Klaus Mann
Der Vulkan
Klaus Mann

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Dritter Teil
1937-1938

»Das goldene Zeitalter, heißt es, liege nicht hinter uns, sondern vor uns; wir seien nicht aus dem Paradiese vertrieben, mit einem flammenden Schwerte, sondern wir müßten es erobern durch ein flammendes Herz, durch die Liebe; die Frucht der Erkenntnis gebe uns nicht den Tod, sondern das ewige Leben.«

              Heinrich Heine

 

Erstes Kapitel

Hollywood war eine Enttäuschung –: Tilla Tibori mußte es sich eingestehen. Zu Anfang hatte sie es köstlich gefunden –: wegen der schönen Landschaft, des amüsanten Verkehrs, besonders aber wegen der höchst angenehmen Schecks, die pünktlich zu jedem Weekend eintrafen. Einen Teil der Summen mußte sie an ihren Agenten abtreten; doch blieb immer noch mehr, als sie Lust hatte auszugeben. Zum ersten Mal in ihrem Leben legte Frau Tibori etwas zurück. Sechshundert Dollars in der Woche ist ein hübsches Geld; schon aus diesem Umstand glaubte Tilla schließen zu dürfen: der große Ruhm war ihr sicher. Hierfür sprachen noch andere Symptome. In New York hatten die Reporter sie am Schiff begrüßt, auch in Hollywood waren sie gleich zahlreich zur Stelle gewesen. Die Zeitungen von Los Angeles brachten ihr Portrait auf der ersten Seite. Tilla empfand, beinah fröstelnd vor Glück: So fängt es an . . . Aber damit hatte es auch fast schon aufgehört.

Denn nun kam die Zeit des Wartens. In Hollywood wartete man: es schien die allgemeine Beschäftigung. Das Manuskript des Films, in dem sie mitwirken sollte, mußte geändert werden; dies dauerte schrecklich lange. Die Schecks trafen ein; sonst aber ereignete sich durchaus nichts. Die Herren vom »Writer Department« – einfallsreiche Schriftsteller aus Budapest oder Brooklyn: ihrerseits hochbezahlt – erfanden neue Witze und dramatische Pointen für die Wiener Gesellschafts-Komödie. Darüber vergingen Monate. Tilla war bald nervös. Der amüsante Verkehr wurde langweilig; die strahlende Landschaft mit ihren Palmen und Autostraßen verlor allen Reiz; sogar die Schecks, so hochwillkommen sie waren, bereiteten nicht mehr die gleiche, fast wilde Freude wie in der ersten, hoffnungsvollen Zeit. – Immerhin: zu eigentlicher Enttäuschung gab es noch keinen Anlaß. In der Rolle, die ihr zugedacht war, konnte Tilla alle ihre Reize spielen lassen. Kein Zweifel: der große Triumph stand bevor. Wäre das Manuskript nur erst fertig!

Endlich war es so weit; die Aufnahmen konnten beginnen. Das Leben wurde interessanter und spannungsreicher. Die Reporter ließen sich wieder melden, auch Kavaliere waren plötzlich da; abends, nach der Arbeit im Studio, fuhr Tilla, bunt geschmückt, in die eleganten Dancings mit den spanischen Namen; am nächsten Morgen stand in der Zeitung zu lesen, mit wem sie gespeist und geflirtet hatte. Etwas überraschend, auch schmerzlich war, daß ihre Gage plötzlich gesenkt wurde, während sie noch in der Wiener Gesellschafts-Komödie agierte. Ihr erster Vertrag, der für sechs Monate bindend gewesen war, lief gerade ab; er sollte verlängert werden, aber nur noch vierhundert Dollars die Woche wurden genehmigt. Tilla erklärte sich einverstanden; sie dachte: ›Nach dem fulminanten Erfolg, der mich erwartet, kann ich neue Ansprüche stellen!‹ Die Kenner versicherten ihr: »Du bist eine Spezialität; für alle mondänen Filme wird 296 man dich brauchen. Wenn du ein großes Abendkleid trägst, siehst du nicht aus wie ein Mannequin, sondern wie eine Fürstin. Außerdem kannst du wirklich eine feine Konversation sprechen. – Tilla, wir beneiden dich alle um deine wundervolle Karriere!«

So viel Freundlichkeit war verdächtig. Tilla blieb mißtrauisch; musterte sich lange im Spiegel. Ohne Frage: für eine Frau Mitte Vierzig sah sie fabelhaft aus. Immer noch war sie die auffallend attraktive Erscheinung, hochelegant in ihrem leichten, dunkelroten, mit schwarzem Schleier etwas phantastisch drapierten Kostüm; la belle Juive, noch immer, bei deren Anblick Herren animiert mit der Zunge schnalzen. Freilich gab es gewisse Schärfen in ihrem schönen Gesicht. Der dunkelrot gefärbte, große, stark geschwungene Mund wurde an den Winkeln von zwei müden kleinen Falten gesenkt; die Haut schien ein wenig angegriffen, matt und flaumig geworden, und die Beweglichkeit der etwas zu großen Nüstern hatte einen nervösen Charakter – den Charakter eines unruhigen, nach erregenden Gerüchen gierigen Schnupperns bekommen.

Sie photographierte sich gut. In einigen Szenen sah sie blendend aus, sowohl in großer Toilette als auch im Négligé. Trotzdem beschloß der Regisseur, jene Bilder aus dem Film zu schneiden, die sie im zärtlichen tête-à-tête mit einem Leutnant zeigten. Während Tilla auf die zweihundert Dollars wöchentlich ohne Widerstand verzichtet hatte – um ihre Liebes-Szenen kämpfte sie wie eine Löwin. Es nützte nichts; man gab ihr zu verstehen: sie war einfach zu alt. Als der Film zum erstenmal in Hollywood vorgeführt wurde, bekam das blonde junge Mädchen, welches die süße kleine Näherin spielte, den meisten Applaus. Tilla durfte sich zwar mehrfach zeigen – Orchideen im Arm, Federputz in den Haaren; so erlesen zurechtgemacht wie noch nie –; doch wurde ihr entschieden weniger zugeklatscht. Die Kritiker lobten respektvoll ihr würdig-elegantes Auftreten; die Sensation des Abends aber war die kleine Blonde. »Ein neuer Stern am Himmel Hollywoods!« verkündeten die Blätter in fetten Lettern. Gemeint war stets die süße Näherin. Von Frau Tibori war kaum die Rede.

Trotzdem versprach man ihr eine neue Rolle. Nur mußte das Manuskript noch umgearbeitet werden; diesmal handelte es sich um einen Stoff aus der Französischen Revolution. Tilla wartete. Die Herren aus Budapest und Brooklyn in ihren komfortablen Bungalows waren emsig; doch fand, was sie zustande brachten, nicht den Beifall der entscheidenden Instanzen. Es war einerseits zu unanständig, andererseits längst nicht spannend genug. Die Schriftsteller mußten noch einmal von vorne anfangen. Monate vergingen. Tilla zog aus dem großen Hotel am Hollywood-Boulevard in ein Boarding House nach Beverly Hills. Sie nahm englische Stunden, lernte fechten, ließ sich massieren, fuhr nach Santa Monica zum Schwimmen; sie lunchte mit Bekannten in ungarischen, schwedischen, deutschen, jüdischen, französischen, russischen Restaurants. Sie langweilte sich unsäglich. Sie legte Geld zurück – die Wochenschecks trafen ein. 297 Die große Filmgesellschaft schien sich kaum noch für sie zu interessieren; trotzdem kamen die Schecks. Sie war beinah verwundert, als ihr Vertrag ein zweites und ein drittes Mal verlängert wurde. Der Stoff aus der Französischen Revolution – zu unanständig und nicht spannend genug – war längst beiseitegelegt. Man ließ Frau Tibori wissen, wahrscheinlich dürfe sie in einem englischen Familien-Film die elegante Cousine aus Paris darstellen. Tilla freute sich schon auf diese künstlerische Aufgabe; indessen kam es niemals dazu. Man entschied sich für eine echte Französin.

Aus purer Langerweile schlief Tilla mit einem jungen Mann mexikanischer Abkunft, der seinerseits in Hollywood auf das große Glück wartete. Leider aber war er keineswegs der Empfänger von Wochenschecks; hingegen wollte er von Tilla ein Auto. Sie schenkte es ihm. Als er sie aber dann mit eben jener Französin betrog, die ihr die Rolle weggespielt hatte, wurde es ihr zu dumm. »Wer bin ich, daß du mich so behandelst?« schrie sie den Gigolo an. Daraufhin sagte er kalt: »Eine erfolglose alte Person.« Sie weinte lange. Bis zu diesem Grade also war sie schon heruntergekommen! In Berlin und Frankfurt am Main hatten Dutzende ihr zu Füßen gelegen – und hier ward sie so behandelt! Sie haßte Hollywood. Alles war falsch hier – die Palmen, die Sonnenuntergänge, die Früchte: nichts hatte Wirklichkeit; alles Schwindel, Kulisse. Und erst die Menschen! Eifersüchtige, herzlose Intriganten waren sie samt und sonders; besessen von ihrem Ehrgeiz, ihrer Geldgier und dem unersättlichen Hunger nach Reklame.

Tilla vergaß, daß auch sie nur zu gerne etwas mehr Reklame gehabt hätte. Leider blieb sie aus. Kein Reporter mehr ließ sich blicken – während das Haus jener süßen Blonden, die das Nähmädchen gespielt hatte, umlagert war. Niemand kümmerte sich um die Tibori. Schließlich empfing sie die Schecks, die wie aus Versehen jedes Weekend eintrafen, nur noch als beleidigende Almosen.

Sie nahm nicht Anteil an den besseren, höheren Dingen, die es auch in Hollywood gab; an den politischen, geistigen Bemühungen vieler ihrer amerikanischen oder europäischen Kollegen. Sie sehnte sich nach Europa. Es fehlte nicht viel und sie hätte sich sogar nach dem Kommerzienrat gesehnt, der vor allem ihre Stimme liebte und dem »am Rest« nicht viel gelegen war. Keinesfalls hätte sie von ihm je Beleidigungen zu hören bekommen, wie von diesem mexikanischen Hochstapler. Häufiger noch dachte sie an Frau von Kammer –: ›die einzige Freundin, die ich gehabt habe.‹ Die Nachricht von Tillys Tod bewegte sie tief und ehrlich, obwohl das junge Mädchen sich ihr gegenüber stets so zurückhaltend betragen hatte. ›Mein Patenkind! Ach, so mußte es enden! Ich bringe kein Glück – wahrscheinlich ist es schon verderblich, nach mir zu heißen.‹ Sie schrieb lange, wehmutsvolle Briefe an Marie-Louise. »Ich bin so alleine – so einsam . . .«, war der Refrain. »Gott sei Dank, daß ich wenigstens etwas Geld zurücklege. Vielleicht machen wir mal zusammen einen Hutladen auf, oder etwas Ähnliches.« 298

Mehr und mehr verliebte sie sich in diese Vorstellung. Hatte sie keinen Ehrgeiz als Schauspielerin mehr? – Ach nein: wenn sie so alt war, daß man ihr die kleinste Liebes-Szene nicht mehr gönnte –: wozu sich dann weiter plagen? – Das lange Warten hatte sie müde gemacht. Ihr Selbstvertrauen war zerstört. Sie fühlte sich diesem Hollywood nicht mehr gewachsen. Hollywood war grausam; es warf sie weg wie ein dekoratives, aber abgetragenes Kleidungsstück, für das niemand mehr Verwendung hat. Schließlich war sie beinahe froh, als sich eines Tages erwies: ihr Vertrag wurde nicht verlängert.

So hatte die Qual ein Ende – die Pein des Wartens, die Folter des enttäuschten Ehrgeizes. Sie durfte zurück, heim, nach Zürich –: seltsam, sie dachte an Zürich wie an die Heimat. Auf dem Bahnsteig würde Marie-Louise sie erwarten – die gute Marie-Louise! Ob sie eine alte Frau geworden war? Sie fielen sich in die Arme, und abends gingen sie auf den Rummelplatz, wie zwei Schulmädchen, um den Finnischen Riesen zu sehen, den größten Menschen der Erde . . . Wie zwei Schulmädchen . . . Inzwischen aber war das Leben vergangen. ›Wie habe ich es verbracht?‹ – Tilla hatte reichlich Zeit, darüber nachzudenken, auf der langen Fahrt durch den amerikanischen Kontinent, von Küste zu Küste. Keine Reporter fielen ihr lästig; keine Verehrer schickten Telegramme. Sie saß in ihrem privaten Abteil – das hatte sie sich doch noch geleistet – und sann. ›Ich bin beinah fünfzig. Meine Haare wären weiß, wenn ich sie nicht färbte. Wie habe ich mein Leben verbracht? Ein Leben ist doch eine große Sache – eine kostbare, eine seltsame Sache . . .‹

 

Abel machte die Überfahrt von Southampton nach New York auf einem großen englischen Dampfer, in der Tourist-Class. Er genoß die Reise; er liebte das Meer; liebte es zu allen Tageszeiten und zu jeder Stunde der Nacht; er war gebannt von seiner Ruhe und von seiner Veränderlichkeit; tausendmal neu entzückt von den tausendmal wechselnden Farben: ineinander spielend, oder einander jäh ablösend, perlgrau und schwarz, giftiges Flaschengrün, rosig überhauchtes Weiß, drohendes Schiefergrau, und die unendlichen, unbeschreiblichen, immer wieder überraschenden Nuancen des Blau. Der Anblick des Meeres war sehr tröstlich für diesen Menschen auf der Überfahrt. Ob es still atmete oder sich heftig erzürnte: das Meer hatte die Kraft, das Herz und die Gedanken abzulenken, zu befreien von den kleinen Sorgen und dem großen Kummer. Solcher Befreiung, solchen Trostes war Benjamin bedürftig, und er war dankbar für ihn.

Mit den übrigen Passagieren unterhielt er sich kaum. Er blieb einsam, auf seinem Liegestuhl, am kleinen Tisch während der opulenten Mahlzeiten, bei den Spaziergängen – immer um jenes ziemlich kurze Stück des Promenade-Decks herum, das den Tourist-Class-Bewohnern zur Verfügung stand. Die Mitreisenden respektierten sein Bedürfnis nach gedankenvoller Ruhe. Ein einsiedlerischer Professor: das kennt man. Zwar hatte 299 niemand in der Tourist-Class jemals seinen Namen gehört; bedeutend gefurchte Stirn und grüblerischer Blick des schweigsamen Deutschen indessen ließen vermuten, daß es sich hier um einen Herrn von imposantem Wissen handelte. Man ließ ihn bei seinen Büchern. Nur manchmal trat ein keckes junges Mädchen oder eine schwatzhafte alte Dame heran, die, mit Kreuzwort-Rätseln beschäftigt, in Erfahrung zu bringen hofften, welcher Strom in Asien mit G beginnt, und welcher deutsche Dramatiker der klassischen Epoche seinen Namen mit einem »Sch« am Anfang buchstabiert.

Benjamin langweilte sich nie. Seine Tage waren mit Sorgfalt eingeteilt, immer gab es eine Beschäftigung. Zwischen den Stunden, die für den Deck-Spaziergang oder einfach für die träumerische Betrachtung des Meeres reserviert waren, lagen die anderen, die dem Studium der englischen Sprache und der Lektüre gehörten. Abel hatte beschlossen, täglich mindestens fündundzwanzig englische Vokabeln zu lernen. Leider war seine Aussprache schrecklich, und da er fast gar nicht sprach, hatte er kaum Gelegenheit, sie zu verbessern. Er las die Geschichte der Vereinigten Staaten und einen Roman von Dickens in der Original-Sprache mit gewissenhafter Benutzung eines Lexikons. Zur Erholung blätterte er dann in der »Welt als Wille und Vorstellung«, in Tolstois »Krieg und Frieden«, den Tagebüchern Hebbels, Mörikes Gedichten und anderen schönen Dingen, die er in seinem Handkoffer mit sich führte.

Es waren gute Tage –: die besten seit Jahren, wie ihm schien. Er genoß sie, Stunde für Stunde. Wäre nur die Aussicht auf die Ankunft nicht gewesen! Die verdarb beinah alles, ruinierte das stille Glück – wenn man den Fehler beging, an sie zu denken. Die acht-mal-vierundzwanzig Stunden konnten nicht ewig dauern. Anfangs schien ihr Ende kaum abzusehen – so wie dem Kinde Ferien unendlich scheinen, die gerade beginnen. Schließlich aber mußte der Morgen kommen, da die Freiheits-Statue – majestätisch und hilfsbereit, hochmütig und milde zugleich – den muskulösen Arm und das geschmückte Haupt den Passagieren der Third-, Tourist- und Cabin-Class entgegenreckte. »Auch auf dich haben wir nicht gewartet!« spricht die Freiheits-Statue: irgendein Emigrant und armer Kerl hatte einmal behauptet, diese entmutigenden Worte könne man der großen Dame, Lady Liberty, von der Stirne ablesen. Daran mußte Abel sich nun erinnern. »Auch auf dich haben wir nicht gewartet . . .« Ach, sicherlich, es würde Unannehmlichkeiten bei der Ankunft geben; vielleicht ließ man ihn überhaupt nicht an Land – obwohl doch sein Visum in Ordnung war und sein Paß noch für eine Weile Gültigkeit hatte –; vielleicht wurde er gleich zurückgeschickt, deportiert, oder mußte mindestens für mehrere Tage auf jene gräßliche Insel, Ellis Island genannt, wo man verdächtige Fremde wie Zuchthäusler traktierte –: davon hatte Abel viel des Schlimmen gehört.

In Wirklichkeit verlief dann alles sehr harmlos. Abel hatte die Nacht vor Aufregung nicht schlafen können. Das Schiff lag seit Mitternacht in 300 Quarantäne vor New York. Um fünf Uhr morgens war Benjamin auf dem Deck. Aus dem blau schwimmenden Dunst des frühen Sommertages trat, zart und deutlich, die zackige Linie der Wolkenkratzer – wie eine phantastische Kulisse zwischen den verschleierten Himmel und das sanft schimmernde Meer gestellt. ›Das ist es also‹, dachte der deutsche Professor, ergriffen und etwas ängstlich. ›Das ist also New York . . .‹

Er hatte noch reichlich Zeit, sich mit Grübeleien abzugeben, die übrigens mehr um die Vergangenheit als um die Zukunft kreisten; denn er war ein vorwiegend historisch orientierter Mensch. Er dachte an Bonn, an Annette Lehmann und an die selige Mutter in Worms; an Amsterdam, das »Huize Mozart«, an Stinchen, den »Brummer« und Herrn Wollfritz; er dachte an irgendeine Straßenecke oder ein Caféhaus in Wien, an eine hübsche Perspektive durch den Londoner Hyde-Park, an das Jüdische Comité in der skandinavischen Stadt und an den heruntergekommenen Berliner Schupo-Mann, der die goldene Uhr hatte stehlen wollen. ›Das alles ist lange her‹, sann der Historiker. ›Es ist schon Geschichte; Teil und Abschnitt meiner Lebensgeschichte, ein Kapitel aus meiner Biographie. – Und was fängt nun an? – Man muß Spaß verstehen, wenn man leben will‹, dachte er noch – und wußte nicht genau, warum es ihm, gerade jetzt, einfiel. ›Man muß sehr viel Spaß verstehen. Humor muß man haben, sense of humour, keep smiling . . .‹

Er stand im Rauch-Salon der Tourist-Class, zwischen deutschen Auswanderern, französischen Geschäftsleuten und englischen Vergnügungsreisenden, die alle darauf warteten, den amerikanischen Beamten ihre Pässe zeigen zu dürfen. Die Beamten trugen Brillen, hatte frische, rosige Gesichter zu grauem Haar und versuchten ihren gutmütigen Mienen einen gravitätisch-strengen Ausdruck zu geben. Die deutschen Auswanderer fürchteten sich vor ihnen; sie setzten sich ihnen gegenüber an den kleinen Tisch, zitternd, in mühsam gefaßter Haltung, wie der schlecht vorbereitete Schüler, für den das Examen beginnt.

Auch Benjamin war nervös, als an ihn endlich die Reihe kam. Aber der Beamte – der gerade vorher eine allein reisende junge Dame ins peinlich lange Kreuzverhör genommen hatte – behandelte ihn zuvorkommend, beinah herzlich. Er sagte: »Alles in Ordnung, Professor!« – und entließ ihn mit der Bemerkung: »Gut für Sie, daß Sie hergekommen sind! Hier hat man mehr Achtung für einen gebildeten Mann als in Ihrem Lande!« – Benjamin wurde ein wenig rot: der Schüler war, zu seiner eigenen Überraschung, gelobt worden. –

. . . Er fühlte sich der Stadt New York nicht gewachsen. Alles war ihm fremd und etwas grauenhaft. Er empfand, unter Schaudern: Die Wolkenkratzer fallen mir auf den Kopf – gleich werden sie mich begraben. – Vor allem vermißte er Bäume in dieser Steinwüste. Er schmachtete nach etwas Grünem wie der Durstige nach einem Schluck Wasser. Man konnte stundenlang durch diese Straßen gehen, ohne ein Stückchen Wiese, ein frisches Gesträuch oder einen Brunnen zu finden. Die Hitze war drückend, 301 die schwere Luft schien mit Feuchtigkeit vollgesogen, man war den ganzen Tag in Schweiß gebadet, nachts hörte der Asphalt nicht auf zu glühen. Der Central Park, wo Benjamin ab und zu promenierte, gewährte keine Erholung. Die Wege dort waren staubig und überfüllt; auch das Grün der Bäume schien unfrisch. – Am wohlsten fühlte er sich noch im Hotel – 39. Straße, East, zwischen Lexington- und Park-Avenue –, das Bekannte ihm empfohlen hatten. Sein kleines Zimmer ging auf den Hof und war ziemlich dunkel. Immerhin gab es Ruhe dort, und es war vergleichsweise kühl. Übrigens gefiel ihm auch die kleine Bar des Hotels; er plauderte gern mit dem Mixer, Monsieur Gaston. Abgesehen von diesem charmanten und welterfahrenen Gesellen, hatte er in New York keine Freunde. Die Empfehlungsschreiben blieben wieder unbenutzt; Abel tröstete sich mit der Überlegung: Es ist nicht die Saison, um Besuche zu machen; die meisten Leute sind wohl auf dem Land . . . Er war fast so einsam wie während der ersten trostlosen Monate in Amsterdam. An Stinchen schrieb er: »Ich sehne mich nach Dir, gutes Kind! Die Amerikanerinnen sehen hochmütig abweisend aus; übrigens kann ich nicht mit ihnen sprechen. Du solltest bei mir sein, liebes Stinchen. Wenn ich etwas Geld habe, lasse ich Dich kommen . . .« –

Alles war ihm beschwerlich. Das Essen – in Cafeterias oder »Drug Stores«, auf hohen Barstühlen oder im Stehen hastig eingenommen – schmeckte ihm nicht. (›Bohnen zum Fisch, Bananen mit Mayonnaise, Apfelkuchen mit Käse, Eiswasser zum Kaffee und Kaffee zur Suppe –: wer hält denn das aus!‹ dachte er grimmig.) Die süßlich scharfen Zigaretten verursachten ihm Hustenreiz; der Whisky machte ihn krank; die Jazz-Musik, die überall aus den Radioapparaten lärmte, ging ihm auf die Nerven; er fürchtete sich vor allem, sogar vor den Zeitungen mit ihren ewig sensationellen, immer schreienden Überschriften, und ganz besonders vor den dicken Sonntagsnummern, an denen man schleppte wie an einer Last. Er fühlte sich so elend, daß er tagelang das Bett hütete: ›es muß eine Grippe sein, Halsschmerzen habe ich auch, wahrscheinlich etwas Fieber, sicher kommt es von dem feuchten Klima.‹ Er ließ sich, um die Höhe seiner Temperatur festzustellen, ein Thermometer aus dem Drug Store kommen; aber selbst das medizinische Instrument erwies sich als bösartig-fremd. Es funkelte tückisch-munter; die Zahlen schienen zunächst unleserlich, als er sie dann schließlich doch herausbekam, entsetzte er sich über ihre Höhe: 103, 104 – was sollte denn das bedeuten? Mußten denn hier alle europäischen Maße überboten werden? –

Er hatte drei Wochen für New York zur Verfügung gehabt, ehe er nach dem Mittelwesten abreisen mußte, um seine Tätigkeit an der kleinen Universität zu beginnen. Drei Wochen – eine lange Zeit, und sie war langsam vergangen. Nun aber waren es nur noch etliche Tage, die blieben. Sorgenvoll und pedantisch sagte sich der Professor: ›Ich habe noch zu wenig von der Stadt gesehen. Ich muß etwas unternehmen.‹

Man hatte ihm, in Europa, die Aussicht gerühmt, die von einem der 302 höchsten Gebäude New Yorks, dem Rockefeller Center, zu genießen war. ›Das ließe sich probieren!‹ beschloß Benjamin. ›Aus der Vogelperspektive wirkt alles besser; die Fahrt zum hohen Dach kostet nur 40 Cents, ich riskiere es, ich wage mich in den Lift.‹

Als der Aufzug ihn in rasender Geschwindigkeit nach oben trug, bereute er schon bitterlich sein Unternehmen. Ihm wurde übel, in den Ohren sauste es fürchterlich, er fühlte sich nah einer Ohnmacht. ›Der menschliche Organismus ist für solche Abenteuer, für Geschwindigkeits-Exzesse dieser Art nicht geschaffen‹, konnte er gerade noch denken. ›So viel darf einem nicht zugemutet werden. Die Zivilisation schlägt ins Barbarische um . . .‹ Da hielt der Elevator mit einem Ruck. – Von der Aussicht hatte Benjamin so gut wie nichts: teils, weil er den Himmelfahrtsschock noch nicht überwunden hatte; teils, weil der steile Blick in die Tiefe ihn neuerdings schwindlig machte.

Auch abends, in der »Musical-Show« am Broadway, die er aus purem Pflichtgefühl besuchte, fühlte er sich nicht gut. Er verstand die Witze nicht, über die alle so herzlich lachten; die Girls langweilten ihn, die gellende Musik tat seinen Ohren weh, die Sentimentalität der Liebesszenen war ihm peinlich, und nur einmal, gegen Schluß der Komödie, mußte er etwas kichern: eine respektlose Bemerkung über den deutschen »Führer« war vorgekommen. Er saß im Parkett, zwischen den gutgelaunten Menschen – ein einsamer Fremder, wie immer; ein Außenseiter, wie eh und je –, und sein kleines Gelächter war von solcher Art, daß es nicht so bald wieder aufhören wollte. Es schüttelte ihn, es verzerrte die Züge, tat weh; es war nicht harmlos, nicht froh; ein nervöser Lachkrampf – die Nachbarn schauten ihn verwundert an. Was ist das für ein sonderbarer Mann – von gedrungenem Körperbau, mit hoher Stirne, grüblerischen Augen –, der dort alleine sitzt und kichert, wie ein hysterischer Backfisch?

Es war kein gutes Gelächter gewesen; aber es hatte seine Stimmung doch verbessert. Warum sollte er jetzt gleich nach Hause gehen? Man könnte noch ein bißchen am Times-Square schlendern . . . Zum ersten Mal gefiel ihm das wirbelnde Spiel der kreisenden, tanzenden, sich auflösenden und eilig neu formierenden Lichtreklamen. ›Eine Schönheit – auch dies!‹ empfand der Professor aus Bonn. ›Eine neue Schönheit, vielleicht. Man muß sich gewöhnen; muß sich empfänglich machen für neue Werte und Reize, da man die alten verliert . . . Man muß Spaß verstehen, viel Spaß . . .‹

Er trank in einer überfüllten Bar zwei Whiskys. Ein Besoffener legte ihm den Arm um die Schulter; er ließ es sich, etwas ängstlich, gefallen. Der Besoffene sagte: »You have such a nice face, Doc! Such a funny continental face! I like you. Have a drink with me. What do you drink? – Tell me!« insistierte er, schon beinah zornig – weil Benjamin nur gequält lächelte –, »what do you drink? – After all – you must drink something!« – Benjamin mußte einen dritten Whisky schlucken. Es war reichlich für ihn. Immerhin gab es ihm den Mut, eines jener 303 Tanzlokale zu betreten, die sich so verlockend als »Parisian Dancing« plakatierten. Schon seit längerem war er neugierig, zu erfahren, was diese Etablissements im ersten Stock, die so einladend und etwas verdächtig wirkten, zu bieten hatten.

Der Tanzplatz war durch eine niedrige Barriere vom Lokal, in dem die Tische standen, abgetrennt. Es gab nur wenige Gäste; die meisten Mädchen schienen unbeschäftigt. Als Abel eintrat, drängten sie sich an die Barriere, wie Tiere im Zoologischen Garten sich ans Gitter drängen, wenn jemand mit Futter sich naht. War es ihnen verboten, das eingezäunte Tanz-Bassin zu verlassen? Waren sie eingekerkert auf dieser engen Fläche schmutzigen Parketts? – Dem Professor wurde unheimlich zumute. »Tanz mit mir!« bettelten die Mädchen. Sie hatten merkwürdig flache, klirrende Stimmen, wie Automaten; sie hoben die Arme, schüttelten die gespreizten Hände, die bunten Gesichter, das gelockte Haar; auch die weichen Körper in den armen, bunten Flitterkleidern schüttelten sie.

Die Minuten, die man tanzend verbrachte, wurden gezählt; jede Tanz-Minute kostete zwei Cents. Wenn das Orchester zu spielen aufhörte, mußte man zahlen. Übrigens gaben sich die Mädchen redliche Mühe, scheuten keine Anstrengung und keinen Trick, um den Tanz für ihre Kavaliere amüsant und lohnend zu gestalten.

Benjamin setzte sich an einen Tisch und bestellte Kaffee. Er beobachtete einen alten, hageren Mann, der ein hübsches brünettes Mädchen führte; sie waren das einzige Paar auf der Fläche. Der Mann hatte ein heuchlerisches Pfaffengesicht –; ›so spielen Schmierenschauspieler den Tartuffe‹, dachte Benjamin. Die Augen verschwanden hinter den spiegelnden Gläsern eines großen Zwickers. Das Mädchen sah todmüde und ungewöhnlich gelangweilt aus. Zwischen den rasierten Augenbrauen stand ein kleiner Zug von Ekel, während die gefärbten Lippen das mechanische Lächeln hielten. Übrigens war sie reizend; der schmale Körper, verführerisch unter der enganliegenden schwarzen Seide des Kleidchens – und auf dem schmalen Hals, das Gesichtchen blütenhaft zart –: ›wahrscheinlich hat sie exotisches Blut‹, dachte Benjamin. ›Von einer Südseeinsel könnte sie sein, sie gefällt mir.‹

Er ärgerte sich, weil der heuchlerische Alte eine so unanständige Art zu tanzen hatte, Das war ja scheußlich, wie er sich benahm; als Tanz könnte man diese unzüchtig schiebenden, wackelnden Bewegungen kaum noch bezeichnen; es war die nackte und groteske Obszönität –: welch ein schamloser Alter! Benjamin war gebannt und angewidert von solchem Schauspiel.

Eine starke Blonde hatte sich neben ihm niedergelassen: er bemerkte es erst, als er von ihr am Ärmel gezupft ward. Es stellte sich heraus, daß sie Deutsche war – Rheinländerin –, er mußte Bier für sie kommen lassen, sie hob das Glas, sagte: »Pröstchen« und scheute nicht davor zurück, ihn »Onkelchen« zu nennen. »Ich heiße Anni«, erklärte sie siegesgewiß, »die lustige Anni aus Köln!« Sie hatte keine Augenbrauen, 304 schönes blondes Haar, einen zu großen Busen und ein blödes Lachen. Benjamin fragte sie, ob sie das exotische Mädchen kenne, das vorhin mit dem obszönen Alten getanzt hatte. Die frohe Anni lächelte säuerlich. »Och – das ist also dein Typ, Onkelchen«, machte sie, halb neckisch, halb verdrossen. Sie holte das Mädchen heran, die Kleine war aus Los Angeles, Benjamin schaute sie an. Aus der Nähe betrachtet, war die Farbe des Gesichtes und der schön geformten Arme etwas gelblich; in den langen, schimmernden Augen aber, die sowohl schwermütig als auch listig blickten, gab es goldene Lichter. Der Professor empfand: ›In die könnte ich mich verlieben.‹ Er hatte drei Whiskys gehabt. Sie sagte: »Meine Mutter ist aus Honolulu. Kennst du die Lieder von Honolulu? Schöne Lieder. Meine Mutter hat mir gezeigt, wie man tanzen muß, damit es den Männern Spaß macht. Ich kann es gut, der Alte hat mir einen Dollar extra geschenkt, ich gehe morgen ins Kino, Gary Cooper, der gefällt mir am besten, wenn ich mit dem einmal tanzen dürfte . . .«

Man plauderte eine Viertelstunde. Die gemütvolle Anni mußte noch einmal Bier haben; die exotische Kleine trank Tee. Sie sagte zu Benjamin, er habe ein interessantes Gesicht. »Die Stirn – so gescheit –, und Augen wie einer, der sehr lieben kann.« – »Das können sie alle!« rief übermütig die Vollbusige vom Rhein, und trällerte: »Die Männer sind alle Verbrecher!« Es war eine lustige Stimmung. Die bräunlich Schlanke aber schaute auf die Uhr. »Wir sind jetzt siebzehn Minuten beisammen«, stellte sie, sanft und ernsthaft, fest. »Das kostet schon ziemlich viel. Wenn wir uns zu den Gästen setzen, müssen wir nämlich ebenso viel dafür verlangen, wie wenn wir mit ihnen tanzen: Das hast du wohl gar nicht gewußt? Jede Minute wird gezählt und berechnet . . .« Sie lächelte müde; hatte auch wieder den gequälten Zug zwischen den Brauen. »Ich dachte, es ist fair, wenn ich dir's sage.«

Die lustige Anni aus Köln machte böse Zeichen mit den Augen, runzelte die Stirne, schüttelte den Kopf. Aber der Professor war schon aufgestanden. »Ja, dann muß ich also bezahlen . . .« Er fühlte sich plötzlich sehr niedergeschlagen. ›Warum bin ich enttäuscht?‹ dachte er, schon zum Gehen gewendet. ›Was habe ich mir erwartet? Die einzige Überraschung dürfte doch sein, daß der kleine Spaß nicht teurer war. Natürlich kostet es ein paar Cents, wenn man die Zeit der fleißigen Tänzerinnen in Anspruch nimmt . . . Wer erwartet Gratis-Unterhaltung von armen Huren?‹

Er sah, durch eine dicke Wolke von Zigarettenrauch, noch einmal das zarte, müde Gesicht der Kleinen aus Honolulu –: eine empfindliche, schon etwas gelblich welke Blüte über dem anmutig schmalen Hals. Sie lächelte ihm zu – oder galten dieser Blick, dieses Winken schon nicht mehr ihm, sondern dem neuen Kavalier, der sich nahte? Er hatte den Hut schief auf dem Kopf, eine dicke Zigarre im Mund, und ging breitbeinig, schwankenden Schrittes. Er war schwer betrunken. Während der neue Kavalier sich mit einer Bewegung, die fast schön war durch ihre schamlose Gier, über die Kleine neigte, verließ Professor Abel das Etablissement. 305

Dieses war sein Flirt am Times-Square, New York City.

. . . Am Tag vor seiner Abreise geschah es Benjamin, daß er in einem Friseur-Laden Tränen vergoß. Der Mann in der weißen Schürze, der ihn rasierte, war taktvoll genug, es zu übersehen; trotzdem blieb der kleine Zwischenfall peinlich genug.

Benjamin ließ sich gerne vom Coiffeur behandeln. Es machte ihm Vergnügen, faul und wohlig ausgestreckt im verstellbaren Sessel zu liegen, während man ihm das Gesicht mit heißen und kalten Tüchern, mit allerlei Crêmes und Duftessenzen erfrischte. Aus dem Radio sprach eine sonore, forsch bewegte und gleichsam ermunternde Stimme. Der Professor mit der eingeseiften Miene hörte nicht hin; wahrscheinlich handelte es sich um Fußballspiel . . .

Aber was für Töne ließen sich nun vernehmen? Der Professor hob jäh den Kopf –: es war gefährlich; denn er hatte das blanke Messer des Barbiers am Hals. Beethovens »Mondscheinsonate«: Benjamin erkannte sie gleich, obwohl die erlauchte Melodie halb zugedeckt und verdorben war durch Jazz-Rhythmen, die ihr im Äther Konkurrenz machten. Indessen verstand es jemand, den Apparat so zu stellen, daß die ordinäre Tanzmusik verstummte und nur noch das Herrliche klang: das Herrliche füllte den Frisier-Salon mit wunderbarer, magisch starker Gegenwart. Welche Gnade! – ach, welche Erschütterung für den Professor aus Bonn.

Er erschauert, tausend Erinnerungen kommen mit den vertrauten Tönen: seine Heimat – oder doch alles, was er an ihr geliebt hat – ist plötzlich da. Annette Lehmann, die Ungetreue, und die traulich-musischen kleinen Feste in Marienburg –: alles stellt sich ein, beim gerührten Aufhorchen. Ein Heimweh ohnegleichen bewegt Benjamins Herz, während er im schräg gestellten Sessel ruht und lauscht. Ein Gefühl der Einsamkeit, so stark vorher niemals empfunden; Verlassenheit ohne Grenzen –: ihm ist zumute wie dem Kinde, das im Wald verlorenging, es ist dunkel, aus dem Schatten drohen Ungeheuer, und da kommt plötzlich die Melodie, mit welcher die Mutter ruft –: aber aus was für Fernen! Tröstlich und quälend zugleich schweben sie herbei, die holden Klänge der Heimat . . . Wie empfängt man sie? Nicht mit trockenen Augen. Man läßt die Tränen fließen – mag der Barbier sie sehen oder nicht; man kann sie nicht halten; auch tut es wohl, sie auf den Wangen zu spüren und den Salzgeschmack auf den Lippen.

Benjamin mußte schluchzen, weil die Mondscheinsonate ihn im Barber Shop überraschte –: so weit war es mit ihm gekommen. Der Coiffeur – ein gutmütiger Mann; nicht mehr jung – bemerkte: »You like music, Sir? I am fond of music myself.« Damit weckte er seinen seltsamen Kunden aus der gefährlichen Träumerei. Benjamin kam zu sich, wischte sich die Augen und murmelte etwas über das heiße Tuch, das zu Tränen reize.

Er schämte sich seiner Unbeherrschtheit und dachte – den prickelnden Geruch von Kampfer-Wasser in der Nase –: ›Alter Narr, der ich bin! Sentimentaler, deutscher alter Narr! Gestern abend habe ich mir aus der konventionellen Begegnung mit einer armseligen kleinen Frauensperson 306 das melancholische Abenteuer zurecht gemacht – und jetzt flenne ich wie ein Baby wegen der alten Sonate, die übrigens nicht einmal mein Lieblingsstück von Beethoven ist. So was gehört sich nicht, es ist peinlich . . . Während der ganzen letzten Wochen habe ich versagt: ein totaler Versager bin ich gewesen. An New York liegt es nicht, New York ist großartig, es liegt an mir, ich bin keineswegs großartig, ein sentimentaler Professor, vielleicht auch schon etwas verkalkt, und hoffnungslos europäisch. Sollte ich nicht froh darüber sein, daß in diesem Lande etwas Neues für mich beginnt? Statt Amerika kennenzulernen, lieben zu lernen, sitze ich hier und vergieße dumme Tränen über alte deutsche Romantik – als ob ich nicht wüßte, wohin diese Romantik führt, welcher Art ihre Konsequenzen sind, wenn sie sich politisch manifestiert! Bin ich nicht ein Opfer dieser Konsequenzen? Und lasse mich trotzdem erschüttern von dem alten, morbiden, abgenutzten Zauber! Eine Schande! Eine Blamage! Eine Peinlichkeit!

Irgendwo, im Mittelwesten dieses Landes, wartet etwas auf mich –: eine Aufgabe; etwas Wichtiges, etwas Schönes! Es gibt junge Leute, die von mir etwas lernen wollen. Vielleicht sind sie recht naiv, etwas unwissend; aber aufgeschlossen, frisch, vertrauensvoll . . .

Man gibt mir hier eine Chance – man gibt uns hier eine Chance. Die muß ich nutzen, für die muß ich dankbar sein. Das Land, das mich aufnimmt, mich leben und arbeiten läßt, hat ein Recht, Ansprüche an mich zu stellen. Gewisse Dinge darf es sich verbitten – zum Beispiel, dieses weinerliche Heimweh-Pathos. Ein vernünftiger Grad von Optimismus ist angebracht; ein Wille zur Zukunft, der nicht überschwenglich aber solid zu sein hat, wird zur Pflicht.

Kopf hoch, alter Benjamin! Pull yourself together, old fellow! Die Tränen sind längst getrocknet. Draußen machen die Autobusse, die Zeitungsverkäufer, die Trambahnen ihren forschen Lärm. Geh hinaus! Sei dabei! Spiele nicht den Einsamen, Feinen! Es ist eine fragwürdige Ehre, fein und einsam zu sein: abgesehen davon, daß es nicht für vorteilhaft gilt. – Die Depression sei definitiv überwunden. Das Leben in Amerika fange an.‹ 307

 


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