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»Wer das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends halt«.
Nietzsche »Vereinsamt«
Hans Schütte und sein Freund Ernst durften in Prag nicht bleiben. Schon seit längerem lebten sie illegal in der Tschechoslowakischen Republik. Sie hatten keine Papiere. Außerdem wurde bekannt, daß sie immer wieder »schwarz« gearbeitet hatten. Die Unterstützungen waren schmal geworden, und zeitweise blieben sie völlig aus. Schließlich hatten sie es auch nicht lassen können, sich politisch bemerkbar zu machen. Weil ihm jetzt schon alles gleich war, und weil er doch das Ganze für »eine große Scheiße« hielt, hatte Hans in einer öffentlichen Versammlung das Wort ergriffen und das »Staatsoberhaupt eines befreundeten Landes« mit derben Worten beleidigt. Auch Ernst hatte sich in die Diskussion gemischt, und seinerseits manch saftige Grobheit über die hohen Herren in Berlin lautwerden lassen. Die Spitzel im Saal wußten natürlich genau, daß diese beiden unverschämten Redner Deutsche waren, die sich ohne Erlaubnis in der Republik aufhielten. Die diplomatische Vertretung des Dritten Reiches beschwerte sich bei den Prager Behörden über Hans Schütte und seinen Freund Ernst. Die zwei erkannten: Es gibt dicke Luft! – »Wir machen uns dünn!« beschloß Hans.
Es fiel ihnen gar nicht leicht, sich von der Stube zu trennen, die sie nun seit drei Jahren miteinander geteilt hatten. Aber gerade dort wären sie gleich geschnappt worden. Sie zogen es vor, bei einem Kameraden zu übernachten. Der verschaffte ihnen auch falsche Pässe. Übrigens wollten sie diese nur im äußersten Notfall benutzen. Was sie für die nächste Zeit vorhatten, war eine Art von Fuß-Tour durch Europa. Über die Grenzen hofften sie ohne Papiere heimlich zu gelangen – ohne echte Pässe und ohne Benutzung der gefährlichen falschen. »Irgendwo werden wir schon bleiben dürfen«, meinten sie beide – immer noch zuversichtlich, trotz allem, was an trüben Erfahrungen schon hinter ihnen lag.
Sie verabschiedeten sich von den Kollegen, die ihnen manchmal Arbeit verschafft hatten oder ein bißchen Geld oder ein warmes Abendessen. Während all der Jahre war man wöchentlich mindestens einmal in dem kleinen Bierlokal zusammengekommen, um Gespräche über Politik zu führen. Man hatte sich oft gezankt; aber schließlich war man doch beinah immer irgendwie einig geworden. Es trafen sich Deutsche, die Sozialdemokraten waren, mit solchen, die zu den Kommunisten gehörten, und auch Tschechen aus den beiden Lagern fanden sich ein. Die Meinungen gingen auseinander; Sozialdemokraten und Kommunisten, Deutsche und Tschechen gerieten sich in die Haare. Am Ende aber stellte sich heraus, daß zwischen allen diesen das Gemeinsame stärker war als das Trennende. Die Tschechen räumten den Deutschen ein: »Natürlich, wir haben auch Fehler gemacht, bei der Behandlung von den Minoritäten. Man versteht das, wenn man weiß, was wir früher auszustehen hatten. – Fehler lassen sich aber korrigieren.« – Die Deutschen erklärten: 154 »Wenn bei uns zu Hause anständige Kerle regierten, dann würde alles in Ordnung kommen, auch zwischen eurem Land und dem unsern. Alles eine Frage des guten Willens! Aber den Nazis ist es doch gar nicht um die Sudeten-Deutschen zu tun. Es kommt ihnen nur drauf an, eure Republik kaputtzumachen.« Die Tschechen nickten drohend. »Gerade das aber werden wir ihnen nicht erlauben.« Über so viel Entschlossenheit freuten sich auch die Deutschen. Man vertrug sich, und die Streitigkeiten, die es zwischendurch gab, wurden vergessen.
Fast drei Jahre lang hatte man debattiert – welch eine lange Zeit, wieviel Ereignisse, wieviel großen Gesprächsstoff hatte sie gebracht! Im Februar 1934 waren die Flüchtlinge aus Wien gekommen; dort hatte der Bundeskanzler Dollfuß auf die Arbeiter schießen lassen. Noch nicht ein halbes Jahr später ließen die Nazis auf den Bundeskanzler schießen; er verblutete, nicht einmal ein Priester ward zu ihm gelassen. Die Nazis wollten Österreich haben. Mussolini mobilisierte am Brenner. Die Nazis zuckten zurück. – Viel Gesprächsstoff für die Männer am Prager Stammtisch, von denen die meisten beinah nichts besaßen; aber alle hatten sie doch das Recht, frei zu reden und nach Kräften nachzudenken. Von diesem Rechte machten sie Gebrauch, und sie wußten es hoch zu schätzen.
Das Jahr 1935 war noch nicht alt, da trafen schon wieder neue Flüchtlinge ein. Es waren solche, die an der Saar gegen den Anschluß des Gebietes ans Dritte Reich agitiert hatten. Die Saar wurde deutsch. Hitler hatte seinen Triumph – der auch jeder anderen Reichs-Regierung zugefallen, aber von keiner so dröhnend ausgenutzt worden wäre.
Kurze Zeit danach führte das Dritte Reich die allgemeine Wehrpflicht ein. Erst war die Aufregung kolossal, und am Stammtisch schien man auf das Äußerste gefaßt; dann stellte sich heraus: die großen Demokratien ließen es sich gefallen. Nun fragte man sich besorgt: Wie weit sollen die Nazis gehen, damit England und Frankreich die Geduld verlieren? – Irgendwo aber muß eine Grenze sein – empfanden sie alle. Wird Hitler vor ihr zurückscheuen? Kann er das Letzte und Gräßlichste wagen? – Manche meinten: Die Grenze ist Österreich. Wien bekommt er nicht. Andere blieben skeptisch: England würde auch Wien opfern, um des lieben Friedens willen. – Aber Mussolini? – Antwort: Dem bleibt nichts anderes übrig. – Da erklärten die Tschechen: Wenn es keine andere Grenze gibt – unsere ist unüberschreitbar. Wenn er uns angreift, ist es der europäische Krieg. Der Weltkrieg ist es, wenn er sich an uns wagt. –
Die Leute, die aus Deutschland kamen, berichteten von der Unzufriedenheit, die dort wuchs. Kein Amüsement, das man den Massen bot – weder die allgemeine Wehrpflicht noch die Judenhatz, noch die hübschen Feiern anläßlich des Saarplebiszits – konnten darüber hinwegtäuschen, daß viele verbittert waren. Auch fürchteten alle den Krieg. Man suchte die Arbeiter mittels »Kraft durch Freude« bei Stimmung zu halten; aber am Schluß sollten sie doch nur Kanonenfutter sein, damit Deutschland die Ukraine und das Elsaß bekam; für den Augenblick gab es wenig Butter. Alle 155 Nachrichten aus deutschen Städten sagten das gleiche: die Stimmung ist miserabel. Viele sind in der Opposition – Christen und Sozialisten, bürgerliche Intellektuelle und Proletarier. – Man hörte es gerne, und es ward eifrig besprochen. Übrigens gehörten viele von denen, die sich am Stammtisch trafen, selber zu den politisch Aktiven und Organisierten. Sie fuhren nach Deutschland, arbeiteten mit der illegalen Opposition. Sie hatten Freunde, Verbindungsleute, Mitverschworene in den großen deutschen Betrieben. Sie kannten die Gefahren und die Möglichkeiten dieses unterirdischen, geheimen Kampfes. Sie wußten auch: Man gewinnt ihn nur, wenn man ihn gemeinsam kämpft. In Deutschland, wo es keine Parteien mehr gab, nur noch Machthaber und Unterdrückte, wurde die Einheitsfront aller Antifaschisten fast zur Selbstverständlichkeit.
. . . Jetzt war man im Januar des Jahres 1936. Seit einigen Monaten besprach man die Entwicklung des italienischen Zuges gegen Abessinien. Man breitete afrikanische Karten aus auf dem Holztisch des Prager Bierlokals. Wie weit waren die Räuber schon vorgedrungen? Welche Ortschaften würden jetzt bombardiert werden? Wie lange konnte der Negus sich halten? Würde England ernstmachen mit den Sanktionen gegen die Angreifer? Und kam dann der europäische Krieg?
Kommt der Krieg? Dies blieb immer die letzte Frage. – Werden die Diktaturen stürzen können ohne den Krieg? Und werden sie sich nicht ihrerseits zum Kriege eines Tages gezwungen finden, sogar wenn sie eigentlich viel lieber immer nur erpressen wollten, statt zu kämpfen? – Manche am Stammtisch wünschten sie schon fast, die finale Katastrophe, und waren für das blutige Aufräumen –: »damit nur endlich Schluß wäre!« Andererseits fürchteten sich alle. Sie erzählten sich Schauerliches über die neuen Erfindungen auf dem Gebiete der Giftgas-Technik. »Die Deutschen würden Typhus- und Cholera-Bazillen aus ihren Flugzeugen werfen«, wußte Hans. »Wir gehen alle kaputt.« Dies war das letzte Wort in ihren Diskussionen. – –
. . . In Österreich hielten Hans und Ernst sich nicht lange auf. Dort war man gerade jetzt besonders unliebenswürdig zu verdächtigen Gesellen ihrer Art: paßlosem Gesindel, Emigranten-Pack, dem die aufsässige Gesinnung, die revolutionären Vorsätze und Ideen auf den ungewaschenen Gesichtern geschrieben standen. – Ein paar Tage blieben sie bei Wiener Kameraden versteckt. Sie bekamen Aufträge für Genossen in der Schweiz. Der Post wagte man wichtige Nachrichten nicht mehr anzuvertrauen. Man verständigte sich durch Parolen, die vertrauenswürdige Boten überbrachten – wie in Zeiten des Krieges. Dann ging die Wanderung weiter.
Manchmal nahm ein freundlicher Automobilist sie ein Stück Weges mit; aber es geschah ziemlich selten. Die meisten fuhren hochmütig vorüber und ließen die zwei Vagabunden auf der Landstraße stehen. Wenn ein Gendarm in die Nähe kam, mußte man sich unsichtbar machen. Es war kein gutes Leben. Manchmal hatten sie sich genug Geld erbettelt oder verdient, um eine kleine Strecke im Zug zu fahren. 156
In Basel trennten sie sich. Sie waren beide relativ guter Dinge. Schweizer Freunde hatten ihnen zu essen gegeben und etwas anzuziehen; denn die Anzüge, die sie unterwegs getragen hatten, sahen schon unerlaubt aus. Hans wollte nach Frankreich. – »Und wenn sie dich dort erwischen?« fragte Ernst. Hans gab zurück: »Und wenn sie dich hier erwischen? – Nach Deutschland können sie uns doch nicht schicken, wir sind politische Flüchtlinge, so was läßt sich beweisen. Sie befördern uns bei Nacht und Nebel über die nächste Grenze. Dann sind wir wieder in einem Land, wo wir eigentlich nicht sein dürften – und so wird das wohl ewig mit uns weitergehen.« Hans brachte es fast mit Munterkeit vor. Er war guter Laune; denn er hatte Bier und Wurst im Leib, und ein frisches Hemd darüber. Die Schweizer Freunde waren nett zu ihm gewesen, obwohl er kein Parteigenosse von ihnen war. – »Europa ist ein gastlicher Erdteil!« rief er aus – halb wirklich dankbar wegen Wurst und Bier; halb bitter im Gedanken an die Schikanen, die wahrscheinlich bevorstanden. »Irgendwo wird man schon Verwendung für mich finden«, meinte er. »Ich habe an die Fremdenlegion gedacht . . . Aber erstens soll das so eine gemeine Schinderei sein; zweitens würden die mich wahrscheinlich auch nicht nehmen – und drittens hat es überhaupt keinen Sinn. Vielleicht wird es bald mal eine bessere Gelegenheit geben, sich totschießen zu lassen . . .« –
Ernst hoffte, noch eine Weile in der Schweiz bleiben zu können. Er hatte ein paar Empfehlungen nach Zürich, und genug Geld, um im Zug dorthin zu fahren. Nun hieß es Abschied nehmen von Hans.
Sie waren fast drei Jahre lang miteinander gewesen. Sie dachten beide an ihr enges Zimmer in Prag, und an die Mädchen, die sie mitgenommen hatten, und an die ersten schönen Spaziergänge durch die Stadt, und an all das weniger Schöne, das gefolgt war, im Laufe dieser Monate, dieser Jahre. Sie hatten so viel, woran sie sich erinnerten, daß sie lieber nicht davon sprachen. Sie sagten nur: »Mach's gut, Hans.« Und: »Mach's gut, Ernst. Hoffentlich sehen wir uns bald einmal wieder.« – Als sie sich die Hände schüttelten, sahen sie sich nicht dabei an. Drei Jahre sind eine lange Zeit.
Dann fiel dem Hans noch was ein: »Wenn du schon in Zürich bist, könntest du eigentlich dieses Mädel anrufen, das mir seit 1933 Briefe schreibt. Sie heißt Tilly Kammer. Warte, ich weiß ihre Adresse auswendig . . . Grüße sie schön von mir und sag ihr, es tut mir leid, daß ich sie jetzt nicht kennenlerne. Vielleicht besuche ich sie ein anderes Mal – sag ihr das von mir.« – Ernst notierte sich die Adresse. Dann gaben sie sich nochmals die Hand. »Und schreib mir mal 'ne Ansichtskarte!« – »Wohin?« fragte der andere. – »An Hans Schütte, Europa.«
Zum Schluß ein Gelächter – damit man die Tränen nicht sah.
In Zürich meldete sich Ernst telephonisch bei Tilly von Kammer. »Ich bin nämlich ein Freund von Hans Schütte«, erklärte er. »Der hat mir Grüße an Sie aufgetragen.« – Ein Freund von wem? Tilly verstand nicht gleich. Sie hatte ja immer nur an H. S., Poste restante geschrieben. Weiß Gott, 157 warum Schütte während all der Zeit auf das romantische Geheimnis um seinen Namen nicht hatte verzichten wollen . . . Als Tilly dann begriff, wurde sie ziemlich aufgeregt. »Aber H. S. selber – ich meine Hans Schütte, kommt nicht hierher?« fragte sie. – Ernst, ein bißchen beleidigt: »Entschuldigen Sie, daß nur ich es bin!« Da Tilly lachte, sagte er noch, gleich wieder munter: »Na, wir werden uns schon vertragen, Fräulein!«
Sie trafen sich in einer Teestube, nahe dem Hauptbahnhof. Ernst erklärte: »Von Ihnen habe ich schon kolossal viel gehört!« Tilly wurde ein bißchen rot. Dann erkundigte sie sich heuchlerisch: »Von wem denn? – In Prag kennt mich doch niemand . . .« – »Na, vom Hans doch«, erklärte er gutmütig. »Vom Schütte. Er hat immer Freude mit Ihren Briefen gehabt.« – »Ich habe mit seinen Briefen auch viel Freude gehabt«, sagte sie. Und Ernst: »Er ist ein feiner Kerl! Sie müssen ihn unbedingt kennenlernen! Einen feineren gibt es gar nicht!« – Tilly, mit züchtig niedergeschlagenen Augen, – als spräche sie etwas Unpassendes aus –: »Ich habe mir schon lange gewünscht, ihn mal kennenzulernen.« – »Aber zunächst dürfte keine Gelegenheit dazu sein!« Ernst sagte es nicht ganz ohne Schadenfreude. »Er ist nach Frankreich. Von dort will er wohl nach Belgien und Holland weiter, und später vielleicht nach Skandinavien, wenn's geht . . .« Tilly erwiderte eine Weile nichts. Dann bat sie den Ernst, er solle ihr etwas von seinem Prager Leben mit Hans erzählen.
Er wurde verlegen. Wenn man plötzlich etwas erzählen soll, fällt einem natürlich nichts ein. »Wir hatten ein recht nettes kleines Zimmer, Hans und ich«, fing er umständlich an. »Manchmal kam auch Besuch.« Da stockte er schon. »Was für Besuch?« wollte Tilly wissen. Ernst, anstatt auf diese Frage näher einzugehen, schilderte in möglichst schön gewählten Worten die Reize und Kuriositäten der Stadt Prag. Er kam auf den Stammtisch zu sprechen, wo mit den Kameraden politische Diskussionen geführt worden waren. Er berichtete auch von den vielen und sonderbaren Arbeiten, mit denen sie sich ein bißchen Geld verdient hatten. »Das ist ja eigentlich nicht erlaubt gewesen«, sagte Ernst. »Es war uns auch nie so richtig wohl zu Mute dabei. Denn, schließlich – die Regierung bei den Tschechen ist doch ganz anständig; anständiger jedenfalls als in den meisten andern Ländern. Und außerdem waren wir nur geduldet. Da hätten wir wohl nichts machen sollen, was gegen die Gesetze ist. – Aber was blieb uns übrig?«
Ernst gefiel Tilly. Sie mochte sein Gesicht: die gespannte, etwas fleckig angegriffene Haut auf den slawisch breiten Wangenknochen; die hellen und engen Augen; das blonde Haar, preußisch kurz geschoren am Nacken und an den Schläfen. Sogar von seiner Kleidung war sie gerührt. Die Sachen, die er in Basel geschenkt bekommen hatte, waren keineswegs so neu und hübsch, wie er im ersten Vergnügen hatte meinen wollen. Der graue Anzug war recht dünn und abgeschabt, er glänzte speckig, und die Farbe spielte trüb ins Gelbliche. Auch mit den Schuhen war kaum viel Staat zu machen. Am besten war noch das dicke, rote Wollhemd. Er trug es ohne Krawatte; unter dem breiten geöffneten Kragen baumelte ziemlich 158 melancholisch eine kleine gedrehte Kordel. Das Hemd war schon zu lange im Dienst, man sah es ihm an. Der Verdacht drängte sich auf, daß es unfrisch roch. – Einen Überzieher besaß Ernst nicht. Als sie auf die Straße traten, bemerkte Tilly: »Aber Sie müssen frieren!« Und sie nahm seinen Arm.
Sie aßen miteinander zu Abend; dann gingen sie für eine Stunde ins Kino. Die Nacht war schön; Tilly hatte Lust, zu Fuß nach Rüschlikon zu gehen. Ernst begleitete sie. Beim Abschied verabredeten sie etwas für den nächsten Abend. Als Tilly schon in der Haustüre stand, sagte sie plötzlich, mit einem auffallend weichen, schräg abgleitenden Blick: »Sie sind also der H. S.« Es schien, daß sie alles durcheinanderbrachte. Vielleicht hatte sie ein Glas Wein zuviel getrunken, vielleicht war sie nur müde. Er fand es taktvoll, sie nicht zu korrigieren. »Gute Nacht, Tilly«, sagte er.
Während sie sich auszog, fiel ihr ein, daß für morgen abend Peter Hürlimann sie in ein Konzert eingeladen hatte. ›Ich muß ihm absagen‹, beschloß sie. »Morgen Abend bin ich besetzt. Konnis Freund, der H. S. ist ja hier . . .‹
Während sie schon einschlief, dachte sie noch: ›Komisch, diese kurz geschorenen Haare am Nacken und an den Schläfen . . . Die müssen aber ziemlich stark kitzeln, wenn man das Gesicht an sie legt . . . Hat er mir nicht erzählt, daß er in Berlin ein Schupo war? Ich kann ihn mir recht gut vorstellen, in der grünen Uniform . . .‹
Es regnete in Strömen. An Spazierengehen war nicht zu denken. Zum Kino hatten Tilly und Ernst keine Lust. Sie waren überhaupt bei weitem nicht so lustig wie den Abend zuvor. Beide schauten viel vor sich hin, oder der eine dem anderen ins Gesicht, ohne zu reden. Wenn die Gier in ihren Blicken zu deutlich wurde, senkten sie die Augen, wie beschämt. Aber bald ertappten sie sich wieder dabei, daß der eine versunken saß in das Bild des anderen. Nach dem Essen blieben sie noch eine Weile in der halbdunklen Wirtsstube sitzen. Endlich war es Tilly, die sagte: »Wir sollten gehen.« Er antwortete nicht gleich. Unersättlich ließ er die Blicke über ihr Antlitz wandern. ›Sowas Hübsches habe ich lange nicht gesehen‹, dachte er. ›Sowas Schönes sehe ich lange nicht wieder. Merke dir, was du siehst, damit du es nicht gleich wieder vergißt, dummer Kerl! – Ihre Stirn, alabasterweiß, ernst gerahmt vom schlichten rötlichen Haar. Wie brav und fromm ihr Haar in der Mitte gescheitelt ist – und dazu der große, weiche, schlampige Mund, und die langen, schräggestellten feuchten Augen. Und dieses schlichte dunkle Kleidchen, das sie heute trägt –: die nackten Arme kommen so reizend unterm dunklen, leichten Tuch hervor, und die Form ihrer Brüste hebt sich so deutlich ab.‹ – Er merkte, daß sie sich zusammenzog, weil er sie anstarrte. Es war ihm peinlich, er sagte, gleichsam um Entschuldigung bittend: »Ja, es wird wirklich Zeit . . .« Keiner von beiden wußte, wofür es Zeit war und wohin sie gehen wollten.
Auf der Straße war wieder sie es, die zu reden begann. »Es regnet immer 159 noch.« Ihre Stimme klang traurig. Er sagte tröstlich: »Aber nur noch ein bißchen. Und es wird wohl bald aufhören.« – Tilly, mit einem betrübten Blick nach oben: »Der Himmel ist doch so schwarz.« Dann schwiegen sie wieder und gingen.
Nach einer Pause fragte sie ihn: »Wo wohnen Sie eigentlich?«
»Bei einem Kameraden«, antwortete er, nicht ganz ohne Stolz. »Drüben im Niederdorf – das ist wohl der älteste Teil von der Stadt. Sehr nettes Zimmer; aber ein bißchen eng. Dorthin kann ich keinen Besuch mitbringen. Sie dürfen wohl bei sich auch keinen Besuch haben?«
»Natürlich nicht«, sagte Tilly.
Daraufhin schlug er vor: »Wir könnten ja in ein kleines Hotel gehen.«
Nun meinte Tilly doch, sich ein wenig entrüsten und die empfindliche Dame spielen zu müssen. »Was fällt Ihnen ein!« Sie versuchte, ihre Stimme spitz zu machen. Es mißlang. Sie lächelte.
Er nahm ihren Arm. »Ich dachte nur –, weil es so regnet . . .«
Sie wurde gleich wieder mitleidig. »Und Sie haben gar keinen Mantel! Mein Gott, Sie werden ja pudelnaß!« – Er trippelte vorsichtig unter dem aufgespannten Regenschirm, den sie hielt. Mit seinem hochgeschlagenen Rockkragen, das triefende Haar in der Stirne, sah er ziemlich erbarmungswürdig aus. Aber er lachte. »Ich fühle mich wohl . . . Sauwohl fühle ich mich!« Er drängte den Körper an sie, sein nasses Gesicht war nahe an ihrem.
Sie sprach nachdenklich: »Ich weiß ein kleines Hotel, gar nicht weit von hier. Die Besitzer kennen mich dort . . . Aber dürfen Sie denn überhaupt in einem Hotel übernachten?« fiel ihr plötzlich ein. »Sie haben mir doch erzählt, daß ihre Papiere nicht in Ordnung sind.«
Er lachte wieder. »Nein, die sind allerdings ganz und gar nicht in Ordnung. Aber niemand wird sie zu sehen verlangen.«
Sie blieb ängstlich. »Man kann Pech haben, es könnte eine Kontrolle geben. Sie sind hier neuerdings furchtbar scharf hinter den Fremden her.«
»Wenn man nur eine Nacht in einem Hotel ist, wird man nie kontrolliert«, erklärte er zuversichtlich. »Erst die zweite Nacht ist gefährlich.«
»Mir scheint doch, es ist schrecklich gewagt, was wir tun – ganz abgesehen von allem anderen, was es sonst noch ist.« – Sie waren vor dem Hotel stehengeblieben.
Es regnete wieder stärker. Tilly schaute in das gleichmäßig niederfallende, strömende, rauschende Wasser. »Es ist wie eine Sintflut«, sagte sie leise. Und Ernst: »Sie sollte alles wegwaschen – alles wegspülen, das sollte sie. Ersaufen müßte das ganze Pack, etwas anderes verdient es nicht mehr . . .« Und, plötzlich lachend, fügte er hinzu: »Nur wir dürfen übrigbleiben – nur wir zwei!« Er wandte ihr das vergnügte, vom Regen gebadete Gesicht zu.
Sie blieben noch eine Weile nebeneinander unter dem offenen Schirm stehen, als wagten sie sich nicht ins Hotel, oder als fühlten sie sich hier draußen sicherer. Schließlich traten sie ein. 160
Die Wirtin musterte sie etwas mißtrauisch; stellte jedoch keine Fragen, weder nach den Pässen noch nach dem Gepäck, sondern sperrte ihnen schweigsam ein Zimmer auf. »Numero 7 ist das einzige, das ich heute abend frei habe«, sagte sie mürrisch. Es war ein langer und schmaler Raum, mehr einem Korridor als einer Schlafstube ähnlich. Die beiden Betten standen mit den Kopfenden gegeneinander gerückt; eins neben dem anderen hätte kaum Platz gehabt. Als die Wirtin hinaus war, bemerkte Ernst: »Das sieht auch nicht übermäßig sauber hier aus . . . Die Flecke an den Wänden stammen von zerdrückten Wanzen«, stellte er sachverständig fest. »Hoffentlich ist keine übriggeblieben. – Wie heißt denn die schöne Wirtin?« – »Ich weiß es nicht, wie sie heißt«, sagte Tilly. – »Hast du mir nicht erzählt, daß du sie kennst?« – »Ja, ich kenne sie. Aber ich habe ihren Namen vergessen.« – »Das scheint ja keine sehr intime Bekanntschaft zu sein.« Ernst war etwas enttäuscht. Er stand vorm Spiegel und trocknete sich den Kopf mit einem Handtuch. Sie bemerkte, daß seine Haare dünn wurden – schütteres Haar, und die Farbe war wie ausgebleicht von vielen Wettern: ein fahles Blond, Stürme und Regengüsse schienen ihm den Glanz genommen und es fast entfärbt zu haben.
»Mir gefällt das Zimmer ganz gut«, sagte Tilly, die hinter ihm stand. »Aber kalt ist es!« Sie schauderte. Ernst hörte, daß ihre Zähne aufeinander schlugen. Er wandte sich um. Ihr Gesicht war blaß, rötlich glühte nur die Nasenspitze. »Du hast einen Schnupfen.« Er legte ihr die Arme auf die Schultern. Sie zitterte und wußte, daß es nicht vor Kälte war.
Hilflos sagte sie: »Jetzt gehe ich wohl besser nach Hause . . .«
Er antwortete gar nicht, sondern zog sie an sich.
Sie versuchte, sich freizumachen. »Aber ich habe keine Zahnbürste mit, und kein Pyjama . . .« – »Ich auch nicht!« Er hielt sie fest. »Wozu brauchen wir eine Zahnbürste? . . . Kannst du mir vielleicht verraten, wozu wir eine Zahnbürste und ein Pyjama brauchen?«
»Aber es geht nicht . . . Es geht nicht . . .« Sie zitterte stärker. Nun fürchtete sie auch, es könnte ein Asthma-Anfall kommen. Er hatte die Arme fester um sie geschlossen. Da gestand sie: »Ich war schon so lange nicht mit einem Mann zusammen . . .«
Er blieb stumm. Sprachlos und lächelnd legte er seine Stirne an ihre. Es vergingen Sekunden – oder viele Minuten, sie wußten es nicht. Das Schweigen hatte schon zu lange gedauert, als er mit gedämpfter Stimme wieder zu sprechen begann. »Komisch sehen die Augen von einem anderen Menschen aus, wenn man sie so dicht vor den eigenen Augen hat! Sie scheinen ganz nah beieinander zu liegen, und ganz groß zu werden – wie Eulenaugen . . . Genau wie Eulenaugen!« wiederholte er erstaunt – und sie mußte plötzlich lachen über dieses Wort. Sie lachte heftig und krampfhaft, ohne aber ihre Stirn dabei von seiner zu lösen. Sie blieben stehen, mit herabhängenden Armen jetzt, und es schien, als wären ihre Stirnen aneinander gewachsen.
»Eulenaugen!« kicherte Tilly. »Ist doch zu idiotisch! Warum sollte ich 161 denn Eulenaugen haben? – Du hast übrigens auch welche . . . Aber helle Eulenaugen. Helle Eulenaugen sind auch nicht feiner.«
Immer noch lachend zog sie endlich ihre Stirn zurück. Sie tat es mit einer Geste, als müßte sie ihre Stirne wegreißen von seiner, an der sie festgewachsen war. Dabei schrie sie ganz leise und berührte mit dem Zeigefinger ihre Stirn, gerade zwischen den Augenbrauen, als gäbe es dort eine blutige Stelle. Ihr lachender Mund bekam einen klagenden Zug. Es war, als liefe Blut von ihrer Stirn zu den Lippen. Vielleicht schmeckten ihre Lippen das Blut. Vielleicht verzogen sie sich deshalb so schmerzlich und angewidert. Aber sie hörte nicht auf zu lachen.
Rückwärts gehend tat sie ein paar Schritte, die taumelig waren – als wäre sie nicht nur verwundet, sondern auch betrunken. Sie setzte sich auf das Bett, ohne es anzusehen oder den Kopf zu wenden; ihre Augen blieben auf den Mann fixiert.
»Eulenaugen . . .« wiederholte sie, und ihr kleines Gelächter klang einem Schluchzen sehr ähnlich. »Zu dumm . . .« Aber plötzlich wurde sie ernst. Eine leichte Röte lief, wie der Widerschein eines vorbeiziehenden Lichtes, über ihr weißes Gesicht. Mit einer merkwürdig trockenen Stimme – als wäre ihre Kehle ausgedörrt und sie hätte keinen Speichel mehr im Munde – sagte sie: »Ich glaube überhaupt, daß ich es gar nicht mehr kann.« Ernst, der noch immer mitten im Zimmer stand, fragte, seinerseits plötzlich heiser: »Was solltest du nicht mehr können?« – Da erwiderte sie, schamlos und sanft, mit einer zugleich traurigen und verlockenden Gebärde zu dem nicht sehr sauberen Bett: »Das . . . Ich habe es sicher schon ganz verlernt . . .«
Er lächelte nicht; sein Gesicht blieb ernst, und es gab einen beinah zornigen, brutalen Zug um seinen Mund, als er sagte: »Das verlernt man nicht.«
Er war bei ihr und bog ihren Oberkörper nach hinten. Sie ließ es geschehen, Angst und Krampf waren fort. Sie bekam den Blick eines Kindes, das sich verirrt und sehr viel Schrecken ausgestanden hat – nun aber ist es dort angekommen, wo es keine Gefahren mehr gibt: keine Gefahren mehr für diesen schönen Moment. Es darf die Glieder lockern, den Mund hinhalten, auch die Augen dürfen sich endlich schließen. Nachgeben dürfen, stillhalten dürfen, diese Liebkosungen annehmen und erwidern dürfen. Dies ist die Stunde, liebe arme Tilly, die dich entschädigen und trösten soll für viele Monate und mehrere Jahre, da du einsam warst und wenig Freude kanntest. Nun entschädigt und tröstet sich dein atmender, erbarmungswürdiger, hilfloser, schöner Körper. Es trösten und entschädigen sich dein Mund, dein Haar, in dem seine Finger spielen, deine Füße, die so müd gewesen sind, deine Hände, die auf den Tasten der Schreibmaschine oft nicht weiter konnten; dein ganzer Leib, den er nimmt. –
Nun hat er dich einmal geliebt, er wird dich noch zweimal oder viermal lieben; denn die Nacht ist lang, und er hat lange keine Frau gehabt. Eine so Hübsche wie dich wird er auch zunächst nicht mehr finden. Er liebt dich 162 sehr, er begehrt dich mit starker Gier, er ist dir dankbar, daß du ihm dies gewährst; aus der Dankbarkeit könnte Zärtlichkeit werden. – Halte stille, sogar wenn es schon ein wenig wehe tut! Dieses ist deine schöne Stunde, die Nacht des Trostes und der Entschädigung. Unsere Welt aber ist so eingerichtet, daß selbst Trost und Entschädigung nicht ganz schmerzlos bleiben, etwas Schmerz ist in alles gemischt – halte still, arme Tilly. Du weißt es ja, dein Freund hat keine Aufenthaltserlaubnis in diesem Lande, morgen kann er schon ausgewiesen sein, vielleicht siehst du ihn nie mehr. Noch ist er bei dir, halte still! Für den Augenblick ruht er aus –: sieh, sein mageres, etwas fleckiges und etwas ramponiertes Gesicht auf dem Kissen! Aber gleich wird er dich wieder packen, die Nacht ist lang – ungewiß, was der Morgen bringt; wir leben in wirren Verhältnissen, allerlei mißliche Überraschungen sind an der Tagesordnung, hübsche arme Tilly!
Ernst atmete tiefer. Schlief er schon? Tilly liebkoste ihn mit den Augen, weil die Hände müde waren. – ›Bleibe bei mir! Bitte, geh nicht weg! Ich habe mich so lang nach dir gesehnt! Nicht nach dir eigentlich, sondern nach dem Konni oder nach seinem Freund H. S. Die sind nicht gekommen, aber du bist hier, und du bist beiden verwandt, bist der Bruder von beiden – ich umarme den verlorenen Konni und den anderen, fremden, den ich nie gesehen habe, da ich dich umarme. Du weißt ja nicht, wie schlimm und arg alles gewesen ist, ehe du kamst. Du kannst es dir gar nicht vorstellen.‹
›Warum soll ich es mir denn nicht vorstellen können?‹ antwortete er stumm. ›Ich habe es doch keineswegs besser gehabt. Glaubst du vielleicht, es ist ein Vergnügen, ohne Paß durch die Länder zu ziehen, immer in Angst vor der Polizei, wie ein Verbrecher? – Und ich habe eigentlich nichts besonders Schlimmes getan, außer dem bißchen Schwarzarbeit in Prag. In Berlin war ich ein Schupo, sehr respektabel in der schönen grünen Uniform. Ich gehörte zum Staat, ich war ein Teil seiner Macht, einer seiner vielen Repräsentanten, und alle sahen mich achtungsvoll an. Meine ganze Schuld war, daß ich diesen Staat verteidigen wollte, und daß ich mich nicht abgefunden habe mit dem Neuen . . . Warum sollte ich mir nicht vorstellen können, wie dreckig es dir ergangen ist? Da müßte ich aber beschämend wenig Phantasie haben!‹
Und sie darauf: ›Keiner weiß doch, was der andere auszustehen hat. Das kann niemand ermessen, es bleibt das Geheimnis, welches jeder mitnimmt. Immerhin gibt es manchmal die Stunden des Trostes und der Entschädigung.‹
Da war er wieder bei Kräften und zog sie an sich heran. –
. . . Erst gegen Morgen schliefen sie ein. Sie blieben im gleichen Bett, obwohl es viel zu schmal für sie beide war. Sie schliefen aneinander geschmiegt, als es an die Tür klopfte. Da mochte es halb sechs Uhr morgens sein. Beim ersten Klopfen erwachte keiner von beiden. Tilly fabrizierte sich aus dem klopfenden Geräusch an der Türe ganz schnell einen Traum. So leicht werden ja große Träume aus kleinen Geräuschen: nur ein Klopfen ist da, aber im Traum vollzieht sich blitzschnell eine lange Geschichte, in die das Klopfen paßt, zu der es gehört. Eine Mauer wird gebaut, das 163 verursacht Lärm. Tilly träumte, daß eine hohe rote Mauer gebaut wurde – vielleicht war es die Mauer zu dem Gefängnis, in das man Ernst sperren würde, zur Strafe, weil er ohne Paß in der Schweiz war und weil er hier mit ihr geschlafen hatte. Die Mauer wuchs, das Geräusch steigerte sich tobend. Tilly fuhr auf; es hatte stärker geklopft.
Auch Ernst war inzwischen erwacht. »Es hat geklopft«, sagte Tilly, mit den Handrücken vor ihren verschlafenen Augen. – »Das merke ich«, versetzte Ernst ziemlich unfreundlich. Während es noch immer klopfte, sagte er, mit einer vor Müdigkeit ganz heiseren Stimme: »Man muß wohl aufmachen.« Sein Gesicht sah alt und verfallen aus – fahl, mit hängenden Zügen –, und er hatte einen angewiderten Zug um den Mund, während er das Bett verließ und langsam durchs Zimmer ging. »Ich komme schon«, sagte er zu dem Unbekannten, der sich draußen immer heftiger bemerkbar machte. Aber Ernst sprach so leise, daß die Person vor der Türe ihn keinesfalls verstehen konnte.
»Du solltest dir etwas überziehen«, mahnte Tilly, denn er stand nackt da – nackt und ein wenig zitternd vor dieser verschlossenen Türe, die zu öffnen er noch ein paar Sekunden lang zögerte. »Du wirst dich erkälten«, sagte das Mädchen im Bett. So verschlafen sie war – daß er zitterte, bemerkte sie doch, und sie sah auch die Gänsehaut auf seinen Armen und auf seinem Rücken. Aber da hatte er die Türe schon aufgemacht.
Vor ihm stand ein Herr in dunklem Überzieher, mit steifem schwarzen Hut, einen hohen, blendend weißen Kragen und schwarzen, blankgewichsten Stiefeln, die unter hellen Beinkleidern sichtbar wurden. Er trug eine gelbe Aktentasche unter dem Arm und sah aus wie ein übelgelaunter Geschäftsreisender.
Der Herr musterte, mit einem kalten, feindlichen Blick durch den Zwicker, den nackten jungen Menschen, der ihm gegenüberstand. Die korrekte Figur des Herrn drückte von den Stiefelspitzen bis zum Scheitel Mißbilligung aus. Er stand einige Sekunden lang unbeweglich, und auch Ernst, der Zitternde, rührte sich nicht. Der Herr betrachtete, ausführlich und unbarmherzig, diese frierende Nacktheit. Er schien die Rippen zählen zu wollen, die sich abzeichneten unter der gespannten Haut. Er mißbilligte das zerzauste Haar und das verstörte Gesicht des jungen Menschen; er nahm Anstoß an den gar zu sichtbaren Rippen, dem totalen Mangel an Bauch –: Menschen, die in einer anständigen Beziehung zur bürgerlichen Weltordnung leben, müssen einen etwas gepolsterten Bauch zeigen – und er empfand Ekel sowohl als Entrüstung angesichts der provokanten Entblößung des Geschlechts.
»Fremdenpolizei«, stellte er sich unheilverkündend vor. »Ziehen Sie sich bitte sofort etwas an!« Während Ernst stumm zu seinen Sachen ging, sprach der Mann mit der Aktentasche – wobei sein ungnädiger Blick an dem benutzten und dem unbenutzten Bett vorbei zum Fenster ging –: »Zeigen Sie Ihre Pässe!«
Tilly erschrak so sehr, daß sie einen stechenden Schmerz in der 164 Magengegend empfand und meinte, ihr Herz müßte aussetzen zu schlagen. Sie spürte, daß ihr der Atem sekundenlang wegblieb. Ein Asthma-Anfall bereitete sich wohl vor . . . Trotzdem war ihr klar, daß sie sich nun äußern und in Aktion treten müsse, um Ernst zu retten – oder doch, um die Katastrophe, die ihn bedrohte, aufzuschieben. Sie ließ eine kokette Piepsstimme hören, die sie immer dann verwendete, wenn sie Herren von der Polizei oder Ladenbesitzer, bei denen sie Schulden hatte, rühren und versöhnen wollte. »Ach, wie dumm!« machte sie, töricht lächelnd. »Ich habe meinen Paß nicht bei mir!«
Der Herr von der Fremdenpolizei vermied es, sie genau anzusehen. Er hatte schon festgestellt, daß sie hübsch war, und er wollte sich keineswegs durch ihre Reize bestechen lassen. »Wo wohnen Sie?« fragte er barsch.
»In Rüschlikon«, plapperte sie, eifrig wie ein Schulmädchen. Und sie redete weiter: »Meine Mama, Frau von Kammer, hat eine kleine Wohnung dort. Ja, ich bin polizeilich gemeldet . . .« Der Herr unterbrach sie: »Sind Sie mit diesem Mann hier verheiratet?«
Tilly ließ nicht von ihren traurigen kleinen Versuchen, mit dem Beamten zu kokettieren. »Gewiß«, sagte sie, wobei sie die Schultern hochzog und sich zu allerlei niedlichen Grimassen zwang, die ihrem Gesicht wehtaten. »Das heißt: beinah verheiratet – so gut wie verehelicht . . . Er ist ein Vetter von mir . . . Ein Jugendfreund außerdem . . . Wir sind schon seit langem verlobt . . .«
»Also nicht verheiratet«, stellte unerbittlich der Beamte fest, und er machte sich Notizen in ein dickes schwarzes Wachstuchheft, welches er aus seiner Aktentasche geholt hatte. »Haben Sie keinerlei Ausweispapiere bei sich?«
»Oh doch«, schwatzte sie. »Es wird sich schon etwas finden – dies und das, eine Visitenkarte oder so. Wenn Sie nur so freundlich wären, mir dieses Täschchen herüberzureichen . . .«
Der Beamte gab ihr stumm die Tasche, auf die sie gedeutet hatte. Tilly kramte aufgeregt; ließ eine alte kleine Puderdose auf den Fußboden fallen – der Beamte überlegte sich eine Sekunde, ob er sich bücken solle, um sie aufzuheben, unterließ es dann aber. Tilly mußte schließlich betrübt konstatieren: »Nicht einmal eine Visitenkarte ist da! – Aber hier!« rief sie mit kläglicher Munterkeit, »hier – eine kleine Tischkarte! Sie stammt von einem Diner bei Herrn und Frau Ottinger. Entschuldigen Sie, es ist kein recht seriöses Ausweispapier; aber immerhin, Sie sehen doch meinen Namen . . .«
Der Beamte betrachtete mit ungerührter Miene die kleine Karte. Auf ihr war abgebildet ein junges Mädchen, das an einer Schreibmaschine sitzt; man sah nur den Rücken. Das alberne Bildchen war umrahmt von einem Kranz aus Rosen und Vergißmeinnicht. Darunter stand Tillys Name in verschnörkelten Buchstaben.
»Sie waren bei Herrn Ottinger eingeladen?« erkundigte sich der Herr, um eine Nuance freundlicher. 165
»Natürlich«, bestätigte Tilly geschwind. »Ich bin sehr oft dort, beinahe jeden Tag. Frau Ottinger ist immer sehr freundlich zu mir. Auf keinem ihrer musikalischen Jours darf ich fehlen . . .«
Der Beamte schnitt ihr das Wort ab. »Das gehört nicht zur Sache!« – obwohl ihn doch gerade dieser Klatsch aus den besseren Kreisen lebhaft interessierte.
Das Verhör, das Tilly über sich ergehen lassen mußte, zog sich noch eine Weile hin. Der Beamte erledigte es mit Gewissenhaftigkeit; trotzdem war von Anfang an deutlich, daß er mit dem jungen Mädchen milde verfahren würde. Sein geübter Instinkt hatte begriffen, daß ihre Angaben mindestens zum größten Teil der Wahrheit entsprachen. Er notierte sich ihre Geburtsdaten, den Namen ihrer Mutter und die Adresse. Als sie ihm gestand, daß sie mit einem Ungarn verheiratet war, ward sein Gesicht noch ernster und fast ein wenig verwirrt. Er erinnerte sich wohl der heuchlerischen Angaben, die sie vorhin über Jugendfreundschaft und Verlobung mit dem nackten jungen Mann gemacht hatte. Außerdem fand er ihren exotischen Namen übertrieben schwer auszusprechen. Abschließend sprach er, tadelnd, aber nicht ganz ohne väterliches Wohlwollen: »Es macht immerhin einen merkwürdigen Eindruck –: eine verheiratete junge Frau, mit einem Fremden im Zimmer . . .« Dann zuckte er die Achseln, als wollte er sagen: Was geht es mich schließlich an? –, und wendete sich an Ernst.
Der hatte sich inzwischen in das zweite, unbenutzte Bett gelegt. Das Peinliche war, daß er sich stellte, als wäre er schon wieder eingeschlafen. Eine hoffnungslose, absurde kleine Komödie – da er ja gerade noch, nackt und wach, durchs Zimmer geschritten war. Der Beamte ließ sich überhaupt nicht auf sie ein. Zwischen ihm und Ernst begann der schreckliche Dialog.
»Ihren Paß, bitte!« – Ernst, den Schlaftrunkenen mimend: »Wie beliebt?« – Der Beamte, entschieden schärfer: »Ihren Paß!« – »Den habe ich nicht bei mir.« – »Wo haben Sie ihn!« – »Bei . . . bei Bekannten . . .« – Der Beamte, sehr höhnisch: »Bei Bekannten, aha!« Plötzlich auf ihn losfahrend: »Sie besitzen wohl gar kein gültiges Ausweispapier?!«
Nun versuchte Ernst sein Glück mit einer wehleidigen Miene und mit einer etwas künstlich-pathetischen Sprechweise. »Herr Kommissar – jetzt sage ich Ihnen die ganze Wahrheit. Mein Paß ist abgelaufen. Ich habe auch keine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz. Ich bin ein politischer Flüchtling.« – Daraufhin der Beamte, höflich aber bestimmt: »Stehen Sie auf und kommen Sie mit mir!« Ernst sagte noch, völlig sinnloser Weise: »In Berlin bin ich eine Art von Kollege von Ihnen gewesen – auch von der Polizei . . . Ich bin unschuldig in diese Lage gekommen . . .« – Der Herr blieb unnahbar. »Das können Sie alles auf der Wache erzählen. Ziehen Sie sich an!«
Tilly mischte sich ein. »Wenn ich vielleicht für meinen Freund irgendwie garantieren könnte . . .« Auf diesen Vorschlag hin hatte der Beamte 166 nur eine abwinkende Gebärde und einen Blick, der mehr gelangweilt als böse war. Ernst hatte damit begonnen, sich anzuziehen. Während er in die Socken fuhr – dicke, gestrickte Wollsocken, mit Löchern an den beiden Stellen, wo die großen Zehen sitzen – wollte er wissen: »Muß ich gleich wieder über die Grenze?« Seine Stimme kam schleppend, sein Gesicht sah sehr grau und müde aus. – »Das werden Sie alles erfahren«, sagte der Beamte.
Ernst stand schon in seinen Kleidern da. Der Beamte erkundigte sich – mehr der Form halber und sehr verächtlich: »Gepäck ist wohl nicht vorhanden?« Ernst schüttelte betrübt den Kopf. Er schien nicht verzweifelt, nicht einmal erregt; nur angewidert und traurig. Was ihm jetzt widerfuhr, war keine Sensation, kein Abenteuer. Er mußte stets damit rechnen, und es war schon gar zu häufig erlebt worden.
Mehr erschüttert war Tilly. Während Ernst schon von ihr fort und zur Türe ging, rief sie ihm flehend zu: »Wenn ich dir nur irgendwie behilflich sein könnte! Bitte, ruf mich an, sowie du weißt, was mit dir geschieht, oder laß mich anrufen!« Er nickte schweigend. Der Beamte deutete durch strenges Räuspern seine Ungeduld an. Tilly – um Ernst nur noch einen Augenblick zurückzuhalten – brachte hervor: »Laß mich bitte nicht ohne Nachricht! Ich warte auf eine Nachricht von dir!«
Der Beamte hatte die Türe geöffnet. Da rief Ernst und versuchte ein Lächeln: »Adieu, Mädchen! Es ist hübsch gewesen! Adieu!« Er hob die Hand, um zu winken. So hebt sie einer, der schon nicht mehr in diesem Zimmer steht, sondern weit entfernt . . . Der Beamte ließ ihm mit einer etwas schauerlichen Höflichkeit den Vortritt. Hinter ihnen schloß sich die Türe. Und Tilly, die leise aufschrie, begriff: ›Den sehe ich nicht mehr wieder. Auch Nachrichten kommen nicht mehr von ihm. Der ist weg. Den sehe ich nicht mehr.‹
Die Tränen liefen ihr übers Gesicht. Dabei kämpfte sie gegen den Asthma-Anfall. – ›Bleibe bei mir! Bitte, geh nicht fort! Ich habe mich so lang nach dir gesehnt – nun darf es nicht so schnell vorüber sein!‹
Ein paar Minuten später ertappte sie sich dabei, daß sie an sich selbst und ihre Zukunft dachte. ›Wahrscheinlich werde ich nun auch ausgewiesen. Nur dem Umstand, daß ich die Ottingers kenne, verdanke ich es, daß er mich nicht sofort mitgenommen hat . . . Wohin gehe ich dann? Nirgends kriege ich doch Aufenthaltserlaubnis . . . Meinst du, es ist ein Vergnügen, ohne Paß durch Europa zu ziehen?‹ – Da hörte sie wieder die Stimme ihres Geliebten, der jetzt dem Beamten auf die Wache folgen mußte. Als sie daran dachte, konnte sie sich nicht rühren, vor Erbarmen, Traurigkeit und Liebe.
Eine halbe Stunde später war sie angezogen und verließ das Zimmer, um hinunterzugehen. Mitten auf der Treppe blieb sie stehen. Beinah wäre sie umgesunken. Ihr war übel, alles drehte sich vor den Augen. ›Hoffentlich bekomme ich einen Kaffee‹, war alles was sie noch denken konnte.
In der Schankstube sah es traurig aus. Alle Stühle waren auf die Tische gestellt, mit den Beinen nach oben. Ein unfrisiertes Mädchen hantierte mit 167 Besen und Tuch. Die Fenster waren weit aufgerissen; eisige, graue Morgenluft kam herein. Trotzdem blieb der Geruch nach altem Zigarrenrauch und vergossenem Bier zäh im Raum.
Nein, sagte die Unfrisierte – der Kaffee war noch nicht gemacht. »Um sieben Uhr wird er fertig sein. Sie können ja warten.«
Vor sieben Uhr hatte Tilly ohnedies keinen Zug nach Rüschlikon. Sie setzte sich hin, um zu warten. ›Was wird die Mutter sagen, wenn ich früh morgens ankomme? Ich muß mir irgendeine gute Ausrede einfallen lassen, um sie zu beruhigen . . .‹ Jetzt war sie aber viel zu müde, um die gute Ausrede zu finden.
Das Mädchen, während sie den Staub von den Schränken wischte, bemerkte: »Die Polizei war ja hier.« – Tilly, die Stirn in den Händen, murmelte: »Das habe ich bemerkt.« Ihr war furchtbar krank und elend zu Mute.
Das Mädchen, den Besen zornig erhoben wie eine Waffe, erklärte: »Sie erwischen immer die Falschen. Unsereiner muß immer dran glauben. Den großen Halunken geschieht nichts. Die kommen durch.« Sie schwang den Besen, als wäre er eine Lanze – ein leichter, tödlicher Pfeil, den die Zürnende der ungerechten Welt ins Antlitz schleudern wollte.
Das Leben hat viele Inhalte, und es bringt mit sich mancherlei Erschütterungen. Niemals wird es nur von einem Ereignis, von einem Umstand bestimmt. Die Emigranten denken nicht immer, nicht ohne Unterbrechung daran, daß sie sich im Exil befinden und ein gewisses Regime in der Heimat hassen oder sogar bekämpfen. Nicht stets und pausenlos können sie »Emigranten im Hauptberuf« sein –: es wäre gar zu quälend und übrigens einfach langweilig. Zwar ist ihr Leben weitgehend beherrscht von der einen großen, alles verändernden Tatsache: dem Exil. Indessen hören einige große Gefühle nicht auf, das Menschenherz zu beschäftigen: Ehrgeiz und Liebe, Einsamkeit und Hunger, Freundschaft und die Angst vorm Tode – oder die Sehnsucht nach ihm . . .
Die Zeit vergeht, im Exil wie zu Hause. Menschen finden sich und verlieren sich; haben Erfolge oder Mißerfolge; werden krank, verfallen Lastern, werden wieder gesund oder sterben; verwelken oder blühen auf.
Meisje, zum Beispiel – das ährenblonde Kind halb holländischer, halb deutscher Abkunft; erst als Gärtnerin, dann als Krankenschwester ausgebildet – war aufs erfreulichste erblüht und jeden Tag immer noch ein wenig schöner geworden. Sie hieß nun Frau Doktor Mathes und hatte eine Stellung als Nurse in einem Englischen Krankenhaus zu Paris. Dort war auch Mathes als Arzt tätig. Beide hatten kolossales Glück gehabt, sie wurden von allen beneidet. Daß solcher Neid der Freunde und Kollegen sich in durchaus gutmütigen Grenzen hielt, lag daran, daß dies junge Paar sich weiter als besonders brav und hilfsbereit erwies. Auch der Doktor hatte sich entschieden zu seinem Vorteil verändert, unter Meisjens energisch-weiblichem Einfluß. Er sah nun viel adretter und zivilisierter aus; sein 168 Blick war fast nie mehr glasig, und der rotblonde Schnurrbart hing ihm nicht mehr feucht und fransig auf die Oberlippe.
Doktor Mathes und sein Meisje hatten bei der Schwalbe Hochzeit gefeiert; Fräulein Sirowitsch und Nathan-Morelli saßen dabei und tauschten Blicke voll Wehmut. Auch zwischen ihnen war seit längerem von Eheschließung die Rede. Nathan-Morelli – einst spöttisch und beinah unzugänglich – hatte sich derartig an die kluge, ernste Dame gewöhnt, daß er nun seinerseits Wert darauf legte, die Liaison mit ihr zu legalisieren. Nun aber hielt sie es für passend, sich ein wenig rar zu machen und noch etwas zu zieren. Sie stand auf eigenen Füßen, sorgte für sich selber, war auf niemanden angewiesen. Seit dem Frühling 1935 leitete sie einen großen Presse-Vertrieb – ein Bureau, in dem außer ihr zwei Mädchen und ein junger Mann beschäftigt waren und dessen Funktion darin bestand, die holländischen, französischen, englischen, schweizerischen Zeitungen mit journalistischem oder photographischem Material zu versorgen. Einer der Autoren, mit dem die Sirowitsch regelmäßig zu tun hatte, durch den sie gut verdiente und den sie ihrerseits nicht schlecht verdienen ließ, war Helmuth Kündinger.
An der deutschen Tageszeitung, die in Paris erschien, hatte er einen gehobenen Posten. Man schätzte seine gewandte Feder, seinen zugleich soliden und beweglichen Geist; die Artikel, die von ihm stammten, waren beliebt. Besonders wurde Kündingers Ansehen bei den Kollegen dadurch gesteigert, daß auch französische Gazetten sich für seine Beiträge interessierten. Nicht nur in Provinz-Blättern, sondern auch in Pariser Zeitungen tauchte ab und zu sein Name auf. So weit hatten es nur wenige exilierte deutsche Journalisten gebracht. Übrigens war Kündinger nun auch politisch tätig und galt als Verfasser oder Mitverfasser zahlreicher Broschüren und Manifeste, die entweder im Ausland oder, illegal, im Reiche wirken sollten. Hier war es vor allem Theo Hummler, mit dem er zusammenarbeitete.
Der wurde immer energischer und immer geübter, was die politisch propagandistische Aktivität betraf. Ein großer Teil der aufklärenden, warnenden, zum Widerstand rufenden Texte, die den geheimen, schwierigen, gefahrvollen Weg nach Deutschland fanden, stammte von ihm. Ein geheimnisvoller Nimbus begann, sich um seine Person zu bilden. Niemand wußte im Grunde genau, was er alles organisierte; wie viel wichtige und unsichtbare Fäden in seinen Händen zusammenlief en. Er trat häufig kleine Reisen an, deren Ziele unbekannt blieben. War er nach Prag unterwegs, oder nach Kopenhagen, oder gar nach Berlin? Richtete er einen Schwarzsender in Straßburg ein, dessen aufrührerische Verlautbarungen von deutschen Proleten, nachts und unter Lebensgefahr, abgehört wurden, oder konspirierte er mit Gesinnungsgenossen in Wien? . . . Theo Hummler redete nicht viel. Seine Miene wurde immer verschlossener, fast unheilverkündend vor lauter Energie und Geheimnis.
Bei anderen war es deutlicher, was sie taten und womit sie etwas 169 erreichten. Ilse Ill, zum Beispiel, die Kabarettistin, hatte plötzlich einfach Erfolg – in allen Zeitungen stand es zu lesen. Monate und Jahre war sie arbeitslos umhergegangen, fast verzweifelt und schon halb zerlumpt, und jedem, der nicht davonlief, hatte sie es erzählt: »Schon wieder hat ein Direktor zu mir gesagt, ich sei ihm zu häßlich. Dabei hat er mir zugegeben, ich hätte Talent. Wenn ich aber Talent habe, dann habe ich ein Gesicht. Und wenn ich ein Gesicht habe, dann bin ich doch nicht häßlich . . .« Gleichsam über Nacht hatte man es entdeckt, ihr Gesicht, und nun leuchtete ihre Photographie aus den Illustrierten. Sie hatte es geschafft, freilich unter Verwendung radikaler Mittel. Der Einfall war ihr gekommen, sich das Haar grasgrün zu färben. Dazu schminkte sie sich die Lippen schwärzlich, die Wangen violett, und wählte zu einem schwarzen engen Kleid eine scharlachrote Pierrot-Krause. Es fiel immerhin auf. Außerdem hatte sie sich ein Programm einstudiert, das an fürchterlicher Kraßheit nichts zu wünschen übrig ließ. Zunächst durfte sie es nur in einem sehr bescheidenen Nachtlokal zum Vortrag bringen. Dort fanden sich Leute, die es ansprach; daraufhin machte sie einen Selbstmordversuch. Die Pariser wurden neugierig. Die Direktion eines großen Montmartre-Kabaretts bot ihr einen Vertrag an. Sie wand sich schlangenhaft zwischen den Tischen, an denen Sekt getrunken ward, warf die schwarzen Arme gen Himmel, verzerrte das bläuliche Gesicht über dem macabren Putz der Scharlach-Krause und schrie tragische Obszönitäten. Dieses war der Erfolg.
Auch Bobby Sedelmayer hatte es noch einmal geschafft. Dem charmanten, unverwüstlichen und gutmütigen Burschen zeigte sich in Shanghai das Glück wieder treu, das ihn an der Avenue de l'Opéra vorübergehend verlassen hatte. Seine Berichte aus China hatten begeisterten Ton. »Meine Bar ist die schönste des Fernen Ostens!« meldete er enthusiastisch – und alle, die dort gewesen waren, bestätigten es. »Nur ihr fehlt mir!« versicherte Bobby den alten Freunden. »Sonst wäre ich restlos froh.« – Er hatte sein Lokal in einem der ersten Hotels der Stadt etablieren können. Es war ein geselliges Zentrum dieser Weltgegend. Bobby verdiente in so hübschen Mengen, daß er dem jüdischen Comité, für das Dora Proskauer arbeitete, eine runde Summe überweisen konnte. An den Bankier Bernheim schrieb er, nicht ganz ohne Spott: »Wenn Sie in dieses Unternehmen Geld investiert hätten, verehrter Freund, wären Sie fein heraus!«
Übrigens hatte der Financier die Verluste, die seine Beteiligung an der Rix-Rax-Bar für ihn bedeutet hatte, leicht verschmerzen können. Ihm ging es vortrefflich; sein geschäftliches Genie bewies sich auch unter den abnorm erschwerten Umständen seiner jetzigen Existenz. Die prachtvolle Wohnung in Passy hatte schon wieder fast ebenso viel mondäne Anziehungskraft wie einst die Grunewald-Villa. Die Elite der Emigration – Künstler, Politiker und die Herren von der Börse – begegneten sich dort mit dem höheren Personal der Botschaften, Pariser Zeitungsbesitzern und den halb deklassierten Mitgliedern des Faubourg St. Germain. Bernheim genoß die allgemeine Achtung. Einen Teil des Jahres 170 verbrachte er in einem kleinen Ort bei Palma, auf der Insel Mallorca, wo er eine Villa gekauft hatte.
Dort hielt sich Professor Samuel auf, auch während der Hausherr abwesend war. Samuel hatte sich verliebt in Mallorca, in die Landschaft und in die Menschen. Außerdem hatte er dort ein sorgenloses Leben. Der Bankier schätzte ihn als Künstler wie als Causeur; großzügig und ohne gar zu viel Wesens davon zu machen, stellte er ihm Haus und Garten, Dienerschaft und Weinkeller, Küche und Bibliothek zur Verfügung. Wenn Samuel sich bedanken und die Großmut seines Freundes preisen wollte, sprach Bernheim schlicht: »Ich bin stolz darauf, mein Lieber, daß in meinem Hause Meisterwerke entstehen.« – Wirklich gerieten dem Maler auf Mallorca Bilder von ungewöhnlicher Qualität: Ansichten von Meer und Bergen in starken, hart leuchtenden Farben, und reizende Portraits von Fischerknaben, Stierkämpfern oder Bauernfrauen. Eine kleine Gruppe von Künstlern – Schriftstellern oder Malern – begann sich um das Mallorcanische Idyll von Samuel und Bernheim zu bilden. Man verbrachte unschuldsvolle, blaue Tage am Strande und wilde Nächte in Palma. In Bernheims Villa war der Tisch stets für viele gedeckt. Wenn der Bankier in Paris weilte, vertrat ihn Samuel: schalkhaft und würdig, mit Grandezza, milder Klugheit und gepfeffertem Witz.
. . . Die Zeit verging, auch für die Emigranten. Schriftsteller schrieben Bücher – manche davon waren gut, andere ließen zu wünschen übrig –; Politiker entwarfen ihr Programm und stritten mit den Kollegen darüber; Zeitschriften wurden gegründet und gingen ein; Frauen gaben sich hin, erwarteten ein Kind, ließen es abtreiben oder bekamen es; Geschäftsleute spekulierten; Ärzte und Rechtsanwälte hatten keine Praxis, aber doch ab und zu Klienten; Schauspieler hatten kein Engagement, aber durften sich doch hier und dort öffentlich zeigen. Das Leben stagniert nicht, geht weiter, bringt Überraschungen, Veränderungen, Sensationen, Schmerzen, kleines Glück, heftigen Kummer, Langeweile, Lust, Müdigkeit, Hunger, Schreck, Enttäuschung.
Sogar für die arme Friederike Markus sollten schließlich Abenteuer kommen. Wie lange Zeit hatte sie nun, einsam und abgetrennt von allen übrigen, in ihrer tristen Wahnwelt gelebt? Jahre waren vergangen . . . Sie ging immer noch mit ihrem gelben Handtäschchen umher, in dem die Parfümflaschen an die Tuben mit Zahnpasta klapperten, und immer noch verfaßte sie ihre endlosen Epistel an britische Politiker, italienische Dirigenten oder deutsche Dichter. Tag und Nacht aber, ob sie schrieb oder Eau de Cologne verkaufte, träumte sie von jenem Gabriel, der sie verlassen hatte. Da erschien er ihr.
Als sie wieder einmal in einem Bistro saß und im Begriffe war, eine ausführliche Klage an Frau Lagerlöf abzuschließen, mußte sie plötzlich aufschauen vom Papier. Ein Windhauch hatte sie angerührt; aber diesmal war er nicht frostig böse, vielmehr tröstlich mild: Hauch, Glanz und Wohlgeruch in einem. Friederike, die ihren Blick sehnsüchtig ausschickte, 171 erkannte Gabriel; in höchst anmutiger Pose stand er gegen die Theke gelehnt. Er trug einen grauen Sportanzug mit weiten Pumphosen; von den Schultern aber wuchsen ihm silbrigblaue Flügel, starr und leuchtend, wie angefertigt aus einem biegsamen, starren und spröden Metall. Unter einer schicken englischen Schirmmütze, die er tief in die Stirn gezogen trug, glänzten die Augen des huldreichen Engels derartig stark, daß Frau Viola sich zugleich entsetzt und beseligt fühlte. Ach, ihr Gabriel war wiedergekommen, alles konnte gut werden. Siehe – er hielt ein kleines Glas, gefüllt mit golden bräunlicher Flüssigkeit, auf kokette Art in der Hand. Den rechten Fuß hatte er lässig vorgestellt, wie ein Tänzer, der ausruht von seinen herrlichen Sprüngen, und der, noch in der Ruhe, den hohen Anstand, die spielerische Grandezza des Tanzes bewahrt. Strahlenglanz umfloß ihn; die arme Viola zitterte davor, es könnte jene Rosenwolke wieder herbeigeschwebt kommen, auf der die Götter ihre Lieblinge entführen. »Gabriel!« rief sie schluchzend und reckte die hageren Hände nach ihm.
Ein mürrischer alter Kellner wunderte sich darüber, daß die eifrig schreibende Dame plötzlich mit weinerlich-schriller Stimme einen Herrn anrief, den sie vorher gar nicht beachtet hatte. Er befand sich schon seit einer Viertelstunde im Lokal und trank gerade seinen dritten Cognac. Als die Dame unvermittelt: »Gabriel!« schrie, wandte er sich ihr zu und lächelte wie jemand, der dergleichen gewohnt ist. »Wie beliebt, bitte?« fragte er mit einer Stimme, die sowohl kräftig als auch einschmeichelnd war.
Die Frau am Tisch schien aus einem tiefen Traum zu erwachen. »Entschuldigen Sie!« brachte sie mühsam hervor. »Ich habe Sie . . . mit einem Bekannten verwechselt . . .« Die Hände und die Lippen zitterten ihr. ›Sie sieht ja besorgniserregend aus,‹ dachte der junge Mann. Während er federnden Schrittes auf sie zutrat, sprach er mit einer galanten Neigung des Oberkörpers: »So etwas kann passieren!« Und er fügte hinzu – wobei er sich ein geübtes Don Juan-Lächeln wie eine feine seidene Maske übers Gesicht zog –: »Mein Name ist Walter Konradi. Sind Gnädigste auch Emigrantin?«
. . . Monoton zugleich und dramatisch bewegt verlief das Leben der beiden Knaben, Martin und Kikjou. Immer noch bewohnten sie miteinander das zu teure Atelier, rue Jacob, mit dem schönen Blick aus dem großen Fenster über die Dächer und in die winkligen Straßen des Quartiers. Immer noch vergingen ihnen die langen Nächte mit den Gesprächen und den Liebkosungen; die kurzen Tage aber verschliefen sie beinah ganz. Dazwischen gab es Szenen, Auftritte mit Tränen, Schreien und wilden Worten. Manchmal trennten sie sich; aber niemals länger als für einige Wochen. Es war immer Kikjou, der abreiste: zu den Verwandten, nach Belgien oder Lausanne, oder mit einer älteren Dame, die ihm nachstellte, nach London, oder mit einem jungen Amerikaner nach Biarritz. Martin 172 blieb – und eines Tages trat auch Kikjou wieder ein, das lieblich-bleiche Affen-Gesichtchen starr vor Zärtlichkeit, Hysterie und einer Freude des Wiedersehens, in die sich Verzweiflung mischte: »Me voilà, da bin ich wieder, alles kann von vorne anfangen – wir kommen voneinander nicht los.«
Und alles fing wieder von vorne an. Ewig wiederholten sich Martins Vorwürfe: »Du betrügst mich! Wie eine kleine Hure bist du, im Gesicht und am ganzen Körper, auch deine Frömmigkeit ist nur eine besonders unappetitliche Form deiner maßlosen Geilheit.« Darauf Kikjou: »Du bist es, der mich täglich und stündlich betrügt – mit dem Gift, mit dem Teufelszeug!« – Und Martin, nicht ohne Hohn: »Du nimmst es ja selber! Heuchler du! Du kannst ja selbst gar nicht mehr auskommen ohne deine chose infernale!« – Kikjou: »Spotte auch noch! Triumphiere auch noch! Du hast mich zum Morphinisten gemacht!«
Er hatte nicht widerstehen können. Die Zeiten, da er mit einer etwas grausamen Neugierde Martins Exzesse beobachtet hatte, waren dahin. Die Fremdheit, in die ihm Martin entglitt, wenn die Droge sein Gesicht und seinen Blick veränderte, hatte anfangs für Kikjou einen Reiz bedeutet. Schließlich wurde es unerträglich. Zwei Menschen, von denen der eine intoxikiert ist, der andere nicht, können auf die Dauer nicht zusammen sein. Sie leben in verschiedenen Welten: Kikjou begriff dies bald. Eines Nachts verlangte er danach, la chose infernale zu kosten. Wie geschwind gewöhnte man sich! Er konsumierte sie in kleineren Dosen als Martin, auch noch nicht mit der gleichen Regelmäßigkeit. Aber er spürte doch schon, wie er verfiel. Er beichtete, sowohl dem Onkel in Belgien als auch dem Priester. Aber er konnte nicht aufhören. Der Teufel hatte ihn fest in den Krallen. Der Teufel vermag mannigfache Gestalt anzunehmen. In einem winzigen Paketchen aus festem roten Papier findet er Platz . . .
Die beiden magerten ab. Ihre Gesichtsfarbe wurde grau, die Haltung schlaff, der Appetit ließ nach, auch die sexuelle Potenz. Es gab Zeiten, da Kikjou beinah gar nichts mehr bei sich behalten konnte; er übergab sich fast nach jeder Mahlzeit. Oft blieb er den ganzen Tag im Bett liegen, während Martin wenigstens abends sich für einige Stunden erhob. Er ging zur Schwalbe und plauderte mit David Deutsch oder den anderen Freunden. Nach einer gewissen Weile freilich begann er zu gähnen, apathisch, schlapp und melancholisch zu werden. Dann zog er sich auf die Toilette zurück – um nach einer Viertelstunde frisch und munter wieder zu erscheinen. Mit neuen Kräften mischte er sich ins Gespräch, das er bald beherrschte. Er war amüsanter denn je; auf seine kokett gedehnte, zugleich pedantische und brillante Art formulierte er Aperçus über Politik, Menschen oder Literatur. Alle Blicke hingen an seinem schönen, trägen und bleichen Gesicht. Seine grau-grün verschleierten Augen, in denen die Pupillen hart und winzig klein waren, hatten eine neue Macht, eine geheimnisvoll starke Beredsamkeit bekommen. David liebte und 173 bewunderte ihn. Er war seinerseits tief versponnen in seine soziologisch-philosophischen Arbeiten; Martin war fast der einzige Mensch, für den er noch ein echt lebendiges Interesse fühlte. Mit keinem war das Gespräch so anregend – fand David –, wie mit diesem jungen Poeten, der fast nichts schrieb und sich selbst mählich zugrunderichtete. David arbeitete an einem Institut für soziale Forschung und war Mitherausgeber einer wissenschaftlichen Monatsrevue. »Wie gut könnten wir dich dort brauchen!« sagte er Martin oft. »Dir fällt mehr ein als den meisten Professoren.« – »Ich kann nicht.« Martin hob nur müde die Schulter. »Du mußt mir ein bißchen Geld leihen, David. Pépé will nicht länger warten. Morgen oder übermorgen bekommst du es ganz bestimmt wieder.«
Pépé war die große, herrschende Figur in Martins Leben geworden. Der Händler hatte inzwischen häufig sein Stammlokal wechseln müssen. Auch verhaftet war er einmal gewesen. In dieser Zeit hatte sein Cousin »das Geschäft« geführt. Aber mit dem war nicht auszukommen; statt Morphine zu nehmen, trank er Schnaps – was viel unbekömmlicher war und ihn jähzornig machte. Pépé hingegen war ein Gentleman; in seiner Art fast ein Weiser. Übrigens hatte er für Martin und Kikjou die zärtlichste Sympathie; er nannte sie »meine Lieblingskinder« und räumte ihnen längere Kredite ein als den übrigen Kunden.
Trotzdem gab es ständig finanzielle Schwierigkeiten – nicht nur mit Pépé, sondern auch mit der Patronne des Hotels. Alte Korellas schickten immer weniger und immer unregelmäßiger: die komplizierten und strengen Devisen-Bestimmungen waren schuld, wie sie behaupteten. Martin glaubte es nicht; er sagte, es fehle an gutem Willen: »sie lassen ihren kranken Sohn glatt verhungern.« Kikjou seinerseits war mit dem Papa, der seinen Lebenswandel permanent mißbilligte, immer noch nicht versöhnt. Die Verwandten in Lausanne ließen ihn zappeln, wenn sie irgend Lust dazu hatten. Der belgische Oheim kam einzig und allein als Spender geistlichen Trostes in Frage. Oft waren die beiden Knaben in der rue Jacob ganz verzweifelt. Wenn David Deutsch und der hilfsbereite Marcel nicht gewesen wären, hätte man sie längst aus dem Hotel gewiesen.
Martin versuchte zu arbeiten. Der große Roman, von dem er sich so viel versprochen hatte, kam nicht zustande. Hingegen plante er nun eine kleine Serie von Prosa-Stücken, teils hymnischer teils analytischer Art –: Tagebuchseiten, Bekenntnis, politische Aphorismen, philosophische Lyrik. Als Motto hatte er eine Stelle von André Gide gewählt:
»Il y a dans tout aveu profond plus d'éloquence et d'enseignement qu'on peut croire tout d'abord.«
Veröffentlicht hatte er in all der Zeit nichts, außer eine kritische Studie über den »verruchten Lieblingsdichter«, den deutschen Lyriker, Arzt und Denker, der, in einer Mischung aus irrationaler Berauschtheit, Hysterie und Opportunismus, ein Mitläufer des Nazi-Regimes geworden war. Martins Artikel, dem die intime Kenntnis des Gegenstandes, Liebeshaß, Gram und Enttäuschung eine gewisse intellektuelle Beschwingtheit, einen 174 zornig-zärtlichen Impetus verliehen, war in einer der neu gegründeten literarischen Monatshefte erschienen und hatte in Kennerkreisen Aufsehen gemacht. Nun erst recht sagte man allgemein, wenn man von Martin sprach: »Es ist schade um den Jungen.«
Im Februar 1936 waren die beiden gerade in einem besonders deplorablen Zustand. Sie beschlossen, für einige Wochen nach Südfrankreich zu fahren; Kikjou hatte eine größere Überweisung aus Lausanne erhalten. Pépé lieferte ihnen den Heroin-Vorrat, mit dem sie auskommen wollten. Denn ein Zweck der Reise war, mit den Dosen »herunterzugehen«.
Der kleine Ort Villefranche liegt in der Nähe von Nice. Sie wohnten in einem Hotel am Hafen. Ihr Zimmer hatte hellblau getünchte Wände und den hübschen Blick auf die Bucht. Die Tage waren sehr milde, Himmel und Wasser schimmerten, vor dem blauen Hintergrund ließen Boote das starke Braun ihrer Segel leuchten. Martin und Kikjou waren ein paar Tage lang glücklich. Sie liebten den Ort mit seinen engen und stillen Gassen, die steil zum Berg hinauf stiegen und deren Schläfrigkeit sich festlich belebte, wenn ein amerikanisches Schiff anlegte. Dann füllten sich die Pfade, die Bars und die Plätze mit den Matrosen; sonst gab es aber hier nur bleiche Kinder, die schwermütig in der Nase bohrten, und fahle Katzen, die lautlos durch die gehäuften Abfälle huschten. – Martin und Kikjou liebten einander. Sie versprachen, daß sie sich niemals verlassen wollten. Sie waren nicht »heruntergegangen« mit den Dosen, sondern konsumierten reichlicher denn je. Nach acht Tagen war ihr Vorrat zu Ende.
Sie telegraphierten an Pépé; er antwortete nicht. Sie versuchten ihn telephonisch zu erreichen; umsonst. Vielleicht war er wieder einmal verhaftet worden. Sie liefen zum Apotheker in Villefranche und bettelten um einige Ampullen Morphine. Der Apotheker wurde grob, schrie sie an, mit solchem Gesindel wolle er nichts zu tun haben, und schmiß sie aus seinem Laden. In Nice fanden sie einen, der höflicher war; er verkaufte ihnen aber nur eine kleine Dosis Eucodal und ein paar Pantopon-Tabletten. Das stillte nur den ersten, gierigsten Hunger. Nach ein paar Stunden fing der Jammer wieder an.
Es war beinah nicht auszuhalten. Sie stürzten wie die Irrsinnigen durch das Zimmer; schrien sich Beleidigungen zu. Beide aufs äußerste gereizt, beide furchtbar erbittert; den halben Tag verbrachten sie in einer Wanne voll heißem Wasser, weil es dort noch am erträglichsten war. Im warmen Naß hilflos aneinander geschmiegt, schluchzten sie lange. Wie wir leiden! Armer Kikjou! Ärmster Martin! Wie wir leiden müssen! – Abends setzte sich Martin in den Zug nach Marseille. Am nächsten Vormittag kam er mit neuem Vorrat zurück.
Sie labten sich beide; Kikjou zog das Zeug durch die Nase hoch – er hatte eine nervöse Angst vor dem Einstich der Spritze –, während Martin sich die Injektion »intravenös« – nicht »subkutan« – in den Arm applizierte. Dazu bedurfte man eines gewissen Talentes und langer Übung. Der Arm wurde abgebunden, wie zu einer Operation. Das Instrument, 175 dessen Nadel in der Ader steckte, füllte sich mit schäumend-trüber, roter Flüssigkeit: es war Blut, Martins Blut – Kikjou beobachtete den Vorgang mit Ekel und Interesse. Die Wirkung war, dank der intravenösen Injektion, wesentlich stärker und schockhafter. Martin, übermüdet von der nächtlichen Reise, betäubt von der Droge, verfiel in sehr schweren Schlaf. Auch Kikjou, der mehr als gewöhnlich durch die Nase hochgezogen hatte, schlief ein. Als er Stunden später erwachte, fand er den Freund neben sich, weiß im Gesicht und ganz leblos. Er hielt ihn für tot und schrie leise auf. Kurz entschlossen schrieb er einen Zettel – »Ohne dich kann ich nicht leben! Niemals!« –, und schluckte neun Veronal-Tabletten, um möglichst schnell seinerseits zu sterben. Pathetische Mißverständnisse, wie im letzten Akt von Romeo und Julia – den armen Kikjou hätten sie leicht das Leben kosten können. Er wurde gerettet; ein Arzt kam herbei, es war vier Uhr morgens, der Doktor schimpfte, aber er pumpte Kikjou den Magen aus.
Nun hatte Kikjou genug. Er hatte dem Tod ins Auge geblickt, um Martins willen, seine Geduld war am Ende, er rief aus: »Alles was wir tun, ist Greul und Schande. Ich verlasse dich, Martin. Morgen beginne ich eine Entziehungskur, die ich durchzuführen gedenke. Dich schaue ich nicht mehr an, ehe auch du völlig los bist von der chose infernale. Dies ist Teufelsdreck!« Er schleuderte ein Paketchen mit dem kostbaren Heroin aus dem Fenster. Martin raste, teils wegen der vergeudeten Droge, teils weil der Geliebte ihn verlassen wollte. »Das kannst du nicht tun!« heulte er auf; unklar blieb, worauf es sich bezog.
Sie standen sich vor der hellblau getünchten Wand gegenüber, zwei kampfbereite Jünglinge, beide zitternd, beide mit weißen Lippen.
»Ich kann es!« schrie Kikjou. »Denn ich will leben. Gott hat mich nicht dazu geschaffen, daß ich mich zugrunderichte. Was wir treiben, das ist die Sünde wider den Heiligen Geist.«
»Unsinn!« Martin war aufs äußerste erregt und zornig. »Gesteh doch gleich, daß du mich nicht mehr liebst! Habe doch den Mut, es mir ins Gesicht zu sagen! Ich aber liebe dich noch.« Es klang schrecklich, wie eine Kampfansage. »Und ich lasse dich nicht. Du kannst mich nicht töten.«
Kikjou, etwas leiser: »Ehe ich mich von dir töten lasse . . .« Dann scheuchte er Martin, der sich ihm nähern wollte, von sich, wie man einen bösen Geist verscheucht.
Beide fühlten: diesmal war es ernst. Sie hatten sich mancherlei dramatischen Spaß und viel hysterisches Amüsement gegönnt. Diesmal ging es ums Ganze. Die Pantomime ihres bitteren Abschiedes hatte sich vom Hintergrund der hellblauen Wand gelöst. Nun wurde sie vor dem geöffneten Fenster zu Ende gespielt; dahinter leuchtete das Meer mit den braunen Segeln. – Keine Umarmung mehr; kein Gruß mehr; stummes, blindes Auseinandergehen.
Martin kehrte alleine nach Paris zurück. 176