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Marion setzte sich durch.
Es war nicht leicht gewesen; mit dem Erfolg ihres ersten Pariser Abends war keineswegs schon etwas Wesentliches erreicht. Applaus von ein paar hundert Freunden oder Gesinnungsgenossen – das bedeutet nicht viel. Eine literarische Rezitatorin findet auf die Dauer kein Publikum; dies bekam Marion immer wieder zu hören. Die Leute gehen ins Kino; kaum sind sie in ein Theater zu bringen; ganz gewiß nicht in einen Saal, wo eine Schauspielerin ohne Engagement Verse von Goethe oder Hölderlin spricht. »Und überhaupt: welches Wirkungsgebiet kommt für Sie in Frage, da Sie in Deutschland selber nicht auftreten dürfen? Die paar tausend Emigranten werden Ihre Säle nicht füllen . . .« – »Es gibt Länder, wo man mich verstehen wird,« sagte Marion zuversichtlich. »Es gibt die Schweiz, Holland, Österreich, Skandinavien, die Tschechoslowakei . . .«
Sie ließ sich nicht einschüchtern oder mutlos machen. Zunächst veranstaltete sie noch einige Abende in Paris, trat auch in politischen Versammlungen auf. Dann wurde in Straßburg ein literarisches Kabarett eröffnet, dessen Attraktion sie zwei Monate lang war. Von dort aus fuhr sie nach Zürich, wo sie im Rahmen einer politisch-satirischen Revue vier Gedichte rezitierte, zwei klassische und zwei moderne. Sie war beim Publikum bald so beliebt, daß drei eigene Abende, die sie selbst riskierte, starken Zulauf hatten. Daraufhin bewarben sich um sie die Bühnen verschiedener Schweizer Städte. Auch aus Österreich und der Tschechoslowakei kamen Angebote. Sie lehnte ab. Es lockte sie nicht mehr, schien ihr kaum noch lohnend, Ehebruchskomödien oder die Maria Stuart zu spielen. Das Repertoire der Stadttheater oder privaten Bühnen interessierte sie nicht; es hatte zu wenig Zusammenhang mit den Dingen, die ihr Herz und ihren Geist beschäftigten. Ihr Ehrgeiz war in anderer Richtung fixiert. Sie wollte politisch wirken. Sie glaubte eine Sendung zu haben, und mit stolzem Glück spürte sie: Ich bin ihr gewachsen.
Am meisten war ihr an den eigenen Abenden gelegen, deren Programm sie allein bestimmte. Mit einem Kabarett oder einem Revuetheater schloß sie nur dann ab, wenn man ihr die Auswahl der Gedichte, die sie bringen wollte, ohne Vorbehalt überließ. Viele der Direktoren machten anfangs Einwände. Bald aber stellte sich heraus, daß sie »zog«; daß um ihretwillen die Leute kamen und das Haus immer voll war, wenn Marion von Kammer angekündigt wurde. Man räumte ihr also die Freiheiten ein, auf denen sie bestand.
Sie gab Abende in Zürich, Basel, Bern, St. Gallen, Luzern, Olten und anderen Orten der Schweiz. Ihre stärksten Erfolge hatte sie in der Tschechoslowakei. In Prag, Brünn und Preßburg, Karlsbad und Marienbad wurde sie vom Publikum und von der Presse gefeiert. »Die antifaschistische Jungfrau von Orléans am Vortragspult!« schrieb ein Prager Literat über 177 sie. Zunächst meinte er es wohl ironisch; aber Marions Bewunderer griffen die Wendung auf, und schließlich benutzte sie sogar ihr Manager in seinen Annoncen. – Im Sommer 1935 arbeitete sie in den böhmischen Badeorten; dann wieder in der Schweiz, in Davos, Arosa, St. Moritz. Zum Schluß der Sommersaison stellte sie sich noch dem internationalen Publikum der Salzburger Festspiele vor. Für die Herbst-Monate hatte der Agent ihr eine große Tournee in Holland eingerichtet. Daran schlossen sich Engagements in Belgien und Luxembourg; dann wieder in der Schweiz und der Tschechoslowakei. Es war ein anstrengender Winter. In Wien durfte sie nicht auftreten, weil die österreichische Regierung auf die Empfindlichkeit des Dritten Reiches Rücksicht nahm. In Zürich machten faschistische Studenten Skandal, als sie das Gedicht eines Autors sprach, der in einem deutschen Konzentrationslager ermordet worden war. Die Polizei warf die Ruhestörer – von denen sich später herausstellte, daß sie Geld vom Deutschen Konsulat bekommen hatten – aus dem Saal. Seit diesem Zwischenfall hatte Marion Schwierigkeiten, die Arbeitserlaubnis in der Schweiz zu bekommen; von einigen besonders vorsichtigen Kantonen wurde sie ihr verweigert. Nicht nur in der Schweiz, auch in der Tschechoslowakei und in Holland interessierten sich nun die Behörden für die Auswahl der Verse, die sie sprechen wollte. Überall vermied man womöglich Unannehmlichkeiten mit den reizbaren deutschen Gesandtschaften oder Konsulaten. Marion kämpfte wie eine Löwin um jede Zeile ihres Programms. Manches mußte sie opfern. Was stehenblieb, war immer noch genug, um den Nazi-Spionen, die von ihren Vorgesetzten in den Saal geschickt worden waren, den kalten Schweiß auf die Stirnen zu treiben.
Deutsche Dichter im Exil schrieben Verse, eigens für die Vortragskünstlerin Marion von Kammer. Oft waren es nur gereimte Leitartikel, politische Manifeste in »freien Rhythmen«, denen Marion durch ihre Stimme, durch das Pathos ihrer Haltung und ihres Blickes erst die Würde und das Gewicht verlieh. Aber inniger war sie bei der Sache, wenn sie Gedichte oder Prosa der Klassiker sprach. Am populärsten war der Heinrich-Heine-Abend. Alle im Saal erschauerten, wenn die Zürnende rief:
»Nicht gedacht soll seiner werden . . .
Ausgelöscht sein aus der Menschen
Angedenken hier auf Erden,
Ist die Blume der Verwünschung –
Nicht gedacht soll seiner werden!
Herz, mein Herz, ström aus die Fluten
Deiner Klagen und Beschwerden,
Doch von ihm sei nie die Rede –
Nicht gedacht soll seiner werden!
Nicht gedacht soll seiner werden,
Nicht im Liede, nicht im Buche – 178
Dunkler Hund im dunklen Grabe,
Du verfaulst mit meinem Fluche!
Selbst am Auferstehungstage,
Wenn, geweckt von den Fanfaren
Der Posaunen, schlotternd wallen
Zum Gericht die Totenscharen
Und alldort der Engel abliest
Vor den göttlichen Behörden
Alle Namen der Geladenen –
Nicht gedacht soll seiner werden.«
Jeder begriff, wen diese fürchterliche und schöne Stimme, die jetzt wie eine große Glocke drohend läutete, meinte und verdammte. Marions Gesicht war sehr starr, wenn sie diese schauerliche Formel des Fluches sprach. Aber unter der lockeren Purpurfülle des Haars brannten grausam die schräg gestellten Katzenaugen.
Ihre Stimme wurde berühmt in Europa. Junge Schauspielerinnen begannen, ihre stürmischen und zärtlichen, zornigen und schmelzenden, aufrührerischen und süßen Akzente zu kopieren. Sie wurde viel bewundert und viel geliebt. Ihr Blick erschreckte; aber es verführte ihr großer, leuchtender Mund, und Lyriker oder hysterische junge Mädchen schrieben Hymnen auf ihre mageren, nervösen und kraftvollen Hände. – Sie wurde sehr geliebt, und bitterlich gehaßt. Die Zeitungen im Reich brachten Schmähartikel gegen sie. In den Witzblättern von Berlin und München erschien ihre Karikatur: das kurze Gesicht unter dem wilden Haar, die gespreizten Hände, die mageren Glieder im eng anliegenden schwarzen Kleid. Hatte man Angst vor ihr und vor ihrer Stimme, daß man sich so viel und zornig mit ihr beschäftigte? Die Nazi-Regierung entzog ihr die deutsche Staatsbürgerschaft: sie ward »ausgebürgert« – was wiederum nur eine Reklame für sie bedeutete. Schon ehe ihre Feinde sie mit dieser hilflosen und etwas komischen Geste zu züchtigen und erniedrigen meinten, hatte sie ihrerseits öffentlich erklärt, daß sie ihren deutschen Paß nicht mehr benutzen wolle. Sie reiste mit einem provisorischen tschechischen Papier, einem »Fremdenpaß«, den man ihr in Prag zur Verfügung gestellt hatte. Ihre Popularität in den Kreisen, auf die sie wirken wollte, steigerte sich noch dank den Beleidigungen, mit denen die Herren aus Berlin sie verfolgten. Niemals war Marion so gefeiert worden wie in den ersten Wochen nach der »Ausbürgerung«. Damals kam sie gerade in die Tschechoslowakei zurück. Es war im Januar des Jahres 1936.
Immer zahlreicher, immer inniger wurden die dankbaren, enthusiastischen Briefe. Häufig kamen sie von Deutschen – Feinden des Nazi-Regimes, die es aber im Reiche aushalten mußten und nur für kurzen Aufenthalt im Ausland waren. »Wir hatten angefangen, unsere Heimat zu hassen«, schrieben sie. »Das Deutschland, in dem wir leben müssen, ist 179 hassenswert. Sie haben uns wieder an ein anderes erinnert, haben ein besseres Deutschland für uns lebendig werden lassen. Das vergessen wir Ihnen nie.«
Marion beantwortete viele Briefe; vermied es aber, halb aus Scham, halb aus Trägheit, mit ihren Bewunderern persönlich in Berührung zu kommen. Manche waren von bemerkenswerter Insistenz. Als sie einen Monat lang in einem Prager Kabarett auftrat, gab es eine Dame, die ihr jeden Abend Blumen schickte: dreißig kleine rote Rosensträuße. Als das Engagement zu Ende ging, am 31. Januar endlich, schickte Marion dieser zähen Verehrerin einen Zettel ins Parkett: es würde ihr eine Freude sein, sich persönlich für die vielen schönen Blumen bei ihr zu bedanken. Drei Minuten später war die Dame da und sah düster aus. Sie trug ein streng geschnittenes dunkles Kostüm und das glatte schwarze Haar sehr kurz geschoren. »Ich heiße Emma von Barlow«, sprach sie und verneigte sich knapp. »Von Beruf bin ich Bildhauerin. Ich möchte Sie modellieren, Marion von Kammer.« Ihre Stimme tönte sonor und tief; auf der Oberlippe lag ein starker Flaum von brünettem Schnurrbart. »Ich möchte Sie modellieren«, fuhr sie fort, ohne auf Marions Antwort zu warten, »ehe ich Europa verlasse. Denn hier bleibe ich nicht!« versicherte sie, fast zornig, als hätte jemand sie zurückhalten wollen. »Was soll ich noch in Europa? Niemand interessiert sich mehr für Skulpturen. Europa ist fertig, aus, zu Ende – das weiß ich schon lang. Ich gehe nach Ekuador.« Dies erklärte sie nicht ohne einen düsteren Triumph, und sie fügte leiser hinzu: »– Ganz allein.« Geld habe sie gerade genug für die Reise und um ein paar Monate drüben auszuhalten, erklärte sie noch. »Dann wird man weitersehen.« Das Leben in jener Gegend sei billig – hatte man ihr berichtet. »Ein reiches Land; keine Staatsschulden.« Sie sprach fast drohend vor Sachlichkeit. »Ölschätze!« rief sie, als ob dies alles für sie bedeutete. »Und ein schöner Menschenschlag – was mich übrigens kaum noch zu interessieren braucht; denn ich wechsle meinen Beruf. Sie, Marion von Kammer, sollen mein letztes Modell sein! Vielleicht werde ich nun Pianistin in einer Jazz-Kapelle. Ich spiele recht gut Klavier.«
Als Marion endlich zu Worte kommen durfte, suchte sie der Besucherin plausibel zu machen, daß es ihr leider nicht möglich sei, sie im Atelier aufzusuchen. »Ich habe morgen einen Abend in Bratislawa; übermorgen einen in Brünn. Wenn man nur etwas mehr Zeit hätte . . .« Es tat ihr wirklich leid, Emma von Barlow enttäuschen zu müssen. Die stand einen Augenblick sprachlos; blieb indessen gefaßt. »Es macht nichts.« Die Stimme klang etwas heiser. »Es macht wirklich gar nichts. Denn ich kenne Sie ja. Ich habe Sie lange genug beobachtet, um ihr Portrait aus dem Kopfe zu schaffen. Ich weiß jede Linie an Ihrem Körper.« Dabei funkelte es in ihren Augen, die dunkel waren und sehr nah beieinander lagen, unter einer trotzig vorspringenden, niedrigen Stirn. Marion, etwas beunruhigt, zog sich einen Schritt von ihr zurück. »Jetzt muß ich wirklich gehen«, sagte sie. »Ich wünsche Ihnen alles Gute für die Reise.« Während sie dies vorbrachte, schnürte ihr plötzlich ein großes Mitleid die Kehle zu. Sie meinte, 180 schluchzen zu müssen. Sie sah diese Frau – diese einsame Frau, die vielleicht eine echte Künstlerin war – auf dem Deck eines kleinen Schiffes, das sie wochenlang über den Ozean trug. Schließlich würde es sie absetzen in einem Lande, wo sie niemanden kannte. Wen hatte sie in Deutschland zurückgelassen? Eine alte Mutter? Einen Mann? Eine Freundin? – Eine Freundin, taxierte Marion. Und warum mußte diese Dame, Emma von Barlow, in die Einsamkeit und in die Fremde? Warum hatte sie es in der Heimat nicht aushalten können? Durch was wurde sie so empört und so abgestoßen? – »Danke!« sagte sie nun, und dies war der Abschied. Sie neigte sich über Marions Hand – Kavalier vom pomadisierten Scheitel bis zu den dicken Gummisohlen ihrer breiten Halbschuhe. »Danke! Nun nehme ich doch eine gute Erinnerung an Europa mit, da ich Sie gehört – und gesehen habe, Marion von Kammer!« Dann war sie hinaus, eiligen, festen Ganges, und ohne sich noch einmal umgedreht zu haben.
Ein anderes Mädchen, das von Marion ausnahmsweise empfangen wurde, eine junge Kommunistin, kam direkt aus einem deutschen Gefängnis. Dort hatte sie sich zwei Jahre lang aufhalten müssen. Zwei Jahre! –: welch eine Zeit! Und wie überstand man dergleichen? Diese hatte es in guter Form überstanden. In der Tat, sie schien beinah munter. Ihr Gesicht, das Marion mit Angst und Neugier prüfte, war nicht entstellt; nicht einmal besonders mager sah es aus. Das Mädchen war sogar etwas verächtlich, weil Marion sich bestürzt zeigte. »Zwei Jahre? Was ist denn das?« Sie zuckte die Achseln. »Ich hatte noch Glück, daß ich nicht ins Lager gekommen bin.« Das Geld, das Marion ihr schenkte, nahm sie wie etwas Selbstverständliches hin. Sie war nicht sehr liebenswürdig, wirkte aber vertrauenerweckend. »Sie tun gute Arbeit«, lobte sie Marion, ohne Enthusiasmus, fast erstaunt, wie eine Lehrerin, die schwer zufriedenzustellen ist und nun sagt: Die Leistung ist besser, als ich sie von dir erwartet hätte, mein Kind. »Gerade, daß Sie den Leuten so klassisch kommen, ist geschickt. Damit fangen Sie das bürgerliche Publikum.« Sie tat, als wäre es nur natürlich und angebracht, daß Marion nach kalten Berechnungen und politischem Kalkül ihr Programm zusammenstellte. »Gegen Goethe und Schiller läßt sich kaum etwas einwenden«, sagte sie noch. »Man muß eben jetzt mit solchen Tricks arbeiten.« Marion ärgerte sich; übrigens war ihr das Mädchen nicht unsympathisch. Sie hatte ein intelligentes, offenes Gesicht; sie wußte, wofür sie kämpfte; meinte, unbedingt im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, und wäre, wenn es sein mußte, bereit gewesen, für diese Wahrheit zu sterben, ohne von ihrem Martyrium viel Aufhebens zu machen.
Es wechselte um Marion die Szenerie der Städte; es wechselten die Menschen, die ihr Briefe schrieben oder an den Theaterausgängen auf sie warteten: »Wir müssen Ihnen die Hand drücken, Fräulein von Kammer, es ist wieder gar zu schön gewesen!« Aber die Schlafwagen waren immer die gleichen, auch die Hotelzimmer blieben sich überall ähnlich – oft wußte Marion nicht, wenn sie am Morgen aufwachte, ob sie in Rotterdam oder in Basel, in Antwerpen oder Graz geschlafen hatte –, und schließlich 181 waren auch die Menschen, die sich überall zu ihr drängten, nicht so sehr voneinander verschieden. Viele kamen traurig und hoffnungslos; andere hatten Pläne, Vorschläge, ein politisches Programm. Einer erwartete sich alles Heil von Paneuropa; der nächste war anspruchsvoller und wollte den Weltstaat gründen: eine ganze Nacht lang erklärte er Marion, wie der Weltstaat auszusehen habe. Er war früher Professor an einer deutschen Universität gewesen –: ein gescheiter Mann. Marion hörte ihm achtungsvoll zu. Er hatte die Insistenz des Fanatikers. »Der Weltstaat!« rief er immer wieder, und seine Faust, die auf den Tisch schlug, zitterte. »Nur er kann uns retten, und sonst nichts. Der ganze Begriff der Nation ist ein Schwindel – gar nichts dran, lauter Trick und Lüge. So lange die Menschen nicht dahintergekommen sind, ist für sie nichts zu hoffen . . .«
In Salzburg war es ein bayrisch-österreichischer Graf, der Marion stundenlang unterhielt. Er sah ziemlich leichtfertig aus, mit schwarzem Schnurrbart in einem fetten, lustigen Gesicht. »Meine Freunde nennen mich Count Bubi«, erklärte er gleich, mit kokettem Lachen, und bat darum, auch Marion möge ihn so anreden. Er war Katholik, Royalist, haßte die Nazis, und wollte eine neue Partei gegen sie gründen, eine »Partei der Jugend«, Marion sollte zu den Führern gehören. »Dann machen wir eine kleine Revolution!« rief er animiert, mit seiner näselnden süddeutschen Aristokraten-Stimme. »Eine kleine antipreußische Revolution in Bayern – das ist gar nicht so schwer! Ich brauche nur etwas Geld dazu, mit einer halben Million Pfund ist es zu schaffen, wir müssen handeln, Verehrteste, eine halbe Million Pfund müßte schließlich aufzutreiben sein, wir gründen einen katholisch-sozialistischen Staat, der Vatikan gibt uns seinen Segen, es kann eigentlich gar nicht schiefgehen . . .« Count Bubi war nicht beleidigt, als Marion lachte. »Natürlich lachen Sie!« bemerkte er ohne Bitterkeit. »Alle lachen zunächst. Sie werden es aber erleben: ich komme zum Ziel.« Merkwürdigerweise hielt sie dies wirklich nicht für ausgeschlossen. Der Graf mit seinem schlauen Kindergesicht schien besessen von Energien, die unter Umständen kostbar und selbst entscheidend sein mochten. Marion plauderte lange mit ihm. Die Idee, daß »eine kleine Revolution in Bayern« das Gesicht Europas verändern könnte, amüsierte sie und wirkte ermutigend.
Sie brauchte Ermutigung. Denn während sie vor ihrem Publikum oder im Verkehr mit Menschen stets zuversichtlich und beinah munter schien, kannte sie in Wahrheit die Stunden der Anfechtung, der verzweifelten Müdigkeit. Oft kam es ihr sinnlos vor, durch die Länder zu reisen – eine pathetische Missionarin – und schöne Verse zu deklamieren. Was soll es? – fragte sie sich, so oft die Stunde der Anfechtung kam. Wenn sie abends mit ihren Handkoffern und Blumensträußen zum Zug fahren mußte, fühlte sie sich manchmal derart matt und zerbrochen, daß sie erwog, den Rest der Tournee telegraphisch abzusagen und einfach zu bleiben, wo sie gerade war; in irgendeinem Hotelbett liegenzubleiben, keine Zeitung mehr anzuschauen, keinen Telephonanruf mehr zu beantworten, die Augen geschlossen zu halten, zu schlafen . . . 182
Die D-Zug-Nächte konnten auf die Dauer kaum bekömmlich sein. Marion träumte zu viel, und fast immer waren es arge Träume. Früher hatte es so schlimme nicht gegeben. Damals hatte sie nur geträumt, daß sie wieder auf der Schulbank sitzen müsse und eine gar zu schwere Prüfung zu bestehen habe; oder sie stand auf der Bühne, ohne ein Wort Text zu wissen; oder sie mußte nackt über den Potsdamer Platz. Jetzt träumte sie einfach, daß sie sich in Deutschland befinde, und es war tausendmal beängstigender. Sie schlenderte über eine Berliner Straße; zunächst fiel ihr nichts daran auf. Allmählich kamen Bedenken: Warum bin ich eigentlich so lang nicht hier gewesen? Das muß doch einen Grund gehabt haben . . . Mit dieser Frage setzte die dumpfe, quälende Beunruhigung ein; der eigentliche Alptraum begann. »Ich habe wohl Feinde hier, sehr grausame Feinde, wahrscheinlich verfolgen sie mich – ich muß ein recht sicheres unauffälliges Wesen zur Schau tragen und langsam gehen, dann bleibe ich vielleicht unbemerkt. Warum schauen mir denn die Leute so nach? Mein Gott, ich habe ja eine von diesen Emigranten-Zeitungen in meiner Tasche, die sind hier doch verboten, es gilt als ein Verbrechen, sie mit sich zu führen – ich kann die Zeitung nicht mehr verstecken, alle haben sie schon bemerkt. Jetzt muß ich aber machen, daß ich davonkomme – wohin fliehe ich nur? Da steht ein SA-Mann, und dort noch einer – ich bin umzingelt . . . Man weist mit Fingern auf mich . . .‹
Keuchend und in Schweiß gebadet wachte sie auf, wissend übrigens, daß der Schreckenstraum sich keineswegs nur ihr so häufig wiederholte. Die Refugiés träumten ihn alle, er war der Alptraum par excellence der Emigration.
Kikjou ist fort. In Martins Zimmer mit den schönen, großen Fenstern ist es stille geworden. Keine Wutausbrüche mehr, keine Versöhnungs-Szenen mit endlosen Tränen und Schwüren. Kikjou hat versprochen, zurückzukommen – wenn Martin frei sein wird von der Droge.
Sich befreien von der Droge – Martin verspricht es jeden Tag sich selbst und den drängenden Freunden: Es muß sein! David Deutsch, liebevoll und besorgt, hat einen ganzen Kriegsplan ausgearbeitet. Martin soll zur Entziehungskur nach Zürich fahren; dort kennt David einen guten Schweizer Arzt, mit dem er schon seit langem befreundet ist und zu dem er unbedingtes Vertrauen hat. Der ist bereit, die Kur in einem kleinen Privat-Sanatorium vorzunehmen. Es soll relativ wenig kosten. Wann wird Martin reisen?
Die Tage vergehen, es vergehen die Wochen – er bemerkt es fast nicht. Der Heroin-Konsum steigert sich: ein Gramm, anderthalb Gramm, fast zwei Gramm pro Tag . . . Die Zeit hat keine Realität, wenn man sie nur noch mit Träumen füllt. Zuweilen erschrickt Martin, tief im Herzen, wenn er konstatieren muß, bis zu welchem Grade er sich von der Wirklichkeit schon entfernt hat. ›Ich bin der Welt abhanden gekommen‹, denkt er entsetzt. ›Fehle ich ihr? Sie kommt ohne mich aus . . . Das Entscheidende aber 183 für mich ist, daß sie mir kaum fehlt und daß ich sehr leicht ohne sie auszukommen weiß . . .‹
Bei der Schwalbe kann es ihm geschehen, daß er mitten in einer politischen Diskussion – an der er übrigens mit Intelligenz und Lebhaftigkeit teilnimmt – mit einem Schauder, in dem Hochmut und Grauen sich mischen, empfindet: Wovon sprechen die guten Leute? Warum regen sie sich so auf? Illegale Arbeit in Deutschland . . . Interne Schwierigkeiten der Spanischen Republik . . . Italiens Raubzug gegen Abessinien: Was ist dies alles? Wie berührt es uns? – Warum schreien sie so? – Der wackere Theo Hummler schwitzt ja schon wieder vor Enthusiasmus, und nun schlägt er mit der Faust auf den Tisch, das ist komisch . . . Ich will zurück in mein Zimmer. Dort ist es friedlich. Ich will heim zu meiner süßen Sache . . . Aber dann nimmt Martin sich mit einem Ruck zusammen und spricht seinerseits, mit Schwung, Witz und Temperament, über die englisch-italienische Spannung, über die Sanktionen gegen Mussolini, die hysterische Angst vorm »Bolschewismus« in London, und schließlich erzählt er sogar einen neuen Witz über den Fliegergeneral Göring.
. . . Daheim in seinem Zimmer ist's friedlich. Oh, süße Seligkeit der Stunden von ein Uhr nachts bis sechs Uhr morgens! Oh, Rausch der einsamen, der belebten Nacht! Ob man ein Buch aufschlägt – etwa das, in dem die Verse des verruchten Lieblingspoeten stehen –, ob man aus dem Fenster blickt oder in einen Spiegel, oder einfach ins Leere: von überall her kommen die reizenden, verlockenden, verdächtigen Gestalten. Es müßte doch möglich sein – so meint der Benommene, zugleich Betäubte und fiebrig Angeregte –, ach, es sollte gelingen, wenigstens einen Teil der zärtlichen und originellen, tiefen und überraschenden, wahrscheinlich ungeheuer wichtigen Einfälle, die jetzt wie eine Schar von wundersamen Vögeln durch mein Haupt ziehen, auf dem Papiere festzuhalten. Es sollte gelingen. Hier ist weißes Papier . . . Martin bedeckt es mit Zeichen. Seine Hand zittert. Er schreibt mit zitternder Hand. Und am nächsten Nachmittag, wenn er aus abgrundtiefem Schlaf erwacht, weiß er selber nichts mehr anzufangen mit den mystischen Chiffern, die er nächtens, oder zur frühen Morgenstunde, aufs Papier geworfen hat. Aber gähnend erinnert er sich, wie schön und köstlich es gewesen ist, als das sanfte Grau im großen Fenster sich allmählich rosig verfärbte.
Weniger reizend als die verschwommenen Reminiszenzen sind die realen Andenken, die ihm an die nächtliche Verzauberung bleiben. In den Schenkeln und Armen tun die Einstich-Stellen weh; einige sind entzündet – es wird doch nicht wieder ein Furunkel geben? Neulich hat Martin lange an einem garstigen Abszeß zu laborieren gehabt. Doch ertappt er sich dabei, daß er die schmerzenden Male liebkost, die er dem Gift zu verdanken hat. Sie sind wie die kleinen Wunden, die man von einer wilden Liebesnacht zurückbehält. Hier hat ein Mund sich gierig festgesaugt, und dort sind noch die Spuren der Zähne. Auf Schultern, Armen und Brust brennen die Zeichen, wie die neuen Tätowierungen eines jungen Matrosen . . . Ärgerlicher 184 findet Martin es schon, daß er wieder mehrere Löcher ins Leintuch, in die Kopfkissen und in die Bettdecke gebrannt hat. Es sind ziemlich große Löcher, häßlich braun umrandet. ›Man soll eben nicht Zigaretten rauchen, wenn man nicht den Willen und die Kraft hat, sie festzuhalten. Sie schmecken ja ganz besonders gut, im selig benommenen Zustand. Aber man vergißt sie; man läßt die Hand sinken, die sie eben noch zum Munde führen wollte; die Zigarette ist ein Teil der Hand geworden, ein elfter Finger. Man meint, mit dem Finger das Bett zu berühren, aber die Flamme liegt auf dem Kissen, sie frißt sich ein, hat ihr eigenes Leben – so entstehen im weißen Zeug die großen Löcher mit den braunen Rändern. Jean, der gute Jean, wird schimpfen, wenn er es bemerkt, Und die Patronne wird einen saftigen Schadenersatz verlangen. Der Teufel soll die Zigaretten, die Leintücher, das Heroin und das Leben holen!‹
Wie fahl der Tag heute ist! Welche Zeit haben wir denn? Mein Gott, schon beinah fünf Uhr nachmittags . . . Er greift zur Spritze. Nach fünf Minuten hat der trübe Tag sich bis zu einem gewissen Grade verschönt, der es erträglich scheinen läßt, ihn zu überleben.
So geht es nicht weiter – sagten die Freunde. David Deutsch, der sich jeden Tag um Martin kümmerte, sagte es mit Inständigkeit. Zuweilen erschien auch Marcel; der wilde Vogelschrei, das jauchzend-klagende: »Uhuu . . .« auf dem Korridor meldete ihn an. »Was du treibst, das sind gefährliche Kindereien«, schalt er, die vielfarbigen, wunderbaren Augen drohend aufgerissen. »Der Spaß geht zu weit – tu comprends, mon vieux? So weit darf man sich nicht gehenlassen, es ist unwürdig. Schluß damit!« – Schluß damit! riet und verlangte mit dem stärksten Nachdruck Marion, als sie wieder einmal nach Paris kam. »In Zürich ist alles vorbereitet. Dieser brave Doktor Rüthy erwartet dich längst. Nimm dich zusammen! Fahre endlich hin!«
Martin schaute die warnenden, beschwörenden, zornigen, manchmal sogar angewiderten Freunde schläfrig, zärtlich und verhangen an – und er blieb. Eines Morgens aber kam ein Telegramm von Kikjou: »Wenn du nicht in dieser Woche nach Zürich zur Kur fährst, sehen wir uns nie wieder.« Da entschloß sich endlich der Vergiftete. Übrigens waren auch die Geldschwierigkeiten inzwischen fast unleidlich geworden. Der kleine Wechsel, den der Pariser Geschäftsfreund des alten Korella immer noch monatlich ausbezahlte, langte knapp für die Hotelrechnung. Es gab Schulden bei der Schwalbe und, was schlimmer war, bei Pépé, der sich immer häufiger weigerte, die Droge auf Kredit zu liefern. – Marcel und David finanzierten gemeinsam die Reise nach Zürich.
Doktor Rüthy, der von Paris aus benachrichtigt worden war, holte Martin vom Zuge ab. Er hatte ein großes, rasiertes Gesicht, mit etwas hängenden Wangen und nachdenklichen braunen Augen. Stimme, Blick und Antlitz wirkten weichlich; der Händedruck aber war überraschend fest und herzlich. »Ich denke, wir fahren gleich zum Haus Sonnenruh«, sagte der Arzt. Martin hatte noch gar nicht gewußt, daß der Ort, wo die 185 Entziehungs-Kur durchgeführt werden sollte, einen so idyllischen Namen trug. Übrigens kam er sich vor wie ein Schüler, der in einer fremden Stadt ankommt, wo er vom Leiter eines sehr strengen Internats – einer Art von Strafanstalt für Jugendliche – erwartet wird. Für den Anfang ist der Herr Lehrer freundlich, um es dem Jungen nicht gar zu schwer zu machen.
»Wann haben Sie sich die letzte Injektion appliziert?« erkundigte sich Doktor Rüthy im Taxi.
»Vor einer Stunde etwa, im Zug.« Martin erklärte es nicht ohne einen gewissen Trotz, als wollte er sagen: Damals war ich noch ein freier Mann und niemand hatte mir etwas dreinzureden!
Doktor Rüthy nickte düster. »Man kann es Ihren Augen ansehen. – Übrigens hatte ich Sie schon vor vierzehn Tagen erwartet. Vor genau vierzehn Tagen hatte mir unser Freund, Doktor Deutsch, Ihren Besuch angekündigt.« Es klang ziemlich drohend. Martin sagte schläfrig: »Ich war in Paris durch wichtige Arbeiten festgehalten.« Doktor Rüthy machte höhnisch. »Aha.« Martin ärgerte sich. Der Arzt merkte es; schien es gutmachen zu wollen und bot Zigaretten an. Martin hatte wieder das Gefühl, ein Sträfling zu sein, dem man aus Mitleid – oder vielleicht zum Spott – unbedeutende kleine Vergünstigungen gewährt, ehe die eigentliche Bitterkeit des Strafvollzuges beginnt.
Während der Wagen in einer stillen, recht soigniert wirkenden Straße hielt, sagte Doktor Rüthy noch, mit freundlich-ernster Nachdrücklichkeit: »Haus Sonnenruh ist keine geschlossene Anstalt, Herr Korella; sondern ein privates, fast wie ein Hotel geführtes Erholungsheim. Ich persönlich ziehe geschlossene Häuser für Entziehungskuren ganz entschieden vor. Ja, ich muß gestehen, daß ich zunächst die stärksten Bedenken hatte, dem Rate Ihres Freundes Deutsch zu folgen, der dahin ging, Ihnen jede irgendwie überflüssige Kontrolle, alle Peinlichkeiten eines vorübergehenden Freiheitsentzuges zu ersparen. – Nun ist es freilich höchst fragwürdig«, fuhr der Doktor pedantisch fort – der Chauffeur hatte schon den Motor abgestellt; aber Rüthy schien entschlossen, seinen kleinen Vortrag im Wagen sitzend zu beenden –, »bis zu welchem Grade der Freiheitsentzug bei einer Kur, wie sie Ihnen bevorsteht, als entbehrlich zu bezeichnen ist. – Jedenfalls, von einer regulären Entziehung kann unter diesen Umständen natürlich gar nicht die Rede sein«, erklärte er, plötzlich fast zornig. Dann fügte er sanfter hinzu: »Der Erfolg des Experimentes hängt durchaus von Ihrem eigenen guten Willen ab, lieber Herr Korella!« Er versuchte, seinem Gesicht einen ermunternden Ausdruck zu geben.
Martin bezahlte das Taxi, während Doktor Rüthy zerstreut in die Luft blickte.
An der Haustüre erwartete eine hübsche junge Person in Pflegerinnen-Tracht den neuen Patienten. Der Arzt stellte vor: »Schwester Rosa.« Sie wirkte sowohl mild als adrett; das Lächeln ihres sehr kleinen und roten Mundes war keusch und sanft, doch nicht ohne Koketterie.
In der Dämmerung des Korridors, durch den Schwester Rosa die 186 Ankömmlinge geleitete, tauchte noch ein zweites weibliches Wesen auf: Fräulein Bürstel, die Direktrice des Hauses. Sie hatte auffallend rote Backen und hellblaue, wässerige Augen. Martin konstatierte sofort, daß sie ungewöhnlich dumm war. »Mögen Sie sich recht wohl bei uns fühlen!« rief sie, beide Hände innig ausgestreckt. Martin erwiderte eisig: »Ich danke Ihnen, gnädige Frau.« Daß er sie gnädige Frau titulierte, war die pure Bosheit, da Rüthy die Dame ja soeben als »Fräulein« vorgestellt hatte. Die Bürstel schickte denn auch einen halb pikierten, halb nachsichtigen Blick über ihn hin, als fände sie sich einem Irrsinnigen gegenüber, dessen Unarten zwar lästig sind; jedoch bleibt nichts übrig, als sich gütig mit ihnen abzufinden. »Ich denke, wir geben dem Herrn Zimmer Vier«, wisperte die Direktrice dem Doktor zu, als handelte es sich um ein Geheimnis, in das eingeweiht zu sein für den Kranken gefährlich, ja, verhängnisvoll werden müßte.
Das Zimmer – mit dunkler Tapete, rundem, teppichbelegtem Tisch in der Mitte, blendend weißem Bett – schien zu einer bescheidenen, aber peinlich sauberen Familienpension zu gehören. Doktor Rüthy – jetzt schon entschieden um eine Nuance strenger und gravitätischer als vorhin im Taxi – sagte: »Ich schlage vor, Herr Korella, daß Sie zunächst ein warmes Bad nehmen. Schwester Rosa wird die Freundlichkeit haben, inzwischen Ihren Koffer auszupacken – und ich hoffe Sie damit einverstanden, daß ich bei dieser Gelegenheit ein wenig Ihre Sachen untersuche, ob Sie nicht vielleicht versehentlich etwas von der Droge mitgenommen haben. Bitte, lassen Sie auch Ihre Kleider hier zurück. Schwester Rosa bringt Ihnen einen Bademantel.« Martin, der übrigens wirklich den Rest seines Heroin-Vorrates während der Reise verbraucht hatte, sagte ziemlich gekränkt: »Wie Sie wünschen, Herr Doktor. Sehen Sie nur sorgfältig nach! Sie werden nichts finden.« Die Nurse lächelte, milde und verführerisch. Fräulein Bürstel, die in der offenen Tür stehengeblieben war, sagte mit dumm krähender Stimme: »Das Badezimmer ist im ersten Stock, Herr Korella.« – Der Doktor, schon über den offenen Koffer geneigt, konstatierte, nicht ohne Ekel: »Sie haben ja Ihre Injektionsspritze eingepackt! Kein gutes Zeichen . . . Sie erlauben wohl, daß ich sie an mich nehme.«
Nach dem Bade gab es noch eine längere Konversation mit Rüthy zu bestehen. Der Arzt erkundigte sich nach verschiedenen Details, Martins Laster betreffend. Die Antworten notierte er sich in ein kleines Buch. Martin gab genaue und wahrheitsgetreue Auskünfte; Rüthy indessen blieb mißtrauisch. »Süchtige lügen immer«, konstatierte er mit einer gewissen Bitterkeit, »wenn es sich um ihre Sucht handelt. Zum Beispiel kommt es häufig vor, daß sie die Dosis ihres täglichen Konsums übertreiben, um dem Arzt noch eine Weile etwas abzulocken.« Er schien die Feststellung mehr für sich selber zu machen, als wäre es geboten, daß er diesen Umstand stets im Auge behalte, um sich die nötige Skepsis allen Behauptungen des Patienten gegenüber zu bewahren. Martin verstummte gekränkt.
Doktor Rüthy schien zu begreifen, daß er einen taktischen Fehler gemacht hatte; er wurde herzlich, fast väterlich. Wieso, warum, unter was für 187 Umständen Martin zu der Droge gekommen sei? – wollte der Arzt plötzlich wissen. »Ein so junger Mensch!« rief er beschwörend. »Und ein begabter Mensch –: man sieht es Ihnen ja an; außerdem versichert es mir unser Freund, Doktor Deutsch. Warum ruinieren Sie sich?« Rüthy rief es fast flehend, mit erhobenen Armen. Martin versetzte trotzig: »Vermutlich weil es mir Vergnügen macht.« Hierüber mußte Rüthy bitter lachen. Vergnügen! Die Selbstzerstörung – ein Vergnügen! »Sie sind ein Zyniker, Herr Korella«, stellte er bedauernd fest. »Gehen Sie in sich!« riet er ihm mit salbungsvoller Dringlichkeit. »Denken Sie nach über sich selber! Während der Tage, die Ihnen nun bevorstehen, haben Sie Zeit dazu . . . Steigen Sie mal gründlich in die Tiefen Ihrer eigensten Problematik! Eine gründliche Selbst-Analyse: das ist es, was Sie jetzt brauchen!« – »Meinen Sie, ich würde einen netten kleinen Oedipus-Komplex bei mir finden?« erkundigte Martin sich, höhnisch und müde. »Oder einen Kastrations-Komplex? . . . Die Droge reduziert die sexuelle Potenz –, wie Sie gewiß schon gehört haben, Herr Doktor. Vielleicht drogiere ich mich, um mich impotent zu machen? Kastrations-Komplex ist gar keine üble Theorie . . .«
Rüthy war sich nicht ganz im klaren darüber, ob Martin im Ernst sprach oder zum Spott. Übrigens fand er die Idee mit dem Kastrations-Komplex keineswegs uninteressant. »Ich bemerke, daß Sie sich über Ihre höchst gefährdete innere Situation schon ernsthafte Gedanken gemacht haben.« Dazu nickte er anerkennend. »Sie sind aber immer noch nicht genug in die Tiefen gestiegen, lieber Freund. Vergessen Sie doch nicht: die Sexualität ist ein Vordergrunds-Problem, ein Symptom – möchte ich beinah sagen –, und nicht mehr. Die gefährliche Überschätzung der Sexualität ist nicht mehr unsere Sache. Wir Jüngeren sind weiter vorgedrungen, tiefer hinabgestiegen.« Doktor Rüthy sagte es geheimnisvollen Tones und wies dabei mit einem langen, faltigen Zeigefinger nach unten, als lägen dort, schaurig geöffnet, die Abgründe, durch deren finsteres Labyrinth die jüngere Schule der Psychiatrie den Leitfaden besitzt. »Wie sind Ihre Beziehungen zur Großen Mutter?« erkundigte der Doktor sich, etwas lauernd und immer noch in die imaginären Schlünde weisend. Martin verstand nicht gleich, was er meinte, wodurch Rüthy enerviert wurde. »Nun ja doch,« machte er, und zuckte ungeduldig die Achseln, »Ihre Beziehungen zum Anfang aller Dinge, meine ich; zur Großen Gea; zum Kosmischen Mutterschoß . . .« – Martin hatte keine Lust, sich darüber auszusprechen. Er fragte, ob er heute noch Morphine bekommen solle. »Ich fange nämlich schon an zu schwitzen«, sagte er, ziemlich böse. – »Sie sollen gegen vier Uhr nachmittags eine nette Injektion haben«, verhieß Rüthy onkelhaft. »Und eine zweite abends, vor dem Einschlafen.« – Martin empfand plötzlich ein gerührtes Wohlwollen für den Psychiater. ›Der brave Mann meint es gut. Ich will ihm das Leben nicht zu sauer machen.‹ Der Patient und der Arzt verabschiedeten sich mit Herzlichkeit voneinander. Rüthy versprach, gegen Abend noch einmal vorbeizuschauen. »Wahrscheinlich werde ich Sie schon schlafend finden«, sagte er. 188 Martin verbrachte die Zeit bis vier Uhr nachmittags – die Stunde, für die ihm das kleine Labsal des Pantopons versprochen war – ziemlich ruhig. Die Heroin-Dosis, die er im Zuge zu sich genommen, war stark genug gewesen, um ihm für den ganzen Tag gar zu großes Unbehagen zu ersparen. Er las; machte Notizen und schrieb zwei zuversichtlich gestimmte Briefe: einen an Kikjou, den andren an David Deutsch. Pünktlich um vier Uhr erschien Schwester Rosa mit der Spritze, einem kleinen Watte-Bausch und einem Fläschchen mit Alkohol. Während sie dem Patienten die Injektion in den Oberschenkel machte, blieb ihr rosiges, hübsches Gesicht ernst, beinah streng. Erst nach getaner Arbeit setzte sie das verheißungsvolle, mildkokette Lächeln wieder auf.
Die emsige Person schien gerade eine freie Viertelstunde zu haben, und übrigens in der Laune, zu plaudern. Sie sprach plötzlich von ihrem Bräutigam, der Schullehrer in der Stadt Luzern war –: Martin, mit halb geschlossenen Augen der Wirkung nachspürend, wußte gar nicht, wie sie auf dieses Thema gekommen war. »Ein prachtvoller Mensch,« versicherte Schwester Rosa, »etwa in Ihrem Alter. Ich fand gleich, daß Sie eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm haben, Herr Korella. – Freilich«, fügte sie nicht ohne Bosheit hinzu, »mein Bräutigam ist ein gesunder, einfacher Mensch . . .«
»Das werde ich auch wieder werden«, versprach Martin heuchlerisch und schloß die Augen nun ganz. Die Stimme der milden Schwester schien ihm nun aus sehr weiter Ferne zu kommen. »Seine Schüler verehren ihn«, hörte er sie noch sagen. »Es gibt Jungens, die einen richtigen Kult mit ihm treiben.«
Martin schlief bis in den Abend hinein. Schwester Rosa weckte ihn mit dem Essen. Zu seiner eigenen Überraschung hatte er Appetit. Nach der Mahlzeit sprach Rüthy noch einmal vor. Um zehn Uhr erschien die Nurse mit dem Instrument; Martin hatte schon gierig auf sie gewartet. Als er die wohlvertraute und höchstgeliebte Wirkung des Opiats wieder spürte, beschloß er: Ich will noch nicht sofort schlafen – obwohl es sicherlich nicht das reine Morphium gewesen ist, was die milde Schwester mir verabfolgt hat. Übrigens hatte die sanfte Rosa verheißen, daß sie in einer Stunde nochmals erscheinen werde: »um Ihnen noch einen Leckerbissen für die Nacht zu bringen« –, wie sie sich, neckisch und geheimnisvoll, ausdrückte. ›Wahrscheinlich meint sie irgendein harmloses Schlafmittel‹, vermutete Martin etwas verächtlich. Im Augenblick interessierte er sich nicht sehr für die chemischen Überraschungen, die Schwester Rosa für ihn in Bereitschaft hatte. Die Wirkung des Medikaments war erfreulich. Seine Gedanken arbeiteten beinah mit der gleichen traumhaft-beschwingten Leichtigkeit, wie nach den großen Heroin-Injektionen.
›Natürlich darf ich mich nicht täuschen lassen‹, dachte er, als er alleine war. ›Heute ist noch ein guter Tag. Die eigentliche Entziehung hat gar nicht angefangen. Es wird scheußlich werden, ich weiß es. Es wird ekelhaft sein. Indessen bin ich fest entschlossen, durchzuhalten – und wenn es noch so grauenvoll wird. Schließlich weiß ich, wofür ich leiden muß. Ich 189 muß leiden, um gesund zu werden. Ich muß gesund werden –: erstens. um ein paar gute Sachen schreiben zu können. Es ist in der Tat meine Absicht, noch ein paar vorzügliche Sachen zu schreiben, sowohl in Versen als auch in einer strengen, rhythmisch präzisen, tadellosen Prosa. Zweitens muß ich gesund werden, um mit Kikjou leben zu können. Ich liebe Kikjou. Ich brauche Kikjou. Ich verliere ihn, wenn ich von der süßen Sache, dem garzuholden Teufels-Dreck nicht lasse. Ich habe die Wahl zwischen Kikjou und der infernalischen Süßigkeit. Kikjou ist es, den ich vorziehe – da kann gar kein Zweifel sein. Kikjou, le petit frère de Marcel . . . Ich liebe sie alle beide, meine lieben Brüder . . . Das weiße Pülverchen – in aqua destillata aufgelöst – würde mich von beiden entfernen. Um ihretwillen, und um Marions willen, und um Davids willen, muß ich es loswerden. Ich muß es loswerden – drittens: weil ich das Ende der großen Schweinerei in Deutschland erleben möchte, und sogar mein kleines Teil dazu beitragen will, daß sie endigt. Abzukratzen, solange dieser degoutante Schwindel mitten in Europa triumphiert: nein – das ist entschieden eine peinliche Vorstellung.
Um der Liebe willen und um des Hasses willen, lohnt es sich, zu leben. – . . . Lohnt es sich, zu leben?‹ – fragte er sich, ein paar Sekunden später. ›Mein verruchter Lieblingsdichter sagt: Nein. Er ist ein Unhold und ein Anarchist, und mit diabolischem Grinsen ist er zum Todfeind der Gesittung übergelaufen. Übrigens gibt es in Deutschland wohl fast niemanden mehr, der empfänglich wäre für den Zauber seiner brutalen und morbiden Romantik. Was für ein gefährlicher Charme! Von welch macabren Wonnen er zu berichten und zu beichten weiß! Ich bin empfänglich für seine schaurig exakt formulierte Todes-Mystik . . . Mir scheint leider, ich bin, immer noch, zu empfänglich für sie . . .
Neben ihm, auf dem Nachttisch, lag der kleine schwarze Band mit den »Ausgewählten Gedichten« des infamen Lieblings-Poeten. Nun griff Martin nach ihm, mit der gleichen gierigen und etwas schuldbewußten Geste, mit der er sonst nach der Spritze langte. Und er las:
»Wenn du die Mythen und Worte
entleert hast, sollst du gehn,
eine neue Götterkohorte
wirst du nicht mehr sehn,
nicht ihre Euphratthrone,
nicht ihre Schrift und Wand –
gieße, Myrmidone,
den dunklen Wein ins Land.
Wie dann die Stunden auch hießen,
Qual und Tränen des Seins,
alles blüht im Verfließen
dieses nächtigen Weins, 190
schweigend strömt die Äone,
kaum noch von Ufern ein Stück,
gib nun dem Boten die Krone,
Traum und Götter zurück.«
Wie schön! – empfand Martin auf seinem Lager – wie fürchterlich – ach, wie betäubend schön! Wie viel Stolz in seinen Worten, neben der unermeßlichen Traurigkeit! Übrigens hat er recht: Wir sind an einem Ende. Eine große Periode ist abgelaufen. Kommt eine neue? Es ist nicht die unsere – die meine ist es nicht mehr. Wozu teilnehmen an Kämpfen, deren Entscheidung wir nicht erleben werden? Wenn du die Mythen und Worte entleert hast, sollst du gehn – eine neue Götterkohorte wirst du nicht mehr sehn . . .
Wirst du nicht mehr sehn . . .
Wozu der ungeheure Aufwand an Kraft, wenn es dir doch nicht bestimmt ist, die Hieroglyphen der neuen Gesetzestafeln zu begreifen? Wozu – ach, wozu? Warum ist es mir nicht gestattet, mit geschlossenen Augen ins Dunkel zu stürzen, wenn ich in der Helligkeit doch nichts auszurichten vermag – außer dem einen: meine Hilflosigkeit, meine Ratlosigkeit, meine Angst, die Melancholie des Umstandes, daß ich zu früh oder zu spät auf diese Welt gekommen bin, immer wieder leidend zu erkennen?
Mein heruntergekommener Poet ist ein moralisch suspekter, aber gescheiter Mann. – Gib nun dem Boten die Krone – Traum und Götter zurück . . .
Statt des Boten, der Schmuck und Waffen des Abdankenden hätte an sich nehmen können, um sie den alten oder den neuen oder den ewigen Göttern als Opfergabe zu Füßen zu legen, war es Schwester Rosa, die eintrat. Auf einem kleinen Silber-Tablett präsentierte sie die Schlafmittel wie eine Delikatesse. Es waren drei runde, weiße Tabletten; Martin schluckte sie mit ein wenig Wasser. Schwester Rosa, die ihrerseits müde schien, zwang sich dazu, noch einen kleinen Trost durch Lächeln zu spenden, und entschwand – ein überanstrengter, aber noch in der Erschöpftheit hilfsbereiter und adretter Engel.
Sie hatte die Lampe verdunkelt. ›Ich werde schlafen können‹ empfand Martin mit einer Dankbarkeit, die zu kleinen Teilen Schwester Rosa galt, vor allem aber jenem enormen, immer nur sehr undeutlich zu erkennenden Wesen, das der kleine Kikjou mit sanftem Augenaufschlag, vertraulich und beinah zärtlich, »le Bon Dieu« nannte. –
Der nächste Tag war erträglich. Doktor Rüthy verabreichte schwere Schlafmittel. Martin wachte fast nur zu den Mahlzeiten auf. Schwester Rosa behandelte ihn mit teils nonnenhaft ernster, teils koketter Aufmerksamkeit; zuweilen konnte sie nicht umhin, der Ähnlichkeit ihres Patienten mit dem ihr anverlobten Pädagogen in Luzern nachdenklich und gerührt Erwähnung zu tun. 191
Übrigens fand der Arzt Martins Zustand relativ so vorzüglich, daß er schon für diese Nacht mit den Morphine-Dosen aufzuhören beschloß. Es war nur noch Luminal und Phanodorm, was Schwester Rosa, abends um zehn Uhr, auf ihrem Tablett lockend herantrug.
Martin erwachte gegen vier Uhr morgens mit heftigen Schmerzen in den Beinen, besonders in der Knie-Gegend. Er war in Schweiß gebadet; auch lief ihm die Nase, als hätte er sich über Nacht einen starken Schnupfen geholt. Er mußte viele Male hintereinander krampfhaft niesen. Gleichzeitig spürte er wildes Bauchgrimmen. Er stand zitternd auf; hüllte sich, zugleich fröstelnd und schwitzend, in seinen Schlafrock und verließ das Zimmer, um durch den dunklen Korridor zur Toilette zu eilen. Er fand die Türe nicht gleich. Er beschmutzte sich das Pyjama, ehe er die Toilette erreichte.
Der Zustand seines Unbehagens war unbeschreiblich. Er legte sich wieder aufs Bett; aber er war nicht dazu imstande, seine Glieder auch nur eine Minute lang stillzuhalten. Alles an ihm zuckte; Füße und Hände bewegten sich wie in einem Krampf. Er warf den gepeinigten Kopf hin und her. Niemals hätte er für möglich gehalten, daß man gleichzeitig bis zu diesem Grade erschöpft und erregt sein konnte. Er war zu schwach, um das Bett zu verlassen; aber sein nasser, bebender Leib hielt es keine dreißig Sekunden in der gleichen Lage aus. – Keine Krankheit war je annähernd so schlimm gewesen. Fieber und ein solider, kontrollierbarer Schmerz waren positive Gefühle, verglichen mit dieser kolossalen Unannehmlichkeit. ›So muß sich ein Fisch fühlen, der aufs Land geworfen wird,‹ dachte Martin. ›So wie ich jetzt zappele, zappelt ein Fisch auf dem Trockenen! Mein Gott, mein Gott: Was habe ich getan, daß ich wie ein armes Fischlein zappeln muß?! . . .‹
Seine Hände krampften sich ins Leintuch, vor dessen lauer Wärme ihn ekelte. Er reckte den Körper nach oben. Den Hinterkopf ins Kissen gepreßt, schrie er. Er erschrak vor der Unmenschlichkeit des eigenen Schreis. ›Ich habe wie ein Tier geschrien‹, spürte er mit Entsetzen. Er schrie nochmals. Schwester Rosa erschien in der Türe. Sie trug einen grauen Schlafrock mit bescheiden-schmalem rosa Besatz am Hals und an den Manschetten. Ihr Haar war ein wenig zerzaust; die Augen blickten sowohl schläfrig als erschrocken. »Was gibt es denn, Herr Korella?« fragte sie mit einer merkwürdig leisen Stimme. Martin sah, daß ihre Hände etwas zitterten. Endlich konnte er weinen.
Martin weinte; es war, seit seiner Kindheit, zum erstenmal. Er warf den Körper herum und preßte das nasse Gesicht in die Kissen. Es war ein sonderbares Gefühl, die Tränen-Nässe auf den Wangen und Lippen zu spüren. »Das ist gut,« hörte er Schwester Rosa sagen, »weinen Sie sich nur aus, Herr Korella!« Er schämte sich, dem Mädchen sein verzerrtes, nasses Gesicht zu zeigen; deshalb behielt er die Stirne gegen das Kissen gepreßt. Das Weinen war zugleich eine Entspannung und ein neuer Krampf. Es schüttelte den Körper, und nun tat es weh im Gesicht: die Augen 192 schmerzten, und es schmerzte der verzerrte, klagend geöffnete Mund. ›Ich werde niemals mehr aufhören können zu weinen‹, fühlte Martin. ›Mein Leben – alles was ich bin und je war, vergeht in diesen unendlichen Tränen . . .‹
Schwester Rosa, in ihrer Angst, verabreichte ihm mehrere beruhigende Tabletten – wozu Doktor Rüthy sie, für den Notfall, ermächtigt hatte. Martin, tränennassen Gesichtes, fiel in einen Dämmerschlaf, der freilich nicht tief genug war, um seine Qualen ganz aufzuheben. Er spürte noch die Schmerzen und die große Traurigkeit – abgemildert; wie durch einen Nebel hindurch.
Als Rüthy um elf Uhr zur Visite erschien, fand er den Patienten in festem Schlaf. Er untersuchte ihn flüchtig, und stellte, zu der aufmerksam, ja, devot lauschenden Nurse gewendet, fest: »Die somatischen Ausfallserscheinungen sind erstaunlich gering. Auch die Diarrhöe hat ja, vorläufig, schon wieder aufgehört. – Ich gebe kein Opiat mehr«, beschloß er streng. »Der Fall ist in moralischer Hinsicht schwieriger und beunruhigender als in physiologischer.« Dabei rieb er sich sinnend das rasierte Kinn und die etwas hängenden Wangen. »Ein merkwürdiger Mensch.« Er schaute mitleidig und interessiert in das Antlitz des Schlafenden, um dessen Lippen sich ein bitterer und gequälter Zug gelegt hatte. »Vielleicht ein begabter Mensch. Aber von einer moralischen Schwäche, die ans Klinische grenzt . . . Sehr bedauerlich. Sehr sehr schade.« – »Herr Doktor haben ganz recht: ein sehr seltsamer Mensch«, nickte Schwester Rosa. Sie hatte ihre nonnenhafte Haltung angenommen: die Hände hielt sie auf dem Magen gefaltet, und das hübsche kleine Gesicht war etwas heuchlerisch schief gestellt. Der Blick aber, den sie über das weiße, schöne, leidende Antlitz des Kranken hinsandte, war blank und verheißungsvoll: Doktor Rüthy bemerkte es nicht ohne Indignation. Er hatte seinerseits eine kleine Schwäche für die niedliche Pflegerin.
Martin begann plötzlich, aus seinem Dämmerschlaf heraus, zu sprechen. »Wo ist meine süße kleine Sache?« brachte er mit schwerer, lallender Zunge hervor. »Ich hatte doch einen recht stattlichen Vorrat . . . Ist denn alles aufgebraucht? Oh weh – ist der kleine Vorrat denn ganz zu Ende . . .?« Der Schlafende weinte. Dicke, leuchtende Tränen kamen unter seinen geschlossenen Lidern hervor; rannen langsam über die weißen Wangen und blieben träge in den Mundwinkeln hängen. Schwester Rosa neigte sich über ihn und trocknete ihm, sehr zart und behutsam, mit ihrem eigenen Taschentüchlein das Gesicht. –
Als Martin aufwachte, war später Nachmittag. Seine erste Empfindung war: Ich bin in der Hölle. Solche Zustände kommen nur in der Hölle vor . . . Dann beschloß er: Ich halte es nicht mehr aus. Ich bin am Ende. Die nächste halbe Stunde überlebe ich nicht. Ich bringe mich um. Ich bin entschlossen, mich umzubringen. Aber wie?
Aber wie? –: über diese Frage dachte er mehrere Minuten lang angestrengt nach. Das Zimmer lag im Parterre; der Sprung aus dem Fenster würde sinnlos sein. Weder Gift noch Revolver waren zur Hand. ›Ich 193 habe gehört, daß man sich an einer Krawatte oder an einem Gürtel aufhängen kann‹, dachte Martin. ›Aber dazu muß man sicherlich geschickter sein, als ich es bin. Wahrscheinlich würde die Schlinge mir reißen: das wäre dann eine Blamage und eine Peinlichkeit. – Wenn ich ein gutes, starkes Rasiermesser hätte, könnte ich mir die Pulsadern aufschneiden. Ich habe aber nur einen Gilette-Apparat. Kann man sich mit Rasierklingen die Adern öffnen? Vielleicht. Aber es ist eine Schweinerei. Wie umständlich so ein Selbstmord zu sein scheint!‹
Er stürzte durchs Zimmer, wie von Furien gejagt. Obwohl die Knie ihm schwankten und sein schweißgebadeter Körper am Zusammenbrechen war, rannte er mindestens ein dutzendmal hin und her. Er zündete sich eine Zigarette an; drückte sie wieder aus; griff nach einer neuen. Jedesmal wenn er am Spiegel vorüberkam, erschrak er über sein Aussehen. Auf dem weißen Gesicht lag ein beinah irrsinniger Ausdruck von Angst: als wäre ein Raubtier oder ein Feuerbrand hinter ihm her. Er fand den Blick der eigenen Augen entsetzlich. Die Pupillen waren unnatürlich erweitert. Der Ausdruck von Verzweiflung, Durst und Gier, mit dem diese Augen ihn anschauten, war unerträglich.
»Genug!« sagte Martin laut und deutlich zu sich selber. »Es ist genug!« Er öffnete den Schrank, in den Schwester Rosa seine Kleider gehängt hatte. In zwei Minuten war er angezogen. Taumelnd, keuchend und zitternd machte er sich daran, seine Handtasche zu packen. Während er Toilettesachen, Socken, Hemden, Bücher und Pyjamas in den Koffer warf, setzte plötzlich eine strenge und zarte Musik ein. Im Nebenzimmer wurde Geige gespielt. ›Welch zarte Aufmerksamkeit!‹ dachte Martin, halb gehässig, halb wirklich gerührt. ›Man bringt mir ein Abschieds-Ständchen! – Wer mag da wohl musizieren? Freilich, es gibt ja noch andere Bewohner, außer mir, in diesem Etablissement, das zugleich wie eine Familien-Pension und wie ein intimes Privat-Irrenhaus wirkt . . . An diese anderen Kranken habe ich noch gar nicht gedacht . . . Müssen die auch so grauenhaft leiden wie ich? . . . Der Geisteskranke in der benachbarten Stube – denn wahrscheinlich handelt es sich doch um einen Geisteskranken: um einen manisch Depressiven, denke ich mir – versteht es übrigens ganz artig, auf der Violine zu spielen . . . Habe ich nichts vergessen? Ich will noch einen Zettel für Schwester Rosa schreiben: Adieu. Vielen Dank. Schicken Sie mir die Rechnung nach Paris. Sie wird bezahlt.‹
Er schrieb den Zettel, wobei er sich redliche Mühe gab, mit seiner zitternden Hand leserliche Zeichen aufs Papier zu bringen. Er zog sich den Mantel an. Dann öffnete er – vorsichtig, wie jemand, der einen Mord vorbereitet – die Tür zum Flur, um zu hören, ob es draußen stille war. Schwester Rosa hatte wohl im oberen Stockwerk zu tun. ›Sie hat kein leichtes Leben‹, dachte Martin, während er auf Zehenspitzen sein Zimmer verließ. ›Fräulein Bürstel ist vermutlich ausgegangen. Sie sitzt mit einer Bekannten in der Konditorei. Wie ich Fräulein Bürstel kenne, mag sie gerne heiße Schokolade und Torte . . .‹ 194
Auf dem Korridor, dessen etwas muffiger Geruch ihm schon recht vertraut geworden war, blieb Martin ein paar Sekunden lang stehen, um der Geigenmusik zu lauschen. ›Der manisch Depressive spielt Bach‹, konstatierte er mit einer gewissen Ergriffenheit. ›Ich würde gerne wissen, wie der Mensch aussieht, der dort hinter der geschlossenen Türe spielt. Ist es eine Frau oder ein Mann? Ich glaube, daß es ein älterer Mann ist . . . Mein Gott, wie ich zittere! Wie meine Knie schwanken! Und wie naß meine Hände sind . . . Ich schleiche durch den dämmrigen Korridor: vorsichtig wie ein Mörder. Vorsichtig wie ein Mörder, öffne ich jetzt diese Haustür. Das Gefängnis liegt hinter mir. Arme Schwester Rosa – wie wirst du erschrecken, wenn du das Zimmer leer findest! Du wirst einen bestürzten Brief an deinen Bräutigam nach Luzern schreiben . . . Da ist die Straße. Aber wie kalt es ist! Es ist scheußlich kalt.‹
Ein Taxi kam vorüber, Martin winkte dem Chauffeur. »Fahren Sie mich zur nächsten Apotheke!« sagte er ihm.
Die Fahrt dauerte ziemlich lang. Martin fühlte sich im Wagen ein wenig besser. Unangenehm war, daß er so bitterlich fror. Er mußte wieder fünfmal hintereinander niesen. Als der Nies-Krampf vorbei war, setzte ein Gähn-Krampf ein. Er spürte plötzlich eine lähmende Müdigkeit. Die Beine taten sehr weh.
Es war eine große, stattliche Apotheke, vor welcher das Taxi hielt. Martin bat den Chauffeur, ein paar Minuten auf ihn zu warten; er sprach – aus Angst, in seiner Not hastig oder unhöflich zu sein – besonders ausführlich und artig.
Drinnen, in der Apotheke, gab es mehrere Kunden: zwei alte Damen, denen eine Verkäuferin kleine Packungen mit Kräuter-Tee vorlegte; eine jüngere Frau mit einem kleinen Buben, der lächerlich runde Backen hatte; einen älteren Herrn, der auf einer Waage stand, um sein Gewicht zu prüfen – übrigens schüttelte er erstaunt und betrübt den Kopf über das Resultat: es stellte sich wohl heraus, daß er entweder viel schwerer oder viel leichter war, als er angenommen und gehofft hatte.
Martin ging, etwas schwankenden aber entschlossenen Schrittes um den Ladentisch herum und sagte zu dem Fräulein, das mit den beiden Alten und den Kräutertee-Packungen beschäftigt war: »Ich möchte Ihren Chef sprechen.« Das Fräulein lächelte erschrocken – sie fürchtete wohl, es mit einem Wahnsinnigen zu tun zu haben –; da kam der Chef schon herbei. Mit weißem Vollbart, hoher Stirn und goldgerandeter Brille wirkte er stattlich, fast majestätisch. »Was wünscht der Herr?« erkundigte er sich drohend.
Der nächste Augenblick entscheidet über Leben und Tod – empfand Martin, dessen Knie immer heftiger zitterten. – Wenn der stattliche Alte mir die Droge nicht gibt, falle ich hin, schreie noch ein wenig und sterbe.
Er gab sich Mühe, ein gefaßtes Gesicht zu machen. »Ich bin auf der Durchreise hier«, bemerkte er und versuchte es mit einem einschmeichelnden Lächeln. Der Apotheker sagte: »Aha!« – wobei er lauernd den Kopf senkte und seinen schönen Bart gegen die Brust drückte. – »Es ist dumm«, 195 plauderte Martin mit verzerrter Miene – er fürchtete, im nächsten Augenblick wieder weinen zu müssen – »es ist wirklich recht lästig. Ich brauche nämlich ein Medikament – mein Hausarzt hat es mir gegen die bösen Gallenschmerzen verschrieben . . . Es heißt Eucodal«, gestand er und wurde ein wenig rot. »Ein ganz leichtes Mittel . . .«, fügte er, sinnloser Weise, hinzu.
Der Apotheker sagte schnell und sehr kalt: »Dafür benötige ich das Rezept eines hiesigen Arztes.« Martin begriff die totale Hoffnungslosigkeit der Situation. »Ich dachte – ein paar Ampullen . . .«, sagte er noch, von Schmerzen und Kälte gebeutelt wie von einer riesigen Hand. Der Apotheker stellte feindlich fest: »Nichts zu machen.« Martin fühlte nur: Jetzt falle ich hin, und sterbe. Indessen blieb er hübsch aufrecht stehen, lächelte unter Qualen und fragte, ob der Herr Apotheker ihm vielleicht die Adresse eines tüchtigen Arztes nennen könnte. »Mit solchen Gallenschmerzen, wie ich sie habe, kann man einen Menschen nicht herumlaufen lassen«, sagte Martin nicht ohne gekränkte Würde. Diese Bemerkung schien dem strengen Apotheker bis zum gewissen Grade einzuleuchten; er ließ sich von seinem Fräulein Papier und Bleistift reichen und notierte, mit zugleich schwungvollen und klaren Lettern, die Adresse des Doktors.
An der Haustür des Arztes – der um die Ecke wohnte – gab es ein Messingschild mit der Inschrift: »Doktor Fritz Kohlhaas. Spezialist für Kinderkrankheiten.« – Doktor Kohlhaas war hochbetagt und recht schwerhörig. Martin schrie ihm etwas zu über die fatalen Nieren-Koliken, die ihm zu schaffen machten, und daß er ein gewisses leichtes Medikament benötigte, »es heißt Eucodal«. – »Wie heißt diese Medizin?« fragte Doktor Kohlhaas, der schon seinen Rezept-Block gezogen hatte. »Euradom?« Martin, der von einem nervösen kleinen Lachen geschüttelt wurde, wiederholte den richtigen Namen. Doktor Kohlhaas schrieb mit gichtigen Fingern das Rezept. »Vielleicht sind Sie so nett, mir gleich zwanzig Ampullen à 0,02 zu genehmigen«, sprach Martin lachend und mit Donnerstimme an seinem Ohr. »Das genügt mir dann für die nächsten vier bis fünf Monate.«
Er fuhr zum Apotheker zurück, der das Rezept mit gerunzelter Stirne musterte. Schließlich händigte er Martin die beiden Schachteln mit den Eucodal-Ampullen aus. Martin griff mit einer unbeherrscht-gierigen Bewegung nach den länglichen, blauen Packungen, die er in der Innentasche seines Mantels hastig verschwinden ließ. »Ich brauche noch eine Injektions-Spritze und Nadeln«, sagte er keck. »Ziemlich dünne, wenn ich bitten darf. Numero 16 dürften die richtigen sein . . .«
Er verließ die Apotheke. Draußen bat er den Chauffeur, das Taxi noch eine Minute lang still stehenzulassen. Im Wagen öffnete er seine Kleidung ein wenig und – schamlos, fast besinnungslos vor Gier – machte er sich, auf den Polstern des Wagens sitzend, die Injektion in den Schenkel. Ein kleines Mädchen, das vorüberschlenderte, beobachtete ihn mit vor Erstaunen aufgerissenen Augen.
Die Wohltat war riesenhaft. Innerhalb von Sekunden war von ihm 196 genommen die Erniedrigung der physischen Qual, die Last der Traurigkeit. Aufatmen ohnegleichen! . . . »Fahren Sie mich zum Bahnhof!« rief er dem Chauffeur mit fast lustiger Stimme zu.
Der nächste Zug nach Paris ging in anderthalb Stunden.
Es war reichlich viel, was Marion sich zumutete. Sie magerte ab; ihr Arzt machte ein besorgtes Gesicht und erklärte, hundert Pfund Gewicht sei entschieden zu wenig für ihre Größe. Übrigens hustete sie beunruhigend. Zu den eigenen und den politischen Sorgen kamen die um Menschen, die ihr nahestanden. Von Marion erwarteten alle Trost. Würde sie auf die Dauer stark genug sein, um ihn zu spenden?
Nur Frau von Kammer, die Mutter, schien immer noch zu hochmütig starr, um sich trösten zu lassen. Sie haßte und verachtete, mit trotziger Konsequenz, »das Pack«, das in Deutschland regierte; aber sie hielt sich in stolzer Distanz von denen, die mit ihr haßten und ohne sie kämpften. Seitdem Tilla Tibori nach Hollywood abgereist war, wo sie endlich einen Vertrag bekommen hatte, schien Marie-Luise ganz allein. Sie saß in Rüschlikon, machte Handarbeiten und zeigte jedem, der es sich etwa einfallen ließ, sie aufzusuchen, eine strenge Miene. Auch mit ihren Töchtern verkehrte sie weiter auf die zeremoniös-gemessene Art. Tilly hatte sich damit abgefunden; Marion tat es immer noch weh. In ihr war das innige Bedürfnis, der armen Mutter zu helfen; aber die ließ es nicht zu.
Tilly hingegen vertraute sich unter Tränen der Schwester an. »Was soll ich tun? Ich muß immer an diesen Mann, diesen Ernst denken, und ich höre nichts mehr von ihm. Wo ist er hingekommen? Er darf sich ja nirgends aufhalten . . . Vielleicht ist er aus lauter Verzweiflung nach Deutschland zurück, und sitzt schon in einem Lager – das wäre zu grauenhaft, dann sehe ich ihn nie mehr. Und der Peter Hürlimann will, ich soll mich von meinem Ungarn scheiden lassen und ihn heiraten, er bekommt jetzt bald eine Stellung. Aber das kann ich doch nicht, ich liebe ihn nicht genug, was soll ich nur tun, wenn ich nur wüßte, wo der Ernst steckt, dann würde ich gleich zu ihm hinfahren . . .« So redete und schluchzte Tilly – die hübsche kleine Tilly mit dem schlampigen Mund. Wußte Marion, die große Schwester, Rat? Sie konnte ihr nur das Haar streicheln und ihr die Stirn küssen, und immer wieder versichern, es wird schon noch alles gut werden, vielleicht finde ich deinen Ernst, ich könnte in Paris ein paar Leute darum bitten, sich nach ihm umzusehen . . . Und Tillys hilfloses Weinen: Ach bitte, tu das, Marion – ach, wenn du das für mich tun wolltest –: als brauchte die große Schwester sich nur zu entschließen, und gleich wäre die Adresse des Verschollenen bekannt.
In Paris sprach Marion mit Theo Hummler und mit der Proskauer über den Fall. Beide bemühten sich, aber ohne Erfolg. Marion mußte viel an Tilly denken; sie schrieb ihr lange Briefe, telephonierte mit ihr. Aber sie konnte nicht ihre ganze Sorge auf die kleine Schwester konzentrieren. Es gab andere Hilfsbedürftige, zum Beispiel Martin. Ihn fand Marion in 197 einem erschreckenden Zustand. Den Freunden gegenüber schwindelte er, die Kur in Zürich sei von ihm bis zum Ende glücklich durchgeführt worden; seit Wochen rühre er kein Morphium mehr an, und sein miserables Aussehen sei noch »Ausfallserscheinung«. Marion aber hatte gute Augen. Als sie zum erstenmal allein mit Martin war, sagte sie ihm ins Gesicht: »Vor mir brauchst du dich doch nicht zu verstellen und keine Geschichten zu machen! Du spritzt lustig weiter. Pfui – ich finde das ekelhaft!« – Martin leugnete erst; gab aber dann alles zu und schien sich nicht einmal sehr zu schämen. »Wenn schon!« rief er herausfordernd. »Es ist doch wohl meine Sache, wenn ich mich kaputtmachen will! Mon corps est à moi!« . . . Marion schaute ihn eine Weile prüfend an, ehe sie ihn fragte: »Warum tust du es eigentlich? Es muß doch einen Grund haben . . .« – Daraufhin er, mit gesenkter Stirn: »Wenn ich nur einen guten Grund wüßte, um es nicht zu tun . . .« Nach einer Pause fügte er, viel leiser, hinzu: »Kikjou wäre ein Grund gewesen.«
Marion gab noch nicht nach. »Kikjou wird nur dann wieder zu dir kommen, wenn du mit dem Teufelszeug endgültig Schluß machst – das weiß ich. Ich muß dir aber gestehen: mir scheint, es ist recht traurig um dich bestellt, wenn du nur seinetwegen damit aufhörst, dich langsam zu vergiften. Wenn du das wolltest, hättest du in Berlin bleiben sollen. Inmitten der allgemeinen Verkommenheit dort drüben wäre es nicht weiter aufgefallen, und übrigens soll unter prominenten Nazis deine Droge ja recht beliebt sein. Wir hier draußen aber haben Verantwortung und Verpflichtung; wir repräsentieren etwas –: die Opposition gegen die Barbarei. Wir müssen uns in guter Form halten, um kämpfen zu können. Verstehst du das nicht? Natürlich versteht du es, du bist ja gescheit.«
Er bewegte gequält das Gesicht. »Ich weiß . . . Das weiß ich ja alles . . . ›Kämpfen‹ – es klingt sehr schön. Aber kämpfen ohne Hoffnung geht über menschliche Kraft. Ich habe die Kraft nicht. Ich habe keine Kraft und keine Hoffnung mehr.« Er verstummte; hob den Kopf auch nicht, da ihre zornige Stimme ihn wieder anrief.
»Du machst es dir leicht! Es muß verdammt bequem sein, dazusitzen, die Hände im Schoß, und zu murmeln: Ich habe keine Kraft und keine Hoffnung mehr . . .« – Er lächelte müde. »Du meinst, das ist so besonders bequem?« Sein verschleierter Blick streifte spöttisch ihre empörte Miene. »Aber herumzugehen mit Gebärden wie ein Fahnenschwinger und immerfort zu erzählen: Der Sieg ist unser! – während man doch aufs Haupt geschlagen ist und sich kaum noch rühren kann – das ist wohl das Richtige, wie? Das ist wohl das Wahre?«
Marion hatte als Antwort: »Es ist immer noch besser als der billige Trost in den künstlichen Paradiesen. Das ist etwas für ausgediente Fliegeroffiziere, die Ersatz-Sensationen brauchen, oder für bourgeoise Damen, die in ihrer Ehe unbefriedigt bleiben und sich nun entschädigen mit morbiden kleinen Amüsements. Es ist so feige, so langweilig, so kleinbürgerlich!«
Nun änderte Martin plötzlich Blick und Haltung. »Ich weiß übrigens 198 gar nicht, wovon du sprichst.« Er sagte es schläfrig und kokett; in den verhangenen Augen blitzten tückische kleine Lichter. »Schließlich habe ich gerade eine schwere Entziehungskur hinter mir. Ich nehme fast gar nichts mehr – und daß ich noch ab und zu eine Kleinigkeit brauche, ist nur natürlich, wenn man bedenkt, was für Dosen ich konsumiert habe. Aber auch mit diesen Bagatellen höre ich nun bald auf. Es ist nur eine Frage von Tagen oder Wochen, dann bin ich vollständig frei. Ich werde mich mit Kikjou versöhnen. Wahrscheinlich verlasse ich mit ihm zusammen Europa. Wir fahren nach Brasilien, dort hat er ja große Möglichkeiten, wir gründen etwas, machen irgendetwas auf, eine Zeitschrift oder dergleichen . . .« Glaubte er selbst, was er sprach? Seine Augen schimmerten vor Verlogenheit. Er zog sich in die Lüge zurück wie in eine Festung, die ihn vor jeder zudringlichen Frage beschützte. Er log sanft und pedantisch, er schwindelte mit Würde und Gelassenheit; er sagte: »Der Arzt in Zürich war sehr zufrieden mit mir – weißt du . . .«, und neigte sein großes, schönes, bleiches, von der Lüge gleichsam verklärtes Antlitz geheimnisvoll lächelnd Marion entgegen. Die bekam Angst. – –
Sie mahnte und tröstete. Wer aber war da, um sie zu ermuntern und aufzurichten? – Marcel war da, und er sagte ihr, daß er sie liebe. Sie indessen konstatierte vor dem Spiegel: »Abscheulich sehe ich aus. Ich gefalle mir nicht. So mager darf ein Mensch gar nicht sein. Mein Gesicht ist winzig – ganz zusammengeschrumpft; nur noch Augen. Und einen Hals habe ich – wie eine Sechzigjährige.« Marcel widersprach: »Tu es plus belle que jamais . . .«, womit er übrigens rechthatte. In ihrem abgezehrten Gesicht, das dramatisch gerahmt war von der lockeren Purpurfülle des Haars, gab es beunruhigend schöne Farben. Er küßte sie. Er legte sein verwildertes Kinderantlitz mit den tragisch aufgerissenen Augen zärtlich an ihre Wange. Ach, es war gut, wenn sein Vogelruf – sein singendes, klagend jubelndes »Uhu!« – durch das Treppenhaus tönte. Dann trat er ein, schleuderte den leichten Hut in die Ecke, ließ sich aufs Bett fallen und redete.
Marcel redet. Worte schießen hervor, so wie das Blut stürzt aus dem Munde des Kranken. Worte Worte Worte –: sie verwirren sich, steigern sich, überschlagen sich; sie jammern, prahlen, untersuchen; sie klagen an, spotten, verdammen; sie wollen nicht aufhören, können nicht verstummen: Marcel scheint verdammt zum Sprechen, wie der Ewige Jude zum Wandern. Schließlich preßt er sich die Fäuste gegen die Schläfen und schreit auf: »Mich ekelt so vor den Worten! Ach Marion, wenn du ahnen könntest, wie widerlich mir die Worte sind! Es ist mir, als müßte ich schmutziges Wasser saufen und wieder ausspucken. Die großen Begriffe sind schal geworden, abgenutzt – und keine neuen in Sicht, an die wir uns halten, an denen wir uns aufrichten könnten! Alles ist schon gesagt, alles ist schon verbraucht. Das Neunzehnte Jahrhundert war enorm redselig, durchaus rhetorisch, ins Wort verliebt, ihm vertrauend wie einem Fetisch. Nun ist alles entleert. Die Krise des Zwanzigsten Jahrhunderts – die ich wie eine 199 Krankheit in meinem Leibe spüre –, ist die Krise der großen Worte. Die Demokratie ist fertig, weil sie sich an die verbrauchten, großen Worte klammert. Der Faschismus, die neue Barbarei, hat leicht siegen: er köpft Leichen. Wir müssen eine neue Unschuld lernen. Zu der kommen wir nicht durch Worte; nur durch die Tat. Die großen Worte hängen an uns wie Schmutz, machen unsere Stirnen klebrig und unsere Hände. Nur eine Flüssigkeit wäscht dies ab: Blut. Soll es unser Blut sein? Dann müssen wir es vergießen! Besser, es strömt dahin, als daß es uns in den Adern erstarrt wie ein zäher Brei. Wir sollen töten und leiden; nicht mehr reden und schreiben. Genug geredet! Genug geschrieben! Genug gedacht! Vielleicht werden andere Generationen wieder Freude haben und Gewinn von den Worten und Gedanken. Nicht wir – nicht mehr wir! Wir sollen gegen die Raserei des Rückschrittes nicht mehr Argumente setzen, sondern ein anderes Rasen, eine neue Besessenheit. Wir müssen blind und stumm werden und bereit zum Untergang. Nur so sühnen wir die Schuld unserer Väter . . . Oh Marion – Marion, halte mir den Mund zu! Ich ersticke an meinen Worten . . .«
Und Marion bedeckte ihm die Lippen mit der Innenseite ihrer mageren Hand. – –
Im Frühling bekam Marion eine Einladung von Siegfried Bernheim: er sähe sie gerne in seinem Heim auf der Insel Mallorca; sie möge kommen, einige Abende bei ihm rezitieren und eine Weile sein Gast sein. Ein Scheck für die Reisespesen lag bei.
Damals befand sie sich gerade in Nice. Sie ging zum Spanischen Konsulat, wegen des Visums. Der Beamte blätterte lange in ihrem Paß, von vorne nach hinten und von hinten nach vorn. Mißtrauisch wog er ihn in der Hand. »Sind Sie Tschechoslowakin?« wollte er schließlich wissen. – »Nein«, sagte Marion. »Das ist ein Fremdenpaß – wie Sie sehen.« – »Also nicht.« Der Beamte machte ein Gesicht, als hätte man ihm die letzte Hoffnung geraubt. »Also nicht Tschechoslowakin. – Alors, Madame, je comprends: en somme, vous êtes sans patrie.« Es klang sowohl mitleidig als auch tadelnd. Marion war erschrocken. Sie versuchte zu lachen: »C'est juste, Monsieur, c'est exacte . . .« –
Auf Mallorca hatte sie gute Tage. Der blaue Himmel und die blauen Fluten leuchteten um die Wette. Wunderbar waren die faulen Vormittage am Strand, die langen Spaziergänge am Nachmittag durch das hügelige Land. Bernheim – konziliant, munter und stattlich wie immer – war der aufmerksamste Wirt, eifrig darum bemüht, seinen Gästen von den Augen abzulesen, was für Wünsche sie etwa haben mochten. Mit würdig zurückhaltendem Stolz zeigte er seine neuen Erwerbungen: ein Mädchenbildnis von Renoir, das Samuel in Paris für ihn eingekauft hatte, und ein Männerportrait von Greco, das er durch einen Händler erworben hatte und an dessen Echtheit Samuel zweifelte. Man war gesellig und guter Dinge. Abends stellten Freunde sich ein: junge Engländer, die viel Whisky tranken und sich beim Kartenspiel zankten; deutsche Maler und Literaten. 200 Samuel, schalkhaft und väterlich, teilte sich mit Bernheim in die Pflichten und Rechte des Hausherrn. Niemand schien hier Sorgen zu haben; jedenfalls entsprach es nicht den Sitten, sie zu zeigen. Die Frauen gingen auch abends in bunten Strand-Pyjamas herum; die jungen Leute trugen lustig gestreifte Trikots, wie die Matrosen sie haben. »Dies ist die Insel der Seligen!« proklamierte Bernheim. »Alle lieben sich, alle fühlen sich wohl.« Von Politik war möglichst wenig die Rede. Wenn man die Lage einmal diskutierte – etwa die bedrohliche englisch-italienische Spannung wegen des Abessinischen Krieges oder die Unruhen auf dem spanischen Festland – zeigte man eher ein sportliches Interesse als echte Beteiligung. Über Mussolinis Chancen, das Schicksal des Negus, die Zukunft der spanischen Republik redete man kaum anders als über die Details eines Stierkampfes in Palma oder einer großen Kartenpartie. Man schien dies alles nicht ganz ernstzunehmen. Das Schwimmen im Meer, das Bridge-Spielen, der Flirt, die Liebe waren wichtiger. Samuel erklärte Marion: »Man muß den Leutchen ihre Ferien gönnen. Viele von denen, die hier so leichtfertig scheinen, haben in London oder Paris oder sonst irgendwo ein recht schweres Leben. Darum ist ihre Lustigkeit auch oft etwas krampfhaft. Hören Sie, wie diese Dame dort drüben in der Ecke schrill lacht? Mir tut es weh in den Ohren . . . Kommen Sie mit mir in mein Atelier hinauf! Ich zeige Ihnen mein neues Bild.«
»Gefällt es Ihnen?« fragte er dann mit seiner Orgelstimme, während er die Leinwand ins rechte Licht rückte. »Ja, mir scheint, es ist ziemlich gut. Ich bin jetzt wohl so weit, daß ich alles, was ich empfinde und was wichtig ist, durch Farben ausdrücken kann . . . Menschen interessieren mich kaum noch«, behauptete der Meister. »Ihre Angelegenheiten und Probleme langweilen mich meistens. Mich berühren nur noch die Farben. Sie sind echt, da gibt es keine Tricks, sie enthalten das Leben, sie sind Leben . . .« Er prüfte, schräg gehaltenen Kopfes, aus zusammengekniffenen Augen sein Werk. Der Fischerknabe mit dem Korb auf den nackten Knien war mit so viel raffinierter Zärtlichkeit gemalt; die Formen seines Körpers und des braunen jungen Gesichtes schienen mit so viel liebevoller Sorgfalt ausgeführt, daß die Behauptung des Meisters, er interessiere sich nicht für Menschen, durch seine eigene Schöpfung dementiert wurde.
Als Marion ihren Vortragsabend in Bernheims Villa gab, fand sich die ganze englische und deutsche Kolonie zusammen; der große Saal im Parterre, wo der echte Renoir und der zweifelhafte Greco hingen, war überfüllt. Sogar der berühmte englische Schriftsteller war erschienen, der seine Villa droben in den Bergen hatte und sich sonst niemals sehen ließ. Marion brachte ihre wirkungsvollsten Stücke. Sie war gut in Form. Von den Engländern freilich verstand fast keiner etwas; indessen waren alle entzückt von Marions Stimme und von ihren Augen. Nach dem Vortrag gab es kaltes Buffet mit Champagner. Bernheim hielt eine sowohl launige als auch ergriffene Rede auf »das schöne Kammermädchen« – wie er Marion mit eigensinniger Scherzhaftigkeit nannte. »Solange Menschen wie Sie 201 unter uns sind, brauchen wir nicht zu verzweifeln!« rief er ihr zu, das Sektglas in der erhobenen Hand. Alle klatschten. Der berühmte Schriftsteller, dessen Augen hinter dicken, sehr scharf geschliffenen Brillengläsern verschwanden, streckte mit einer merkwürdig ungeschickten, rührend befangenen Bewegung die sehr langen, dürren Arme aus, um zu applaudieren. ›Wie Serenissimus in einem Witzblatt‹, mußte Marion denken. Übrigens liebte sie seine Bücher und war neugierig darauf, ihn kennenzulernen. Durch Samuel ließ sie sich mit ihm bekanntmachen.
Er war sehr groß und mager, und es schien, daß er nichts Rechtes mit seinen endlosen Armen und Beinen anzufangen wußte. Das merkwürdig kurze Gesicht, mit dem sehr weichen und großen Mund, wurde beherrscht von den runden, spiegelnden Brillengläsern. Er versuchte auf eine befangene, zugleich hochmütige und schüchterne Art, zunächst deutsch mit ihr zu reden. Später sprachen sie englisch. – Sie saßen am offenen Fenster; vor ihnen der Blick auf das dunkle Meer, den Strand und die schwarzen Palmen, deren Konturen mit schöner Genauigkeit vorm Nachthimmel standen. Der berühmte Schriftsteller schwieg, das Gesicht der Landschaft zugewendet. Marion wagte nicht, das Gespräch zu beginnen. Sie dachte an seine Bücher, die sie bewunderte. ›Was geht jetzt hinter seiner Stirne vor?‹ überlegte sie. ›Beobachtet er mich? Er scheint nicht viel zu sehen, und muß doch allerlei bemerken, hinter seinen Brillengläsern. Macht er sich nun innerlich Notizen, die recht spöttisch sein dürften? In seinen Erzählungen hat er eine seltsam kalte, nicht gerade liebevolle Manier, Menschen zu schildern. Er kennt sie so genau, gerade weil er sich von ihnen distanziert. Übrigens nimmt er, bei aller Distanziertheit und Ironie, leidenschaftlichen Anteil an unseren Sorgen: das wird deutlich in seinen schönen, klaren Essays. Wie gescheit er ist . . . Ich muß einige seiner großen Aufsätze unbedingt wieder lesen. Er hat viele höchst vorzügliche Dinge geschrieben . . .‹
Da sprach er plötzlich – Marion erschrak fast, als seine weiche, zögernde Stimme kam. »In Ihrem Vortrag hat etwas mich schokiert. Sie haben manchmal einen kriegerischen Ton – als wollten Sie zur Schlacht rufen. Das beunruhigt mich. Gewalt wird schon genug gepredigt und angewendet – von den anderen. Wir sollen friedlich sein. Nicht Rache, nicht Kampf – Versöhnung sei unsere Absicht.«
»Versöhnung?« Marion wiederholte es trotzig. »Es gibt Menschen und Prinzipien, mit denen sie nicht in Frage kommt. Wir sind lange genug versöhnlich gewesen – zu lange, wie mir jetzt scheint. Vor einem Gangster, der die Handgranate und den Revolver schwingt, macht man sich lächerlich, wenn man flüstert: Ich bin Pazifist.«
»Man soll es nicht flüstern; man soll es schreien«, sagte der Schriftsteller. »Und wenn der Gangster lacht?« – »Was schadet es. Vielleicht vergißt er darüber, die Handgranate zu werfen. Es ist niemals eine Schande und kann nie ein Irrtum sein, sich zum Frieden zu bekennen.«
Daraufhin Marion – deren lange, magere Finger gierig nach irgend etwas zu suchen schienen, was sie zerbrechen konnten –: »Es gibt 202 Situationen, in denen die Angst vorm Kampf blamabel und verhängnisvoll wird.«
Der Schriftsteller, nicht ohne Strenge: »Ich habe nicht von der Angst vorm Kampf, ich habe von der Liebe zum Frieden gesprochen.«
Sie rückte ungeduldig die Schultern. »Das läuft oft aufs gleiche hinaus. Die tolerante Haltung dem absolut Schlechten gegenüber erklärt sich niemals nur aus edlen Motiven; immer auch aus Feigheit.«
Er lächelte, milde und betrübt, über ihre Heftigkeit. »Das absolut Schlechte? Das kann wohl unter Menschen ebenso wenig vorkommen, wie das vollkommen Gute. Der menschliche Charakter ist immer zusammengesetzt. An die Elemente, die wir die guten nennen, appellieren wir nur, wenn wir selber gut bleiben.«
Marion wollte auffahren; sie beherrschte sich, biß sich die Lippen und sagte, ein wenig heiser: »Die deutschen Sozialdemokraten, und die anderen Parteien unserer verstorbenen Republik, versuchten es, ›gut‹ zu bleiben – verhandlungswillig und versöhnungsbereit gegenüber ihren Todfeinden. Schauen Sie es sich an, wohin sie's damit gebracht haben! Sollen die europäischen Demokratien diese löbliche Taktik wiederholen?«
»Ich hoffe es«, sagte er schlicht. »Die großen Demokratien sind schuldbeladen, sie haben zu büßen. Alles Unheil in Europa kommt aus dem Vertrag von Versailles.«
Marion war fast am Ende ihrer Geduld. »Glauben Sie, die Deutschen hätten einen besseren Vertrag diktiert, wenn sie den Krieg gewonnen haben würden?« fragte sie gereizt. Woraufhin der Brite nur die Achseln zuckte. »Darauf kommt es nicht an.« Da Marion nun verfinstert schwieg, legte er sanft die Hand auf ihre Schulter. »Seien Sie mir nicht böse!« bat er, das Gesicht mit den spiegelnden Brillengläsern freundlich nahe an ihres gerückt. »Ich begreife Ihren Schmerz, Ihren Haß, und ich achte ihn. Es gibt aber ein paar sittliche Grundwahrheiten, die man vor Haß und Schmerz leicht vergißt. Alles Üble kommt aus der Gewalt. Sie steht immer am Anfang des Schlimmen. Man kann die Gewalt durch Gewalt besiegen, aber nicht aus der Welt schaffen. Der verhängnisvolle Irrtum ist, zu meinen, daß der Zweck die Mittel heilige. Das ist falsch. Mit schlechten Mitteln ist kein großes Ziel zu erreichen; die Kommunisten haben dies nicht verstanden, daher ihr fürchterliches Versagen. Der Friede, die Gerechtigkeit können nicht durch Krieg gewonnen werden. – Sind Sie für den antifaschistischen Krieg?« erkundigte er sich, plötzlich in einem leichteren, konversationsmäßigen Ton.
Marion sagte: »Die faschistischen Staaten würden ihn nicht führen können. Diese aufgeblasenen Monstren sind innerlich hohl. Aber es sollte kein Zweifel darüber bestehen, daß die Demokratien bereit und gerüstet sind; dann würden die Aggressoren es mit der Angst bekommen.«
Der Engländer, mild und ein wenig spöttisch: »Warum sind sie denn aggressiv? Weil sie arm sind, weil sie zu wenig Land haben. Deutschland, Italien, Japan wollen Raum. Sollen wir, die Saturierten, die Satten und 203 Reichen, das Expansionsbedürfnis dieser Proletarier unter den Ländern mit Giftgasbomben und Maschinengewehren aufhalten? Und uns dabei noch als die Moralischen aufspielen, als die Bewahrer der heiligsten Güter, die Retter der Demokratie?«
»Wenn Sie so empfinden, warum haben Sie dann nicht dafür Propaganda gemacht, man solle Deutschland Kolonien, den Anschluß Österreichs und was nicht sonst noch gewähren, als die Politik des Reiches noch von Stresemann gemacht wurde, statt von Hitler, Rosenberg und Goebbels?«
»Hätte ich es nur getan!« Die Reue in seiner Stimme mußte aufrichtig sein. Er gestand: »Damals habe ich die Dinge noch nicht so klar gesehen wie heute.«
»Erst mußte Deutschland ein großes Zuchthaus für seine Bewohner und eine schreckliche Gefahr für alle Völker der Erde werden!« Marion ließ sich vom Fensterbrett auf den Boden gleiten. Sie stand aufrecht da, und ihr Gesicht war zürnend, wie wenn sie eines der kämpferischen Gedichte sprach. »Könnte man mit der gerechten Verteilung der Erde nicht warten, bis Deutschland wieder ein anständiges, zivilisiertes Land ist? Wenn man den deutschen Ansprüchen jetzt entgegenkommt, sieht das verdammt so aus, als geschähe es aus Angst vor der deutschen Macht. Es stärkt Hitlers Stellung, und schadet also dem deutschen Volk.«
Er versetzte, leise aber bestimmt: »Mir scheint doch, das deutsche Volk liebt seinen Hitler. Hätte es ihn sonst herbeigeholt? Würde es ihn sonst dulden?«
Marion bewegte zornig den Kopf mit der Purpurmähne. »Sie wissen so gut wie ich, daß Millionen Deutsche ihn hassen und ihn los sein wollen; die anderen aber sind ahnungslos und verblendet, es wird unsere Sache sein, sie zu erziehen.«
Ihre Augen flammten; die des Schriftstellers blieben vorsichtig verborgen hinter den dicken Gläsern. Er sagte: »Sicher ist es nicht die Sache der imperialistischen Demokratien. Wir haben vor den eigenen Türen zu kehren. Weder England noch Frankreich oder Amerika haben irgend das Recht, sich vor anderen als moralische Vorbilder aufzuspielen. Was wir tun können, ist nur, das deutsche Volk befreien von dem Minderwertigkeitskomplex, an dem es seit dem Jahre 1918 leidet. Wenn es wieder glücklicher und reicher ist, wird es vermutlich auch wieder verständiger und weniger reizbar werden.«
»Oder es wird noch übermütiger und habgieriger werden«, warf Marion ein. Woraufhin er nur zu erwidern hatte: »Das wird sich zeigen. – Zunächst kommt es darauf an, einen neuen Krieg zu vermeiden. Denn er wäre das Schlimmste.«
Marion: »Noch schlimmer wäre eine Welt, in der die Faschisten diktieren. Und dazu kommt es, wenn die Demokratien den Willen zum Widerstand nicht mehr haben.«
Er darauf, eigensinnig und milde: »Machen Sie sich eine Vorstellung vom nächsten Krieg? Gift- und Gas-Bomben über Berlin, Paris und 204 London: ich möchte es nicht erleben . . . Cholera und Hungersnot und zerschossene Häuser und überall die Diktatur einiger bösartiger Generäle: das wäre die Konsequenz. Die Zivilisation retten, indem man sie vernichtet? – Wie kann eine kluge Frau dergleichen wünschen!« Er legte ihr wieder die lange, schöne Hand auf die Schulter, diesmal mehr väterlich mahnend. »Wenn in unseren Ländern ein neues, starkes sittliches Bewußtsein, eine echte Friedensliebe und Nächstenliebe sich durchsetzen in den Herzen der Menschen, dann werden sie es sein, die schließlich die Welt beherrschen und zur allgemeinen Religion werden; nicht die Machtanbetung, wie sie heute von den enttäuschten, verführten Deutschen gepredigt wird.«
»Die Gestapo wird den Engländern und Franzosen die Friedens- und Nächstenliebe schon ausprügeln.« Marion sagte es böse. Er aber, zuversichtlich und heiter: »Gummiknüppel haben keine Gewalt über das menschliche Herz.« – »Auf die Dauer doch«, sagte sie. Er wiegte sinnend das Haupt. »Wir überschätzen die Macht. Sie ist vergänglich, und solang man sie hat, bringt sie mehr Schaden als Nutzen. Mag das Empire sich auflösen! Mir liegt nichts daran, ich wäre ohne das Empire glücklich. Mag doch London eine provinzielle Stadt wie Kopenhagen werden – es wäre vielleicht dann nicht mehr so lärmend dort, man hätte mehr Ruhe, und ich brauchte nicht auf Mallorca zu sitzen, um arbeiten zu können. Lassen wir die anderen ihren kindlichen Hunger nach Macht befriedigen und geben wir ihnen das Beispiel der Sanftheit. Sie werden uns nicht überfallen, wenn wir nicht mehr bewaffnet sind. Sie werden unsere Leben verschonen – der Krieg ist es, der uns vernichten würde. Wenn nur ein Teil der Welt – der reifere, bessere Teil – sich zum Verzicht auf die Gewalt entschlösse, folgten die anderen nach. Schließlich fände man zueinander. Alle Menschen wären eine Familie, die Staaten wären nicht mehr voneinander abgegrenzt, die Verteilung der Länder hätte keine Wichtigkeit mehr. Das schöne Ziel wäre erreicht«, sprach er träumerisch in die warme Nacht hinaus. –
Einmal lachte sie über ihn; er nahm es nicht übel; sagte nur: »Lachen Sie immerhin! Ich habe auch viel gelacht, viel gespottet, stets gezweifelt, stets alles besser gewußt. Ich war Skeptiker. Durch alle Abgründe der Skepsis bin ich gegangen. Die Skepsis führt zur Verzweiflung. Wenn man leben will, muß man auf das Gute im Menschen vertrauen können.« – Da war sie schon wieder ernst.
Hinter ihnen wurde der weite Salon mählich leer. Die festlichen Lichter waren ausgegangen; in einer Ecke saß traulich Meister Samuel mit einer hübschen jungen Amerikanerin und trank Whisky. – »Was habt ihr euch eigentlich zu erzählen – ihr, dort drüben am Fenster?« rief ihnen seine Orgelstimme zu. Marion antwortete nicht; sie sah jetzt müde aus, wie nach einer Anstrengung, die zu lange gedauert hat. Der Schriftsteller – dessen kurzes fahles Gesicht im Gegenteil erfrischt und rosig belebt schien – sagte, wobei er nicht zu Samuel hinüber sondern aufs Meer schaute: »Wir streiten über die Mittel; nicht über das Ziel. Sicher nicht über das Ziel.« Zu Marion gewendet, meinte er abschließend: »Sie übersehen eine grundlegende 205 Tatsache, chère amie – eine ganz einfache, biologische Tatsache, möchte ich beinah sagen. Die Liebe ist stärker als der Haß. Der Haß nutzt sich ab, erlahmt, läßt die im Stich, die mit ihm zu siegen meinten. Die Liebe aber ist unüberwindlich.«
Da sie nun verstummten und es auch im Raume hinter ihnen stille war, hörte man plötzlich, mit einer seltsamen Eindringlichkeit, als wollte es sich endlich bemerkbar machen, das Rauschen des Meeres und das seufzend leise Auslaufen der kleinen Wellen auf dem nahen Strand. –
Ein paar Tage später reiste Marion ab, ohne den berühmten Autor noch einmal gesehen zu haben. Alle warnten sie davor, dies friedensvolle Eiland gerade jetzt zu verlassen; am heftigsten riet Siegfried Bernheim ihr ab. »Auch ich sollte eigentlich nach Paris, in Geschäften. Fällt mir aber gar nicht ein zu fahren. Kein Mensch weiß, was nächstens in Europa geschieht. Morgen kann es zum Krieg zwischen England und Italien – und das heißt: zur allgemeinen Katastrophe – kommen. In Frankreich herrscht schon jetzt beinah Bürgerkrieg. Die Frage ist, ob man Sie in Marseille überhaupt landen läßt. Dort wird gestreikt, kein Hotel oder Restaurant ist offen, die Hafenarbeiter machen keinen Dienst, es wurde auch schon geschossen – ich flehe Sie an, meine Liebe: bleiben Sie hier! Sie riskieren draußen Ihr Leben. Hier ist nichts zu fürchten, auf dieser Insel sind wir in Sicherheit.« – »Soviel ich weiß, ist gestern eine Bombe vor dem Gemeindehaus in Palma explodiert«, sagte sie. Bernheim nahm dies nicht ernst. »Das sind Kindereien! Die Menschen hier haben ein gutes Herz. Warum sollten sie böse und blutdürstig sein? Sie haben genug zu essen, und diesen Himmel und dieses Meer! Vielleicht kommt es zu Unruhen in Barcelona. Auf Mallorca ist man wie in Gottes Schoß. – Ich gedenke, mir von hier aus anzusehen, wie sie sich in Europa schlagen«, sagte der Bankier. – Und einer der jungen Literaten zitierte lachend die Verse von Jean Cocteau:
»A Palma de Majorque
Tout le monde est heureux.
On mange dans la rue
Des sorbets au citron.« –
Marion ließ sich nicht umstimmen. Alle schüttelten betrübt die Häupter über so viel Eigensinn; Samuel umarmte sie und schalt sie mit bewegter Orgelstimme »kleine Närrin«; sie reiste ab. Am 13. Juni kam sie in Marseille an. Es war nicht gemütlich. Am Hafen gab es weder Kofferträger noch Taxis. Für ein enormes Trinkgeld wollte ihr ein Junge das Gepäck zum Bahnhof bringen. Die Hotels und Restaurants waren geschlossen, wie Bernheim es vorausgesagt hatte. Die Straßen waren verstopft von Menschen, die in langen Zügen marschierten, rote Fahnen trugen und die »Internationale« sangen. Die Gesichter schwitzten, waren eingehüllt in Staub, hinter dem Staub aber gab es ein mutiges Leuchten. Man begrüßte sich mit der erhobenen Faust. ›Was ist es?‹ dachte Marion. ›Ist es die Revolution?‹ 206 Sie empfand Freude, hier zu sein. Erst in der überfüllten Bahnhofshalle bekam sie Angst. Der Zug, der sie nach Paris bringen sollte, verspätete sich. Sie fand auch den Jungen mit ihrem Gepäck nicht mehr. Übrigens war sie hungrig. –
Am nächsten Morgen erwartete Marcel sie in Paris, an der Gare de Lyon. Er sah glücklicher aus als seit langem. »In unserem alten Frankreich gehen große Dinge vor!« erklärte er ihr. –
Als Marion ihre Tournee für den Sommer vorbereitete, hatte sie wieder Schwierigkeiten mit ihrem Paß. Verschiedene Konsulate weigerten sich, ihr ein Visum zu geben. Sie erinnerte sich des spanischen Beamten in Nice und seines grausamen: »En somme, Madame, vous êtes sans patrie.« So ging das nicht weiter. Eines Tages sagte sie zu Marcel: »Mir scheint, mein Engel, wir müssen heiraten.« Er schien über diese Mitteilung zu erschrecken. Er gestand ihr: »Es ist mir nicht so ganz recht . . . Irgendwie habe ich davor Angst.« – »Wieso – Angst?« wollte sie lachend wissen. Er sagte: »Du hast mich nie heiraten wollen, und das war ein guter Instinkt von dir. Ich eigne mich nicht zum Ehemann. Ich bin krank, neulich habe ich wieder Blut gespuckt, ich bin erblich belastet, ich habe abscheuliche Eltern. Wo werde ich enden?« Er zögerte eine Sekunde, ehe er selbst, sehr leise, die Antwort gab: »Im Irrenhaus – fürchte ich oft . . .« Während Marion eine heftig abwehrende Geste machte, fuhr er fort: »Und nun – nur des Passes wegen? Irgendwie empfinde ich es doch als unschicklich . . . Das ist wahrscheinlich sehr dumm von mir«, entschuldigte er sich gleich. »Bürgerliche Vorurteile . . . Die pädagogischen Prinzipien der Madame Poiret scheinen ihren Einfluß auf mich ausgeübt zu haben.« Er lachte ein bißchen; wurde aber gleich wieder düster. »Es wird uns Unglück bringen . . .« Unter den hochgespannten Bögen der Brauen war sein Blick verdunkelt von Ängsten, die Marion nicht verstand. Sie fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar; es fühlte sich hart und widerspenstig an. »Aber, mon choux! Seit wann sind wir abergläubisch? – Wir können uns ja bald wieder scheiden lassen, wenn dir der Ehestand nicht gefällt!« schlug sie lachend vor. Sie küßte ihn; die Gebärde, mit der sie ihn an sich zog, war nicht jene, die eine Liebende für den Geliebten hat; vielmehr glich sie der anderen, mit der die Mutter ein erschrecktes Kind umarmt. Er lächelte zaghaft, während er den Kopf an ihre Schulter legte. »Es wird sehr hübsch sein, wenn wir Mann und Frau sind, meine kleine Marion . . .« Es klang aber nicht sehr bestimmt, eher fragend, fast flehend. –
Ein paar Tage nach der Zeremonie auf dem Standesamt war Marcel es, der vorschlug: »Wir sollten eine kleine Hochzeitsreise unternehmen, das gehört sich doch. Monsieur Poiret und Madame werden für ein paar Wochen miteinander in die Berge fahren.« – »Das wäre großartig!« Marion war begeistert. »Ich habe noch drei Wochen Zeit vor meiner Tournee durch die böhmischen Bäder.«
Sie entschieden sich für das Engadin. In St. Moritz gefiel es ihnen nicht. Sie fanden ein schönes altes Graubündener Bauernhaus, in der Nähe von 207 Sils Maria. Dort mieteten sie sich zwei Zimmer. – »Eine wunderschöne Hochzeitsreise!« stellten sie, jeden Morgen wieder, befriedigt fest. Sie atmeten freier in dieser dünnen und reinen Luft. Vieles, was drunten, im Tiefland, sie quälend beschäftigt hatte, schien sie hier droben kaum noch anzugehen. Vorübergehend durften sie manches vergessen, was sonst Inhalt ihrer Reden und Gedanken war. Sie sprachen nicht mehr vom Faschismus, der britischen Politik, den deutschen Konzentrationslagern, dem historischen Materialismus und der letzten Rede des Genossen Dimitroff; vielmehr davon, welch unbeschreiblich zarte und starke Farben der Himmel hatte; wie rührend es war, daß auf dem kargen Moos so mannigfach geformte und getönte Blumen gediehen, oder von der fast schmerzenden Klarheit des Lichts, in dem alle Dinge zugleich wirklicher und entrückter standen als drunten, in der feuchteren Atmosphäre. Am Abend kam die Bergwand, vor der Sils Baselgia lag, schwarz und drohend nahe heran. »Sie wird auf uns stürzen!« fürchtete sich Marcel. Und Marion: »Ich hätte nichts dagegen. Es würde einen kolossalen Krach geben, und dann wäre es still.«
Stiller, als es nun war, da sie schwiegen, konnte es kaum noch werden. Sie gingen auf der großen Landstraße, die nach St. Moritz führt, rechts neben ihnen der verdunkelte See, links die Bergwand. Der starke Wind, den sie im Rücken hatten, kam von Maloja her. Über ihnen, der Himmel, war reingefegt. Nachmittags hatte es Wolken gegeben; aber nun stand jeder Stern in genauer Klarheit.
Marion war froh, weil Marcel schweigen konnte. Von ihm genommen schien der unselige Zwang, Worte ohne Ende hervorbringen zu müssen. War er von einer Krankheit genesen? Er hatte den gleichmäßig ruhigen, kraftvollen Gang des Gesunden. Er schritt wacker aus – wie ein Soldat, fand Marion, die sein Gesicht von der Seite prüfte. Hatte nicht auch dieses Antlitz jetzt soldatische Züge? Im blassen Licht der feierlichen Nacht sah es härter und entschlossener aus, strenger und dabei zuversichtlicher, als sie es jemals gekannt hatte. Der Blick ging siegesgewiß gradeaus. So schreitet und so blickt einer, der sich über das Ziel des Weges länger nicht im Ungewissen ist. Der Mund war trotzig etwas vorgeschoben. Die stolze Kurve der Brauen beherrschte eine Stirn, die trotz ihrer Niedrigkeit kühn schien – bereit, sich allen Stürmen auszusetzen; nicht nur dem frischen Wind, der von Maloja kam und den sie jetzt noch in den Rücken hatten.
Sie hatten heute in Sils Maria das bescheidene Haus besucht, an dem die Tafel mit der Inschrift hing: »Hier sann und schaffte Friedrich Nietzsche . . .« Über diesen Text hatten sie etwas lachen müssen; aber sie waren ernstgeworden in der engen Stube. Aus dem Fenster gab es keinen Blick in diese unsagbare Landschaft; man hatte vor sich nur die steil nach oben strebende Wand des Hügels, an den das Haus wie festgewachsen schien. Bei all seinen inneren Kämpfen, enormen Aufschwüngen, katastrophalen Niederlagen, hatte der magenkranke Professor – gemartert von Kopfschmerzen und intellektuellen Ekstasen – sich nicht den Trost der schönen Aussicht 208 gegönnt. Marion und Marcel konstatierten dies mit Ehrfurcht und mit Erbarmen. –
»Wir wollen umkehren«, sagte jetzt Marcel; es war, als könnte er's nicht erwarten, den kalten Bergwind endlich im Gesicht zu spüren. Sie waren nicht darauf gefaßt gewesen, daß es sie mit solcher Heftigkeit anwehen würde. Sie erschauerten, froren, schmiegten sich im Gehen enger aneinander. Marion sagte: »Es ist so gut, daß wir hergekommen sind!« Er lächelte, ohne sie anzuschauen. »Ja – schöner als hier kann es auf dieser Erde nicht sein.« Er blieb stehen. »Dieses Tal . . . dieser Wind . . .« Er zog tief die Luft ein. »Der Mann in dem abscheulichen Zimmer, wo wir heute gewesen sind – der kannte sich aus. Er wußte die schönste Landschaft zu finden und die Probleme, die entscheidend sind. Er hatte alles schon durchgemacht, ehe wir anfingen zu denken. Der ganze Aufruhr unserer Herzen, alle Ratlosigkeit, die schrecklichsten Irrtümer, der Wahnsinn, und noch die kühnsten Hoffnungen waren ihm gegenwärtig. Er hat alles schon ausgesprochen – in deiner Sprache, Marion, in deiner schönen Sprache. Jetzt sollten wir schweigsamer sein – und wäre es nur aus Ehrfurcht. Da er in Gedanken alles durchgelitten und durchgekämpft hat, müssen wir anders leiden und anders kämpfen. Hier hat der Prophet seine Wege gemacht. Wir aber sollten handeln. – Warum sagst du nichts, Marion? Aber du zitterst ja? Du klapperst ja mit den Zähnen, ma pauvre! Komm näher an mich! Ich will meinen Mantel über deine Schulter legen.« 209