicht zu gewinnen gewesen, dieser arme Vater. Aber was lag Martin daran? Er war hochmütig. Wieviel Mißverständnisse! Wieviel Traurigkeiten!‹

Plötzlich ließ Frau Korella einen leisen Schrei hören. Sie hatte auf dem Nachttisch Martins Injektionsspritze entdeckt. Das Instrument sah verwahrlost aus. Das kleine Nickel-Etui blitzte nicht mehr, sondern hatte häßliche grüne Flecken angesetzt. »Was ist das?« fragte Herr Korella mißtrauisch, mit gerunzelter Stirne, während er, die Papiere in der Hand, herbei trat. Aber Frau Hedwig schluchzte nur: »O Gott . . . mein Gott . . .«

Das alte Ehepaar und David Deutsch standen nun dicht neben einander. Ihre betrübten Stirnen berührten sich fast über dem rostigen kleinen Gegenstand, dem ihr lieber Martin so viel Trost und Wonne zu verdanken hatte, auch so viel Qualen, und schließlich, nach allen Entzückungen, allen Martern, den Untergang.

 

Als die kleine Trauergesellschaft – Frau Schwalbe mit ihren Stammgästen, samt Kikjou, Friederike Markus und Walter Konradi – im Lokal eintraf, fand sie dort schon eine andere Gruppe vor: etwa fünf oder sechs Menschen, lauter Deutsche, die sich im Kreis um einen jungen Holländer gruppiert hatten. Sie kannten ihn alle, er hatte ein paar gute Bücher geschrieben; aber seit einigen Monaten schrieb er nicht mehr, sondern kämpfte an der spanischen Front. Vor ein paar Tagen war er im Flugzeug, über Barcelona, in Paris angekommen. Es schien, daß er einen politischen Auftrag hier zu erledigen hatte, den streng geheimzuhalten er verpflichtet war. Gleich am ersten Tage seines kurzen Pariser Aufenthaltes 251 war er hierhergekommen, um Grüße auszurichten von deutschen Freunden, mit denen er dort unten zusammengewesen war. Alle lauschten andächtig, wenn dieser junge Holländer sprach. Um sein Haupt gab es etwas wie eine Gloriole; er würde ja schon morgen oder übermorgen an die Front zurückkehren, wo sich so Großes entschied. Übrigens war der junge Mann, seit etlichen Tagen, streng und juristisch betrachtet, eigentlich gar kein Holländer mehr. Er hatte seine Zugehörigkeit zum Niederländischen Staatsverband verloren; er war »ausgebürgert«: so geschah es, nach dem Gesetze der holländischen Monarchie, jedem, der sich der Armee einer fremden Macht zur Verfügung stellt. Er war ein Vaterlandsloser, ein »Sans-Patrie«, wie auch jene, an die er sich so enthusiastisch wendete.

»Wenn wir da unten siegen!« rief er gerade aus, als die Gesellschaft vom Friedhof das Lokal betrat. »Wenn wir mit der Bande erst fertiggeworden sind – das gibt ein Fest!! Ganz Madrid wird tanzen – was sage ich: ganz Spanien wird in einen Freudentaumel fallen – und die Spanier können sich freuen, die verstehen es!! Da wird es Blumen regnen, und Wein wird in Strömen da sein, und überall Blumen . . . Überall Blumen«, wiederholte er, und schaute vor sich hin, auf das beschmutzte Holz der Tischplatte, mit einem Blick, als sähe er all die Blüten, mit denen die Straßen und Plätze von Madrid sich schmücken würden – »wenn wir da unten gesiegt haben.«

Auf den ersten Blick sah er aus wie ein flämischer Bauernbursche, mit seinem langen, starkknochigen, kräftig gebräunten Gesicht, dessen untere Hälfte von dicken Bartstoppeln bedeckt war und über dem das dichte, dunkle Haar recht verwildert stand. Erst beim genaueren Hinschauen war festzustellen, daß dies Antlitz doch nicht dem eines gewöhnlichen Burschen vom Lande glich; es gab in ihm jene Zeichen und Male, die nur der Geist einem Menschengesicht aufprägt. Die tief eingeschnittenen Furchen, die von den Nasenflügeln zu den Winkeln eines breiten, sinnlichen Mundes laufen, verraten, daß dieser Mann älter ist, als er zunächst erscheint. Auch über die Stirn sind Falten gezogen, die eine lange Geschichte, die große Chronik vieler Abenteuer erzählen möchten.

Sein Enthusiasmus hatte angesteckt: alle lachten, da seine beinah frevlerische Siegesgewißheit den Festesglanz der Stadt Madrid beschwor. Die Gesichter wurden aber ernst beim Eintritt der Schwalbenmutter und der jungen Leute. Man wußte, von welchem Ort und welch melancholischer Veranstaltung sie kamen. Es gab herzliches Händeschütteln; bewegte Blicke wurden getauscht. Mutter Schwalbe machte den jungen Holländer mit Kikjou, der Markus und Walter Konradi bekannt. Dann band sie sich eine große weiße Schürze um und verschwand in der Küche. Sie wollte etwas Anständiges kochen – wie sie vielversprechend versicherte. »Und heute soll es nichts kosten!« – Sie hatte schon wieder die unvermeidliche Zigarre zwischen den Zähnen. Mutter Schwalbe kochte meistens mit der Zigarre im Mund.

Der junge Holländer – in dessen sehr lebhaftem und geschwind 252 vorgetragenem Deutsch der niederländische Akzent kaum spürbar war – erzählte schon wieder von Spanien. Sein Publikum hatte sich vergrößert; die Gruppe, die gerade vom Friedhof kam, lauschte ihm mit derselben gespannten Anteilnahme wie die anderen, die schon vorher im Lokal gewesen waren. »Es gibt ja so viel Wunderbares von da unten zu berichten!« Der Bursche, in seiner rauhen Lederjacke, hatte Haltung und Mimik des Seefahrers, der, aus weit entfernten Ländern zurückkommend, den Daheimgebliebenen, die Mund und Augen aufsperren, von den wilden, schönen Abenteuern meldet, die hinter ihm liegen. – »Ich habe so viel echtes Heldentum gesehen, bei den spanischen Kameraden und bei denen von den Internationalen Brigaden! Ich bin Zeuge von so viel rührenden, einfachen und großen Taten gewesen, daß ich jetzt nie mehr ganz am Menschen verzweifeln kann, was auch immer geschehe. – Was auch immer geschehe!« wiederholte der junge Holländer, wobei er mit der Faust beinah zornig auf den Tisch schlug – und es leuchteten ihm die Augen. – »Da war zum Beispiel dieser Bursche aus Valencia – achtzehn Jahre war er alt, fast noch ein Kind –, der in der Ciudad Universitaria einen verwundeten französischen Kameraden aus dem dichtesten Feuer holte. Er wurde selber ziemlich arg dabei zugerichtet, und als er, den halbtoten Franzosen in den Armen, keuchend auf dem Verbandplatz ankam, brach er zusammen. Ein paar Leute eilten ihm zu Hilfe – und ich sehe noch, wie der Junge lächelte, als er hervorbrachte: ›Blessure, nada. Frère français sauve.‹«

Der junge Holländer schaute sich strahlend im Kreise um. Alle schienen gerührt und begeistert. Nur das »Meisje« – die schöne Blonde mit dem Gesicht eines militanten Erzengels – schüttelte ein wenig den Kopf, während sie leise, mehr zu sich selber als zu den anderen, sagte: »Es kommt mir oft sonderbar vor . . . Ich erinnere mich doch noch ganz genau, wie bei uns zu Hause ähnliche Geschichten erzählt worden sind, während des Weltkrieges. Mein Vater und alle Erwachsenen fanden sie wunderbar, und auch wir sollten begeistert sein. Aber wir lernten diese Geschichten hassen, als wir anfingen, selbständig denken zu können. Denn wir lernten den Krieg hassen. Revolutionär wurden wir gerade aus Abscheu vorm Krieg . . .« Die Blonde verstummte nachdenklich.

»Aus Abscheu vorm imperialistischen Krieg!« rief ihr jemand vom anderen Ende des Tisches zu. »Diesmal handelt es sich um den großen Befreiungskampf, um die heroische Abwehr des faschistischen Überfalls . . .«

»Das weiß ich doch selber«, sagte das Meisje, deren schönes, sinnend in die Hand gestütztes Gesicht plötzlich müde aussah. »Du brauchst hier nicht zu reden wie in einem Massenmeeting . . . Aber sonderbar ist es doch«, schloß sie, nach einer Pause, mit sanfter Hartnäckigkeit. »Unter neuen Voraussetzungen müssen wir plötzlich alles herrlich finden, was wir damals, 1917 und 1918 grauenhaft gefunden haben . . .«

Der junge Holländer – der die Betrachtung des Mädchens gar nicht gehört hatte oder nicht hatte hören wollen – war schon bei neuen heroischen Anekdoten. »Aller Enthusiasmus ist auf unserer Seite«, erklärte er. »Die 253 besseren Menschen sind auf unserer Seite. Wenn diese Rebellen nicht von Deutschland und Italien offen gestützt würden, wären sie längst schon fertig. Und wir werden sie fertigmachen, trotz all den Flugzeugen und Bomben und all dem vielen Geld, das sie bekommen.«

Man sprach weiter über die Sieges-Chancen. Die meisten in der Runde äußerten sich optimistisch. Einige ließen auch Befürchtungen hören. Plötzlich sagte die Proskauer, mit ihrer sonor murmelnden Stimme: »Und Martin soll also nicht mehr erfahren, wie dieser große Kampf ausgehen wird . . . Es ist so schwer, sich daran zu gewöhnen . . .«

Alle schwiegen. Kikjou, der stumm und ein wenig zitternd, als friere er, in eine Ecke gekauert saß, legte die kindlichen, mageren Hände vor sein weißes Gesicht. Walter Konradi räusperte sich respektvoll, als wollte er ausdrücken: Ein Gesinnungsgenosse, viel zu früh verschieden, hier im Kreise allgemein beliebt gewesen, gewiß sehr traurig, sehr bedauerlich, drücke werten Hinterbliebenen meine Teilnahme aus . . .

In diesem Augenblick brachte Mutter Schwalbe das Essen. »Sprecht ihr schon wieder von Deutschland?« fragte sie, und präsentierte die große Platte mit den Koteletts und den grünen Bohnen. Sie lächelte nachsichtig, als hätte sie ihre Kinder bei einer harmlosen Marotte, einem oft verwehrten, wenngleich keineswegs bösartigen oder gefährlichen Unfug ertappt. Dabei gab es keinen Gegenstand, über den die brave Frau ihrerseits derartig viel zu reden und zu klagen, zu grübeln und zu lamentieren, zu jubeln und zu schelten wußte, wie über diesen. »Wir haben über Spanien geredet«, versetzte jemand am Tisch. »Aber das hat auch mit Deutschland zu tun.«

Sie aßen, die meisten von ihnen mit einem heftigen Appetit; nur Kikjou rührte nichts an, und Frau Markus verschlang zwar mit nervöser Gier ein paar Bissen, schob dann aber den Teller von sich, wobei sie angewidert den Mund verzog. Sie aßen, und während sie Kartoffeln, Gemüse und gebratenes Fleisch zum Munde führten – längst nicht täglich gab es solchen Schmaus, und dieser war obendrein gratis –, während sie sich also genußvoll sättigten, kreisten ihre Reden um die Heimat. Alle durcheinander äußerten sie ihre Hoffnungen und Befürchtungen, ihre Gefühle, Berechnungen und Forderungen, die Gegenwart wie die Zukunft betreffend. Jeder hatte etwas Besonderes beizusteuern zu dem ewig erregenden, höchst komplexen Thema. Dem einen waren gerade gestern sehr bedeutsame Mitteilungen über die Stimmung bei den Industriearbeitern im Ruhrgebiet zugekommen; der andere hatte die Cousine eines Diplomaten getroffen, der seinerseits den französischen Botschafter in Berlin kannte und diesen eingeweihten Herrn unlängst ausführlich gesprochen hatte. »Eines steht fest«, wurde behauptet, »die Unzufriedenheit nimmt überall zu, besonders bei den Arbeitern, auf die es schließlich ankommt.« – »Beinah Hungersnot, mitten im Frieden!« ließ ein anderer sich hören. »Auf die Dauer kann keine Regierung das aushalten.« Und ein Dritter: »Die ganze Schweinerei ist innerlich morsch, unterhöhlt, reif zum Sturz – da kann keine 254 Frage sein. Aber niemand weiß, was nachfolgen soll. Den Nazis ist es gelungen, den Deutschen und der ganzen Welt einzureden, daß nach Hitler ›das Chaos‹ hereinbrechen wird.« Bei dem Wort »Chaos« wurde allgemein gelacht. Nur Friederike und Kikjou, eingesponnen in eigene und andere Gedanken, waren es, die ernstblieben. Die Schwalben-Mutter, die sich zu ihren Gästen gesetzt hatte, rief – nun schon ganz bei der Sache, enthusiasmiert wie je –: »Freilich, das Entscheidende ist: daß die aktive Opposition es ganz genau weiß und unzweideutig formuliert – was nachher kommen soll.«

Der junge Holländer, der aß, wie ein Knecht nach der Arbeit eines langen Tages zu Abend ißt, nickte leidenschaftlich. Alle bewegten mit ihm die Köpfe. Sogar Friederike und der kleine Kikjou schienen plötzlich beteiligt. Kikjou ließ die vielfarbigen Augen gleichsam flehend von einem zum anderen wandern, als erbäte er Auskunft: Sagt es mir, was nachher kommen soll!

Hier war es, das große Problem, die dringlichste Frage, mit der ihre Gedanken und ihr Herz so tief beschäftigt waren. Was soll kommen, nach dem Sturz des verhaßten Regimes? Wie wollen wir Deutschland?

Da saßen sie, in ihrem etwas schmutzigen kleinen Lokal; mitten in dieser großen, mit allen Reizen reich begnadeten Stadt – und doch weiter von Paris entfernt als vom Monde. Denn für sie war Paris versunken, ins Nichts gestürzt, samt seinen Avenuen und Quais, den Boulevards, Brunnen, Kirchen und Palästen. Was ging all diese Schönheit sie an? Sie wußten beinah nichts von den fremden Lieblichkeiten. Sie saßen in ihrer Kneipe, nahe der Gare de Montparnasse, dem Café du Dôme; nicht weit entfernt vom Jardin du Luxembourg, dem Panthéon, dem Dôme des Invalides –: unbeteiligt am belebten Treiben auf diesen Bahnhöfen, diesen Straßen, und übrigens ziemlich unwissend in der Historie dieser Baulichkeiten, in denen Frankreichs Ruhm sich versammelt. Um sie hätten auch die Wolkenkratzer von New York sich in den Himmel heben oder eine südliche Landschaft sich freundlich breiten können: diese Menschen würden immer die gleichen Gedanken im Kopfe haben und immer denselben faszinierten verzauberten Blick auf die Eine Frage, das Eine Thema:

Wie wollen wir Deutschland?

Und wie erreichen wir, daß es so wird, wie wir es wollen?

»O Deutschland, bleiche Mutter . . .«, hatte einer ihrer Dichter geklagt.

O Deutschland, bleiche Mutter . . .

Alle hier im Kreise wollen die große Veränderung der sozialen Struktur, der Besitzverhältnisse – da gibt es kaum eine Meinungsverschiedenheit. Aufteilung des Großgrundbesitzes, Sozialisierung der Schwerindustrie – es muß kommen, so rufen sie sich zu, es kann nicht ausbleiben, da es notwendig ist. Übrigens wird mit einem bösen und ironischen Triumph festgestellt, daß die Nazis selber, durch die kriegswirtschaftliche Staatskontrolle der Produktion, den Sozialismus, gegen ihren eigenen Willen, vorbereiten. »Wenn wir heimkehren«, erklärt einer von ihnen, »werden wir manches 255 schon fast in unserem Sinne eingerichtet finden. Man wird nur gleichsam die Vorzeichen umkehren müssen, damit die Sache stimmt und ins richtige Geleise kommt.«

Es wird Gewalt nötig sein, da ist gar keine Frage. Die jetzt so schamlos herrschende Schicht tritt keineswegs freiwillig ab; man darf Blutvergießen nicht scheuen. »Ihr werdet ein paar Dutzend an die Wand stellen müssen!« Der junge Holländer ruft es aus, es klingt wie ein Kriegsschrei. »Oder ein paar Hundert!« korrigiert ihn ein anderer. »Ich könnte dir leicht ein paar Hundert aufzählen, die weg müssen.« Sanft wird es keinesfalls zugehen können, wenn die Schuldbeladenen zur Hölle geschickt werden – wo sie hingehören. Keiner in diesem Kreise verlangt oder hofft, daß man Sanftheit walten lasse.

Und wenn die großen Mörder erst abgetreten und weggefegt sind – die regierenden Kriminellen, die man heute so machtlos haßt: wird dann die ›Freiheit‹ zu etablieren sein, oder eine neue Diktatur – die Diktatur der revolutionären Sieger? Ein junger Mensch, der den Kommunisten immer fernegestanden hat, aber heute für die politische Zusammenarbeit mit ihnen ist, fragt einen anderen, der seinerseits seit Jahren zur »Partei« gehört: »Ihr erklärt jetzt, daß es die Demokratie ist, für die ihr kämpft. Wollt ihr sie wirklich? In Manifesten setzt ihr euch ein für die Pressefreiheit. Werdet ihr sie dulden?« Statt des jungen Kommunisten, der noch bedenkt, was er zu antworten hat, rief das Meisje: »Werden wir sie ganz dulden können? Soll der neue Staat sich wieder begeifern und beschimpfen lassen, wie die Weimarer Republik höchst unseliger Weise dies geduldet hat? Unsere neue, echte Demokratie muß vor allem eine Eigenschaft haben, die der vorigen, falschen fehlte: Selbsterhaltungstrieb. Ihren geschworenen Feinden muß sie zeigen und beweisen, daß sie ausgespielt haben. Es wird in Deutschland immer geschworene Feinde der Demokratie geben.«

Der Erste: »Eine Demokratie, die irgend jemandem das Wort verbietet, ihn in seiner Meinungs- und Rede-Freiheit beschränkt, verdient den Namen nicht mehr, den sie sich selber gibt.«

Und das Mädchen: »Eine autoritative Demokratie muß möglich sein. Die Demokratie, die nicht mehr mit sich spaßen läßt, bedeutet noch nicht den ›totalen Staat‹, noch nicht die Diktatur.«

Andere vertreten mit Emphase die Meinung: Für eine Periode des Übergangs sei die Diktatur unvermeidlich. Die reaktionären, selbstsüchtigen, dem sozialen Fortschritt feindlich gesinnten Kräfte würden jede Freiheit ausnutzen, mißbrauchen in ihrem Interesse – was bedeutet: zum Schaden der Allgemeinheit.

Es ist der junge Kommunist, der erklärt: »Das deutsche Volk wird selber zu entscheiden haben über die Regierungsform, die es sich geben will, wenn die Tyrannen endlich abgetreten sind. Es ist nicht anzunehmen, daß dann noch viel Sympathien und Stimmen da sein werden für die Mächte, Gruppen und Personen, die jetzt das Land zur Katastrophe treiben. Wir müssen darauf vertrauen, daß die Deutschen, nach den fürchterlichen 256 Erfahrungen, durch die sie jetzt gehen, mehr politischen Instinkt haben werden als 1918 . . . Wir brauchen und wollen die Demokratie – und sei es nur als ein Übergangsstadium. Unter Demokratie verstehen wir aber: die Zusammenarbeit aller antifaschistischen Kräfte. Die überwiegende Mehrheit der Deutschen muß antifaschistisch sein, wenn unser Tag da ist.« –

Großes, wirres, tief erregtes Gespräch. Die Begriffe fliegen durcheinander, sie kreuzen sich in der Luft, die mit dem Zigarettenrauch und dem Geruch der Mahlzeit gesättigt ist. Der Wert der Freiheit wird diskutiert, und die Planwirtschaft; der Begriff der Nation, der Klassenkampf, die Stellung der Kirche. Wird ein Krieg nötig sein, damit das Regime stürze? Und wie werden die verschiedenen Mächte sich verhalten im Falle des Krieges? Was erwartet man von den Vereinigten Staaten? Was geht in London vor? Und was wird aus Österreich? . . .

Die Mienen röten sich, auf den Tisch schlagen Fäuste. – Wie wollen wir Deutschland? . . .

Fragen ohne Ende; prinzipielle Probleme oder solche der Taktik – und an jedem scheint das ganze Schicksal dieses Dutzends von Menschen zu hängen. Übrigens ereifern sie sich, aber sie streiten nicht eigentlich. Einmal läßt jemand einen bösen, gereizten Ton hören: »Was du da zum besten gibst, ist kleinbürgerlicher Idealismus, jeder marxistisch geschulte Arbeiter lacht dir ins Gesicht, wenn du ihm mit sowas kommst . . .« Aber ein anderer mischt sich versöhnlich ein: »Zankt euch nicht, haltet Frieden! Hat es denn Sinn, jetzt über Probleme, die noch nicht aktuell sind, aneinander zu geraten? Erst müssen wir siegen!« Es ist der junge Walter Konradi, der so vorzüglichen Ratschlag erteilt. Alle schauen ihn an: Freilich, der Mann hat recht. Nur hat leider seine Stimme etwas ölig geklungen. Auch der scheinheilig sanfte und kluge Ausdruck seiner Miene wirkt plötzlich auf alle unangenehm. Man will sich aber den fatalen Eindruck nicht zugeben und versucht, möglichst schnell darüber hinwegzukommen.

Jemand erkundigt sich: »Wo ist denn der kleine Kikjou?« Während der Debatte über die Einheitsfront und den Begriff der Freiheit ist er weggegangen – so leise, daß niemand es gemerkt hat, außer Friederike Markus. Diese berichtet es nun, mit ihrer schrillen und geborstenen Stimme, die den Klang einer schwer lädierten alten Türglocke hat.

 

Kikjou irrte durch die Straßen, stundenlang. Alle Wege wollte er wieder gehen, die er mit Martin je gegangen war. Boulevard Montparnasse, Jardin du Luxembourg, Boulevard St. Germain, Boulevard St. Michel, und die Seine entlang, und über die Place de la Concorde, und die Grands Boulevards hinunter, und zurück, und wieder über die Place de la Concorde, und die große Strecke der Champs Élysées: da war er schon am Zusammenbrechen. Nun mußte er eigentlich noch nach Montmartre. Aber das schaffte er nicht mehr. Und würde er denn Martin auf dem Boulevard Clichy, auf der Place Blanche begegnen, da er ihn an all den anderen Orten vergeblich gesucht hatte? Il n'est nul part . . . il n'est nul part . . . 257

Am Arc de Triomphe nahm sich Kikjou ein Taxi. Er wollte in dem Hotel übernachten, wo er mit Martin so viele Monate logiert hatte – so viele strahlende, finstere, unendlich bittere, unsagbar schöne Wochen lang . . .

Er mußte weinen, als er die rue Jacob wieder sah –: enge, dunkle rue Jacob. Und da war die kleine »Bar Tabac«, wo man die teuren Camel-Zigaretten gekauft, und, zu unpassenden Tageszeiten, den Apéritif genommen hatte. Es ist ein Uhr morgens. Kikjou ist so müde, daß er sich kaum aufrechthalten kann. Ihm schwindelt, und die Fußsohlen brennen ihm. Er hat geklingelt und wartet darauf, daß die Haustüre aufspringt. – ›Wie oft bin ich neben Martin durch diese Türe gegangen . . . Il n'est nul part . . .

Die Patronne öffnet; sie scheint erstaunt, Monsieur Kikjou zu sehen. Gewiß, ein Zimmer ist frei, ob Monsieur kein Gepäck habe? Nein, Monsieur hat überhaupt nichts, keine Zahnbürste, kein Hemd, kein Stück Seife; er hat vergessen, wo er seinen Handkoffer gelassen hat, vielleicht auf dem Bahnhof. – Die Eltern des armen Monsieur Korella sind auch im Hotel, weiß die Patronne zu berichten. Ja, sie haben die Hotelrechnung für den armen jungen Herrn bezahlt –: sehr liebenswürdige und korrekte Herrschaften! Und nach der Beerdigung, bis spät in die Nacht hinein, haben sie die Sachen und Papiere des Verblichenen aufgeräumt. Quelle histoire! Wer hätte das gedacht! Monsieur Martin war doch noch so jung! – Ob Monsieur Kikjou auf der Beerdigung war? Sie, die Patronne, hatte die feste Absicht gehabt, hinzugehen, schon um den Eltern, die sich so korrekt in finanziellen Dingen benahmen, ihren Respekt zu beweisen. Aber dieses Wetter! – und sie war erkältet; gerade auf Beerdigungen konnte man sich so leicht den Tod holen.

Kikjou nickte gequält. Danke, er hatte nun keine Wünsche mehr. Es war ziemlich kalt im Zimmer, aber das ließ sich nicht ändern. Er überlegte, ob er den Versuch machen sollte, Martins Eltern noch ein paar Minuten zu sehen und sich von ihnen zu verabschieden. Aber wahrscheinlich schliefen die schon. Übrigens erinnerte er sich auch der eisigen Blicke, mit denen Herr Korella an ihm vorbeigesehen hatte.

Er sank angezogen aufs Bett. Ob Martins Eltern im Zimmer ihres Sohnes wohnten –: ›In unserem Atelier . . . Ich will jedenfalls morgen früh gleich hinaufgehen‹, beschloß er. ›Wahrscheinlich sind auch noch irgendwelche Sachen von mir dort . . .‹

Kikjou dachte an die Gespräche von Martins Freunden in der »Schwalbe«.

Wie heftig sie sich bemühten, all diese Menschen, von denen einige Kikjou nie besonders sympathisch gewesen waren! Wenn man von außen, als ein Fremder, Unbeteiligter, in ihren Kreis trat, wirkte der ungeheure Ernst, die Aufgeregtheit, mit der sie ihre theoretischen Gespräche führten, fast etwas komisch. – ›Nein, nicht komisch‹ – Kikjou nahm innerlich diesen lieblosen Ausdruck gleich zurück –, ›aber rührend wirkt ihr gespannter Eifer. Sie streiten sich darüber, welches Maß von Freiheit der Opposition zu gewähren sein wird, wenn »der Tag« erst da ist –; welcher 258 Tag? Nun, der Tag des Umsturzes, auf den sie warten; der Tag der großen Veränderung . . .‹

An den hat auch Martin geglaubt, von ganzem Herzen. Aber er war zu müde, zu hochmütig und zu traurig, um ihn abzuwarten. Er hatte es eilig, sich davonzumachen . . .

Für die anderen aber, für die, welche geduldig genug sind, auszuharren, und wohl auch zu kämpfen –: wird es wirklich ein so großartiger Tag sein, wenn er dann schließlich kommt? Wird er dann einen so schönen Trost, eine so herrliche Erlösung bringen?

Für den Augenblick scheinen diese Menschen gründlich ausgespielt zu haben; wie nach einem verlorenen Kampf liegen sie auf der Erde. Hilfe für sie scheint es jetzt nicht zu geben; von der Welt bekommen sie keine, und die Hilfe des Höchsten nehmen sie nicht in Anspruch. Sie beten nicht. Sie behaupten, nicht an Gott zu glauben . . . Wie schwer es sein muß, nicht an Gott zu glauben! Sein Dasein ist evident. Es zeugt die ganze Schöpfung für Seine gewaltige Existenz . . . Vielleicht ist Gott aber bei ihnen, obwohl sie sich darin gefallen, ihn zu leugnen. Man weiß ja nie, wem Er gerade den Blick Seiner Gunst oder Seines Zornes zuwendet . . .

Sie erkundigen sich wohl spöttisch bei mir, wie mein lieber Gott eigentlich aussehe; ob er einen langen weißen Bart habe. Dann sitze ich da als der Dumme. Natürlich hat er keinen langen weißen Bart. Er ist ja furchtbar schwer zu beschreiben. Es ist schon heikel genug, jemandem eine unbekannte Person zu schildern und halbwegs anschaulich zu machen. Meistens kommt etwas total Falsches dabei heraus, wenn man das unternimmt. Jede Individualität ist tausendfach zusammengesetzt, ihr eigentliches Wesen ist mit Worten kaum anzudeuten. Und nun erst der liebe Gott! Er hat so ungeheuer viele Eigenschaften! Er hat unendlich zahlreiche Charakterzüge: alle Adjektive, alle beschreibenden Worte aller Idiome passen auf ihn. Denn er ist beladen mit allen Tugenden und Lastern, Schönheiten und Monstrositäten, allen reizenden, fürchterlichen, komischen und erhabenen Zügen, die wir uns irgend ausdenken können. Und wenn wir uns alle ausgedacht und zusammengestellt haben, dann ist es uns immer noch nicht gelungen, den ersten Schleier von den unendlich vielen Verhüllungen zu lüften, hinter denen Er Sein Angesicht verbirgt. Aber das mit den Schleiern ist natürlich auch wieder eine façon-de-parler und ein sprachlicher Notbehelf; denn Sein Gesicht ist nicht nur das verhüllteste, sondern auch das nackteste – und Er ist nicht nur der Geheimnisvollste, sondern auch der Klarste, Einfachste. Seine Existenz ist nicht nur das Mysterium aller Mysterien; es ist auch das Selbstverständlichste vom Selbstverständlichen. – Wie Gott ist? Was Gott ist? Wo Gott ist? Kindische Fragerei! Gott ist – da gibt es nichts zu beweisen oder zu untersuchen. Er ist der Ausgangspunkt und das Ziel; das Vergangene, das Gegenwärtige und das Zukünftige. Alles, was wir tun oder lassen, tun oder lassen wir nach Seinem Plan. Auch die, die Ihn leugnen, streben auf Ihn zu. Andererseits gibt es viele, die Seinen Namen oft im Munde führen und Ihm doch ein Ärgernis 259 sind. Es ist ja erstaunlich, daß überhaupt Dinge in der Schöpfung vorkommen dürfen, die Ihm zum Ärgernis werden, da Er doch mit Seiner Schöpfung identisch ist, oder die Schöpfung einen Teil Seines Wesens ausmacht. Aber dies ist, höchst rätselhafter Weise, eben doch möglich. Vielleicht haben wir es uns ungefähr so vorzustellen, daß Er, in solchen Fällen, Anstoß an eigenen Charakterzügen nimmt. Eine so enorm vielfältige und komplexe Individualität wie Gott hat natürlich auch grausame, selbstsüchtige, tückische und selbst ordinäre Züge – die er in sich bekämpft . . .

Die ganze Frage, wie das Böse in die Schöpfung, und besonders in den Menschen kommt, obwohl Gott doch sicherlich in Seiner eigenen Schöpfung steckt – diese Frage könnte uns ungeheuer weit führen. Keinesfalls dürfte es von Gott so gemeint sein, daß wir uns durch diese Frage ablenken sollten lassen von einem sehr notwendigen Kampf gegen das Böse.

Da haben wir das Wort: ablenken. Wir sollen uns durch Gott nicht ablenken lassen. Deshalb sind die »Schwalben«-Leute – und nicht nur die – so ungeheuer gegen Gott eingenommen, wollen nichts von Ihm hören, und blinzeln sich höhnisch zu, wenn ich Seiner Erwähnung tue: – weil sie alles, was mit Ihm zusammenhängt, für ein kolossales Ablenkungsmanöver halten – für eine Art von Trick der herrschenden Klasse, des ausbeuterischen Kapitalismus: »Religion – das Opium fürs Volk«. Ach, meine alte Streitigkeit mit Marcel – und Martin saß dabei, als ginge es ihn schon nichts mehr an . . .

Gott – ein Ablenkungsmanöver der Bourgeoisie. Wie dumm und peinlich das klingt! Wie falsch das ist! – Aber ist es nur falsch?‹ –

Ich begreife immer besser den Sinn von Marcels Warnungen und von den spöttischen Blicken der »Schwalben«-Leute.

Die heilige und lebendige Wahrheit, die Gotteswahrheit, kann mißbraucht werden. Sie ist mißbraucht worden. Eine Klasse, der nur an ihrem Geld und an der politischen Macht liegt – sicherlich nicht an Gott –, bediente sich des Heiligsten Namens, um die Armen abzulenken von ihrem Zorn – dessen Ausbruch der Untergang dieser Privilegierten wäre. Vielleicht will aber Gott diesen Untergang.

Ich habe mich selber ablenken lassen.

Verzeih mir, lieber Gott, ich habe zuviel an Dich gedacht.

Ich habe mich mit Dir mehr beschäftigt, als es in Deinem Interesse liegt: nämlich im Interesse Deiner Schöpfung, in der das Böse wuchert.

Ich habe Deinen Namen zu viel im Munde geführt. Es steht aber geschrieben, daß wir ihn nicht mißbrauchen sollen. Verzeih mir. Während ich mich am schönen Klang Deines Namens berauschte, habe ich ein dummes, weichliches und verfehltes Leben geführt.

Es wird heute viel Unfug mit Deines Namens Majestät getrieben. Mir wird ganz heiß vor Zorn, wenn ich daran denke. Vielleicht ist es wirklich schon so weit gekommen, daß man Dich vor Deinen eigenen Priestern schützen muß – oder doch vor einigen von ihnen. – Kümmert es Dich viel, ob Dich die Menschen anerkennen? Du bist der Herrscher, der gerne 260 auf Bezeugungen der Unterwürfigkeit verzichtet, wenn nur gehandelt wird im Sinn Deines Willens. Wenn nur gehandelt wird . . .

Ich will handeln.

So ehre ich auch am besten Martins Andenken. Er ist zu früh müde gewesen – auch dieses hast Du gewollt und so eingerichtet. Du hast ihn aus unserer Mitte entführt, wie der Zeus den Ganymed –: mit furchtbaren und strahlenden Händen hast Du ihn zu Dir emporgerissen.

›Lieber Gott‹, dachte der Liegende, dem nun endlich die Augen zufielen – denn seine Gedanken waren am Ziel –, ›lieber, rätselhafter, schrecklicher Gott: ich will mich ungeheuer zusammennehmen, auf daß ich nicht ermatte und möglichst stark werde.

Habe ich Deinen Willen erraten? – Ach nein, wohl immer noch nicht. Wer kannte je Deinen Willen? . . . Ich erinnere mich eines frommen Wortes: »Wenn man durch Vernunft es fassen könnte, wie der Gott gnädig und gerecht sein könne, der so viel Zorn und Bosheit zeigt, wozu brauchte man dann den Glauben?«

Wahrlich, ich glaube an Dich.

Bitte, laß mich jetzt schlafen!‹

 

Walter Konradi war ein aktiver Antifaschist. Er stand in lebhafter Beziehung zu den Illegalen im Reiche und zu verschiedenen Zirkeln der politischen Emigration. Durch seine Freundschaft mit der armen Friederike Markus, genannt Frau Viola, war er nun mit dem Kreis der Schwalbe in Kontakt gekommen; besonders schloß er sich an Dora Proskauer an. Als er sich mit ihr verabredete, sprach er so leise, daß Frau Viola es nicht hören konnte. Er lud die Proskauer in ein Kino ein; spazierte auch mit ihr durch den Bois de Boulogne. Sie war erst etwas erschrocken, weil er ihr so intensiv den Hof machte. Schließlich glaubte sie ihm, daß er sie reizend fand. »Sie sind schön, Dora – schön von innen heraus . . .« flüsterte er ihr in den schrägen Nacken. Dergleichen hatte sie noch selten zu hören bekommen; umso angenehmer klang es ihr nun. Er war ein perfekter Don Juan –: seine Stimme, kräftig sowohl wie einschmeichelnd; seine Hände, wohl geübt in allen Zärtlichkeiten. Sie ließ sich küssen; er bog, leidenschaftlich aber gewandt, ihren Kopf nach hinten: – »Du bist wundervoll – von innen heraus . . .«, hauchte er ihr zu –; seine Lippen glitten über ihre große, gebogene Nase. Er fragte sie: »Darf ich zu dir kommen – heut nacht?« Sie nickte selig. Er kam. Es fiel ihr auf, daß er nach Cognac roch – er hatte sich Mut angetrunken –; sie vergaß es. Er liebte sie, es gab keinen Zweifel. Sie war nie geliebt worden. Sie hatte nie geglaubt, daß sie begehrenswert sei. Es war köstlich, in seinen Armen zu liegen. Er erzählte ihr aus dem Konzentrationslager. »Mein Süßer – was mußt du gelitten haben!« Und er gestand ihr: »Wie oft habe ich mich damals nach einer Frau, wie du es bist, gesehnt.« Sie war glücklich; er schien es auch zu sein. Ehe sie sich am Morgen trennten, erfuhr sie: er mußte nach Deutschland, 261 »in geheimer Mission«. – »Aber das ist gefährlich!« Dora war entsetzt. Er versicherte: »Ich komme schon heil zurück.«

Ein paar Tage später war er wieder da; ein dicker Haufen illegaler Anti-Nazi-Literatur – in Deutschland gedruckte Flugblätter und Broschüren – bewies, daß er nicht untätig gewesen war und die richtigen Leute gesehen hatte. Er gab sich wieder ziemlich viel mit der Proskauer ab, schlief auch noch einmal mit ihr, und ließ sich von ihr Details über ihre Arbeit für das Jüdische Hilfscomité erzählen. Sie berichtete gerne, weil er beeindruckt schien. Eigentlich war sie diskret; ihm aber vertraute sie, er hatte sie ganz gewonnen. »Es ist eine wunderbare Arbeit«, versicherte sie. »Ich bekomme Einblick in so viel menschliches Schicksal. Auch in Deutschland haben wir Freunde. Sie liefern uns Material über die Greuel der Judenverfolgungen, das wir in die französische Presse bringen.« Grade für diesen Punkt schien er sich besonders zu interessieren. Er küßte sie innig, gleichsam als Belohnung für ihre lobenswerte Gesprächigkeit. – Sie bekam ein weiches, dankbares Lächeln, als er ihr sagte: »Du bist eine herrliche Frau! Was du alles leistest! – Und doch – ich habe mir's überlegt: es ist schade, daß du deine Kräfte ganz für diese humanitäre Organisation verwendest. Es gibt andres zu tun . . .« Sie fragte gierig: »Was meinst du? Was hast du im Sinn?« – »Ach, laß nur!« Er winkte ab. Endlich aber rückte er heraus: Dora sollte jetzt nach Deutschland fahren. »Ich kann es nicht mehr riskieren«, bedauerte er. »Schon diesmal bin ich verdammt aufgefallen; beinah wäre es mir an den Kragen gegangen.« Sie erschauerte bei der Idee. – »Dich kennt doch niemand«, meinte Walter Konradi. »Aber andererseits – gefährlich bleibt es natürlich immer. Ich weiß doch nicht, ob man dir so viel zumuten darf. Mindestens müßte ich erst mal mit meinen Genossen Rücksprache nehmen. Du hast nicht viel politische Erfahrung – wenngleich euer Comité nicht ohne politischen Charakter ist –, und es handelt sich um enorm wichtige Dinge.« Sie zeigte sich etwas gekränkt. »Natürlich – wenn du mir nicht vertraust . . .« – »Ich kenne dich ja . . .« Er legte ihr den Arm um die Schulter. »Aber die Kameraden . . .« – »Was für Leute sind das?« wollte sie wissen – woraufhin er etwas verächtlich grinste: »Gute Leute – das kannst du mir glauben, mein Kind!« – Sie drang weiter in ihn; aber er blieb wortkarg; nahm ihr nur das Versprechen ab, mit keinem Menschen über seinen Vorschlag zu reden.

Am nächsten Abend fing er wieder davon an. Es sei ihm gelungen, die »Kameraden« von Doras Zuverlässigkeit und Tapferkeit zu überzeugen. Es handle sich um eine kurze Reise nach Köln: »eigentlich nur um ein einziges Gespräch mit einer bestimmten Person«, gab er ihr zu verstehen. »Es ist der Mann, der die illegale Arbeit im Rheinland leitet. Die Instruktionen für ihn müßtest du dir merken; Schriftliches bekommst du nicht mit.«

Dora war, alles in allem, von der Idee entzückt. Es lockte sie, sich vor Walter tapfer zu bewähren und ihr Leben aufs Spiel zu setzen für eine Sache, die ihm so wichtig schien. Übrigens empfand sie selber mit 262 Begeisterung Ernst und Pathos eines solchen Unternehmens. Wie fast alle Menschen ihrer Generation war sie im Innersten besessen vom Bedürfnis nach dem Heroischen; von dem Drang, sich zu opfern. Die Arbeit im Jüdischen Comité genügte ihr längst nicht mehr. Sie wollte mehr leisten, mehr wagen –: das Äußerste. Und nun kam dieses Angebot, aus geliebtem Munde. Es kamen Instruktionen, der falsche Paß, das verschwörerische Gebot, absolutes Schweigen zu bewahren. Sie war eine politische Dilettantin; außerdem war sie verliebt. Verliebt nicht nur in den schönen Mann – Walter Konradi, den aktiven Antifaschisten –, sondern auch in das Abenteuer. Ihr Leben, bis zu diesem Tage, war langweilig gewesen. Die Begegnung mit Walter hatte es schöner gemacht; jetzt aber erhielt es Sinn und Würde durch die Verantwortung, die Gefahr.

»Die Verbindung mit der Opposition im Lande; der Kontakt zu den Illegalen« –: die Proskauer wußte, wie bedeutungsvoll dies war. Alle Emigranten bewunderten »die Illegalen« und erzählten sich Anekdoten über ihre Listen, ihren Opfermut, ihre Ausdauer. Was leisteten nicht alles die Illegalen! Sie beeinflußten die Arbeiter in den deutschen Betrieben, durch Flugblätter oder Flüster-Parolen; geheime Radio-Sender legten sie an, und auf den Straßen der deutschen Städte verkauften sie Grammophonplatten, die erst einen Marsch hören ließen: nach einigen Takten aber begann eine zornig bewegte Stimme zum Kampfe gegen Hitler aufzurufen. Dünne Heftchen mit bunten Bildern sahen aus, als wollten sie harmlose Reklame für Zahnpasta, Füllfederhalter, landwirtschaftliche Geräte oder Damenwäsche machen; in Wirklichkeit enthielten sie antifaschistische Manifeste, trockene Daten, die zeigten, wie unter den Nazis die Wirtschaft verkam, oder andere, die bewiesen, mit welch infernalischem Eifer zum Kriege gerüstet ward. Für die Verteilung einer Propaganda-Schrift, für den Sabotage-Akt in einer Fabrik oder in einer Kaserne riskierten die Illegalen ihr Leben. Dergleichen flößte Ehrfurcht ein, und es wurde zum Ehrgeiz der politischen Emigranten, diesen Helden – den über Deutschland verstreuten Märtyrern ihres Glaubens und ihres Hasses – behilflich zu sein, sie mit Material oder Geld zu versorgen.

Dora Proskauer nahm von den »Kameraden« – zwei düsteren Männern, vom Typ der nihilistischen Verschwörer aus dem Zaristischen Rußland – Instruktionen, Reisegeld und falschen Paß entgegen. Walter Konradi begleitete sie zur Gare de l'Est. Er war ernst, wie es der Stunde entsprach; doch gab es in seinen Worten wie in seiner Miene eine Zuversicht, an der Dora sich stärkte. »Du wirst es schon schaffen!« sagte er immer wieder und drückte ihr im Taxi die Hand. Als er sie auf dem Bahnsteig küßte, kamen ihm plötzlich noch Zweifel. »Ich hätte es dir doch nicht zumuten sollen . . .« Die Proskauer stand mit schrägem Nacken, blickte sorgenvoll an der enormen Zacke ihrer Nase vorbei und sprach mit plätschernd sonorer Stimme. »Aber Walter – was andere gewagt haben, ist für mich nicht zu viel . . . Es ist furchtbar aufregend, Deutschland wiederzusehen . . . 263 Die tapferen Illegalen . . . Unerhörtes Erlebnis . . . Ich zittere – spürst du es? – aber nicht aus Angst!« – »Tapferes Mädel!« Er konstatierte es innig, dabei forsch. Noch ein Kuß, dann mußte sie ins Abteil.

 

Die Proskauer kehrte nicht wieder. Ehe man in Paris erfuhr, daß sie verhaftet war, wurde, durch Berliner Freunde, bei der Schwalbe bekannt, daß der alte Herr Korella, Martins Vater, in einem Konzentrationslager saß. Gleich nach seiner Rückkehr hatten die Gestapo-Beamten ihn abgeholt. Frau Korella war in ein Krankenhaus überführt worden. »Man hat die beiden alten Leute denunziert«, berichteten die Berliner Freunde. »Sie sollen in Pariser Emigrantenkreisen kraß staatsfeindliche Reden mitangehört und sogar selbst geführt haben.« – Da begriffen alle: Auf dem Friedhof, als die Schwalbe an Martins Urne etwas unbeherrscht war, ist ein Spitzel unter uns gewesen. Sie ahnten, um wen es sich handeln mußte. Dieser Walter Konradi . . .: den meisten war er gleich nicht sympathisch gewesen, nun betonten sie es. Theo Hummler stellt Nachforschungen an. Konradi war abgereist –: »nach Belgien«, wie der Concierge seines Hotels versicherte. Bei der Schwalbe hatte man keine Zweifel mehr: »Von dort aus ist er weiter nach Berlin gefahren . . .«

Theo Hummler hatte seine Beziehungen im Reich. Er war es, dem die Nachricht zugetragen ward, daß die arme Proskauer – mit einer Naivität, einer Dummheit, die unglaublich schienen – dem Spitzel und Agentprovocateur auf den Leim gegangen war. An der deutschen Grenze war sie festgenommen worden; Name und Nummer des falschen Passes, auf den sie reiste, waren der Kontrolle bekannt. »Man wird ihr in Berlin den Hochverrats-Prozeß machen«, wußte Theo Hummler.

Bei der Schwalbe saßen sie wie versteinert. Ein paar Sekunden lang sagte niemand ein Wort; dann erschraken alle; denn die Schwalben-Mutter hatte furchtbar auf den Tisch geschlagen, und nun brüllte sie: »Dieser Hund! Dieser Hund!!« Ein anderes Wort schien ihr nicht einzufallen. Sie bekam keinen Atem mehr; ihr Gesicht wurde blau. Niemals hatte man sie so gesehen. Ihre Faust fiel noch einmal, schwer wie ein Stück Eisen, auf die Tischplatte nieder. »Wann holt diese Hunde der Teufel?« fragte die alte Frau. Ihre Kapitäns-Augen, mit denen sie drohend von unten schaute, waren blutunterlaufen.

Schließlich sagte das Meisje: »Ich verstehe das nicht . . . Ich kann so etwas nicht verstehen . . . Ein Spitzel – jemand, der von den Nazis doch wahrscheinlich ziemlich viel Geld bekommt – sollte größere Dinge zu tun haben, als ein paar arme Emigranten ins Unglück zu bringen. Militärische Geheimnisse, diplomatische Intrigen –: so was müßte er herausbekommen. Was für ein Vergnügen kann es ihm machen, die arme Proskauer zugrunde zu richten?« – Ein anderer erklärte: »Solche Sachen macht er nebenbei, als Fleißaufgabe. Sicher wird er in Berlin besonders belobigt, wenn er nicht nur Pariser Staatsgeheimnisse mitbringt, sondern 264 auch noch ein paar Emigranten ans Messer liefert. Außerdem weiß die Proskauer vielleicht Adressen von ein paar Sympathisierenden in Deutschland: die will man von ihr erpressen.« – Das Meisje blieb fassungslos. »Und alte Korellas? Die waren doch an keinem Comité angestellt, wußten keine Geheimnisse, waren brave, reaktionäre Spießer . . .« Theo Hummler – mehr nachdenklich als empört –: »Man gewöhnt sich nicht so leicht an den Gedanken, daß menschliche Wesen Dinge aus purer Gemeinheit tun; – aus keinem anderen Grund. Gemeinheiten um eines Vorteils willen – das nimmt man ja schon fast als Selbstverständlichkeit hin. Die Gemeinheit um der Gemeinheit willen hat noch immer was Überraschendes . . .«

Sollte man sich mit der französischen Polizei in Verbindung setzen? Sicherlich; die Proskauer aber wurde dadurch keineswegs frei. – Wußte Friederike Markus, genannt Frau Viola, über die Machenschaften ihres Liebsten Bescheid? Man hielt dies für unwahrscheinlich; immerhin schien es ratsam, mit ihr Fühlung zu nehmen: um sie aufzuklären, wenn sie ahnungslos war; um sie unschädlich zu machen, sollte ihre Mitschuld an den Tag kommen.

Niemand zeigte Lust zu so delikater Visite; schließlich erklärte David Deutsch sich bereit. »Wenn es sein muß«, sagte er, und verneigte sich schief, das Haar wie in ständigem Entsetzen gesträubt über dem wächsern zarten Gesicht. Eine Stunde später saß er bei Friederiken, die ein wunderliches Hauskostüm trug und ihn zunächst herzlich bat: »Nennen Sie mich Frau Viola! Ich bin es nicht anders gewöhnt, auch mein Gabriel nennt mich so«. »Ihr Gabriel«, bemerkte David Deutsch – wobei er gequält die Schultern bewegte und ganz bucklig aussah vor Verlegenheit –, »– er ist abgereist.« Frau Viola schien es nicht zu begreifen – jedenfalls nicht zu realisieren, was es für sie bedeutete. »Ei, ei«, sagte sie nur und spielte sinnend mit den fahlen, steif gedrehten Löckchen über ihrer Stirn. David ergänzte: »Und so bald wird er wohl auch nicht wieder kommen. – Wußten Sie denn, daß er reisen wird?« – »Ich? – Wieso?« fragte Friederike. Und, mit einem plötzlichen Flackern von Angst im Blick: »Er ist doch in Paris!«

Es dauerte lange, ehe die Ärmste alles verstand – und als sie verstanden hatte, wollte sie noch nicht glauben. »Ein Spitzel?!« Sie kicherte schrill. »Mein Gabriel, mein Süßer – ein Spion? – hi hi hi! Verzeihen Sie, daß ich mich amüsiere!« Sie barg den verzerrten Mund hinter der Hand, wie etwas Häßliches oder Obszönes. »Ein Spitzel! Das könnte Ihnen so passen, Herr Deutsch! Mein Gatte hat Sie wohl geschickt – er spinnt Intrigen, er bezahlt die Häscher, er finanziert ganze Bureaus, die mich und Gabriel auseinanderbringen sollen. Vor keinerlei Unkosten scheut er zurück, nun hat er also auch Sie bestochen. Pfui, Herr Deutsch, das hätte ich nicht von Ihnen erwartet!« Sie schüttelte tadelnd den Kopf, zeigte bittere Gekränktheit – bis ihr ein anderer Einfall kam, der sie eher heiter stimmte und ihr Mienenspiel neckisch machte. »Oder geht der ganze 265 Scherz von Ihnen aus?« Sie blinzelte anzüglich, spitzte auch die Lippen, wie zum Pfeifen oder zum Küssen. »Herr Doktor – Sie Böser! Haben Sie es darauf abgesehen, Gabriels Nachfolger bei mir zu werden? Sind Sie in mich verliebt?«

Endlich glaubte sie es: ihr Gabriel war fort, und er würde nicht wieder kommen. Sollte er es aber wagen, noch einmal zu erscheinen, so mußte sie ihm ins Gesicht spucken; denn er hatte sie mißbraucht und betrogen, von Anfang an. Da warf sie die Arme gen Himmel und schrie.

Der Schreikrampf dauerte minutenlang. Sie stand mit hochgereckten Armen mitten im Zimmer, das fahle Madonnen-Gesicht etwas schief gestellt, die Löckchen, steif und zierlich gedreht, hingen ihr in die Stirne, und aus dem Mund, der klagend offenstand, kam das Gellen. Für David Deutsch war es eine gräßliche Situation. Er sagte: »Aber gnädige Frau! Ich bitte Sie, liebste Frau Markus! So beruhigen Sie sich doch, Frau Viola!« Sie schrie noch ein wenig weiter, als läge ihr daran, zu beweisen, daß sie erst dann aufhören werde, Lärm zu machen, wenn es ihr gefiel, – keinen Augenblick früher. David meinte schon, sie werde ewig weiter kreischen – und er werde immer dazu verurteilt sein, ihr zuzuhören –, da schloß sie plötzlich den Mund. Schon war er im Begriff, erleichtert aufzuatmen – als Friederike erst recht schaurig wurde. Sie stolzierte, die Arme vor der Brust gekreuzt, gravitätisch-langsam im Zimmer auf und ab, wobei sie sich in einem gleichmäßigen Rhythmus unaufhörlich verneigte. In ihren Augen phosphoreszierte es grünlich; sie schüttelte die starren Löckchen, grinste und murmelte: »Herr Erzengel Gabriel – sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen! Jetzt erkenne ich Sie erst, mein Herr Erzengel: Sie sind ja der Teufel. Mes respects, Monsieur le Diable! Sehr geschmeichelt, Exzellenz Gottseibeiuns!« – Dazu Verneigungen und stolze Schritte.

›Sie ist endgültig wahnsinnig geworden.‹ David beobachtete, an die Wand gepreßt, das makabre Schauspiel. ›Was soll ich tun? Ich muß einen Arzt kommen lassen. Aber sie darf doch keinen Augenblick allein im Zimmer bleiben . . . Kann ich in ihrer Gegenwart telephonieren? Vielleicht würde sie gar nichts merken. Vielleicht würde sie mißtrauisch werden und sich auf mich stürzen . . . Ich fürchte mich. Was für schlimme Lichter sie in den Augen hat! Wie sie selber satanisch wird, da sie sich vor dem Satan verneigt! Ich habe Angst. Das Böse ist stark – stärker als wir es ahnten; furchtbar stark in unserer erschütterten Zeit . . . Wie komme ich von hier weg? Wenn sie nur aufhören wollte, zu grinsen! . . . Oh – sie hat den Teufel im Leib!‹ 266

 


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