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»Man gewöhnt sich an alles«, konstatierte Frau von Kammer und seufzte. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, daß sie imstande war, ein derart reduziertes, glanzloses Leben auszuhalten.
Den guten Bekannten, die in Deutschland geblieben waren – achtbaren Leuten durchaus konservativer Gesinnung – schien es noch bedeutend schlimmer zu ergehen, wenn man den Nachrichten glauben durfte, die in Zürich eintrafen. Ein Major a. D., der zu den Freunden des Generals von Seydewitz gehört hatte, war mehrere Wochen lang im Konzentrationslager gewesen, und säße heute noch drin, wenn er nicht über besonders glänzende Verbindungen verfügte: alles dies, weil sein Dienstmädchen gemeldet hatte, er spreche respektlos von der Regierung. Ein verdienstvoller Herr, bewährt im Krieg wie im Frieden – und verhaftet wegen der Schwätzereien einer Magd! Manche, die im Februar 1933 von der »Machtergreifung« Hitlers entzückt gewesen waren, schienen jetzt, ein Jahr später, schon enttäuscht. Vor allem in Offizierskreisen gab es Katzenjammer, wie Frau von Kammer sich erzählen ließ. Nicht ohne Triumph nahm sie es zur Kenntnis. »Es scheint in der Tat, daß ein Mensch, der Gefühl für Würde hat, in diesem Deutschland nur noch Selbstmord begehen kann«, sprach Marie-Luise mit feierlichem Nachdruck. – »Selbstmord ist keine Lösung«, warf Tilly etwas schnippisch ein. »Sinnvoller wäre: gegen das Regime zu opponieren.« – »– Falls das noch irgendwie möglich sein sollte«, schloß Frau Tibori und hatte ihr dunkles, gurrendes, nicht ganz natürliches Lachen. – Tilly wollte das letzte Wort haben. »Die Möglichkeit zur Opposition ist wohl immer da«, meinte sie und sah eingeweiht aus. »Freilich genügt für die illegale Arbeit gegen die Diktatur weder die rechte Gesinnung noch Courage; es gehört Erfahrung dazu – Training, wie zu einem Sport.« Sie erinnerte sich der barschen Belehrung, mit der die zwei jungen Männer in Berlin sie abgefertigt hatten. Frau Tibori und Marie-Luise zeigten ziemlich ratlose Mienen.
Die Schauspielerin erschien jede Woche mindestens einmal zum Tee bei ihrer Freundin. Frau von Kammer hatte, seit dem ersten Januar, die Wohnung in der Mythen-Straße aufgegeben, weil sie zu kostspielig war, und gesellschaftliche Repräsentation ohnedies kaum noch in Frage kam. Sie war weiter hinaus, an den See, gezogen und bewohnte nun mit Tilly drei bescheiden möblierte Stuben in Rüschlikon. Die Tibori ihrerseits lebte immer noch mit jenem älteren Herrn, von dem sie meist zurückhaltend als von »meinem Bekannten«, manchmal auch als von »Herrn Kommerzienrat« sprach. – »Er ist gut zu mir, weißt du«, hatte sie Marie-Luise einmal gestanden, »und er verlangt nicht viel. Eigentlich liegt ihm nur daran, meine Stimme zu hören. Er ist vernarrt in hübsche Frauenstimmen und hört mich so gerne schwätzen. Nun, das Vergnügen ist ihm zu gönnen – wenn man bedenkt, was er sich's kosten läßt. – Der Rest bedeutet nicht viel für ihn.« 132
Frau von Kammer war doch ein wenig schokiert, weil ihre Jugendgespielin mit so viel Zynismus vom »Rest« sprach. Sie hatte Tilla einmal mit dem Kommerzienrat, gelegentlich einer Theaterpremiere, getroffen. Der Tibori war es peinlich gewesen; aber ihr greiser Kavalier ließ sich unbarmherzig vorstellen. Er sah recht verfettet und melancholisch aus, mit hängenden bleichen Backen und Augen, die in fahlem Speck zu verschwinden drohten. – Wie hält Tilla das aus? – fragte Frau von Kammer sich besorgt und etwas angewidert.
Tilla mußte es wohl aushalten. Wie sollte sie sonst über die Zeit hinwegkommen, während derer sie ihre Kenntnisse im Englischen perfektionierte und auf den Bescheid ihres Agenten aus Hollywood wartete? – Einmal war sie in London gewesen; dort hatte man, im Auftrag einer amerikanischen Gesellschaft, Probeaufnahmen von ihr gemacht. Nun hatte die Entscheidung in Kalifornien zu fallen. Aber die maßgebenden Herren schienen kaum Eile zu haben . . .
Am Ende konnte es Frau von Kammer nur recht sein, daß die Freundschaft zwischen Tilly und Tilla nicht so intim geworden war, wie die Ältere dies wohl beabsichtigt hatte. »Ich bin doch eigentlich so etwas wie deine Patentante«, hatte die Tibori gescherzt, und nichts unversucht gelassen, um das junge Mädchen für sich zu gewinnen und einzunehmen. Tilly aber blieb spröde. Wenn die Actrice sich Mühe gab, in ihre kleinen Geheimnisse einzudringen, schwieg sie störrisch. Sie war degoutiert von der Lebensführung ihrer »Patentante«. – »Eine nicht mehr junge Frau, die sich von einem dicken Kapitalisten-Schwein aushalten läßt!« sagte sie streng. Der Patentante konnte es nicht entgehen, daß sie etwas verächtlich behandelt ward. Wahrscheinlich ahnte sie auch die Gründe. »Diese junge Generation ist moralisch«, meinte sie sinnend. »Man erregt heute leichter Anstoß bei einer Zwanzigjährigen als bei einem Pfarrer oder einer alten Jungfer. Vielleicht hat das gute Gründe. Wir haben uns aus den moralischen Gesetzen, mit denen es unsere Eltern noch so ernstnahmen, nicht mehr viel gemacht und sind mächtig stolz auf unsere ›Freiheit‹ und ›Unabhängigkeit‹ gewesen. Nun kommen andere: unsere Kinder – oder solche, die unsere Kinder sein könnten –, und sie müssen sich neue Gesetze erfinden, ganz für sich allein – weil das Leben sonst langweilig und ohne Spannung wäre.«
Frau von Kammer dachte, etwas verbittert: ›Wie anspruchsvoll sie daherredet! Und was ist das für eine gewagte Behauptung: wir hätten die Moralgesetze überwunden? Es gibt doch wohl Unterschiede, auch innerhalb einer Generation . . .‹ – Sie sagte: »Ich verstehe nicht ganz, was du meinst. Leider muß ich fürchten, daß die Kreise, in denen meine Tilly verkehrt, es nicht sonderlich genau mit den moralischen Prinzipien nehmen – weniger genau jedenfalls, als manche von uns es taten, als wir jung waren.« – »Doch«, beharrte Tilly Tibori, »auf ihre neue Art sind sie sehr moralisch und verurteilen jeden, der etwas laxere Begriffe hat und sich mal ein bißchen gehen läßt. Es fehlt ihnen der Sinn fürs Frivole. Sie sind 133 alle politisch, lauter kleine Fanatiker – und das macht sie mindestens ebenso unerbittlich, wie wenn sie religiös wären. Wir haben wohl für all das nicht mehr das richtige Verständnis, meine liebe Marie-Luise . . .«
. . . Frau von Kammer, die den Umgang mit verdächtigen Emigranten immer noch mied, und von den feinen Leuten ihrerseits gemieden wurde, blieb recht allein. Aus Deutschland schrieb ihr fast niemand mehr, auch kam wenig Besuch. Ihre beste – oder vielmehr: ihre einzige Freundin in Zürich war eine alternde Schauspielerin, die sich von einem Kommerzienrat aushalten ließ . . . Trotz alledem war Marie-Luise nicht eigentlich unglücklich. Das Bewußtsein, daß sie sich Entwürdigungen entzogen hätte, denen ihre alten Bekannten in Berlin ausgesetzt waren, gab ihr den Halt.
Marion war zu Weihnachten ein paar Tage in Zürich gewesen. Sie sprach viel und eifrig von ihren Plänen; denn nun waren sie schon so weit gediehen, daß kein Aberglaube mehr daran hindern konnte, von ihnen zu reden. Es lief darauf hinaus, daß Marion als Rezitatorin Abende veranstalten und durch die Länder reisen wollte. Das Programm, das sie vorbereitete – Verse und Prosa von klassischen sowohl als auch von modernen Autoren –, war unter einem antifaschistischen Gesichtspunkt zusammengestellt. »Freilich sollen nicht alle Stücke, die ich sprechen will, einen direkt politischen Inhalt haben«, erklärte sie. »Aber irgendwie muß man sie in Beziehung bringen können zu unseren Kämpfen und Problemen. Ich habe schon die wunderbarsten, aufregendsten Dinge gefunden, bei Goethe oder Lessing, bei Heine, Hölderlin oder Nietzsche, oder bei den Neuen. Die deutsche Literatur ist ja so reich, jetzt erst merke ich, wie herrlich reich sie ist. Alles was uns auf den Nägeln brennt, ist eigentlich schon gesagt und ausgedrückt worden – mit welcher Macht, welcher Schönheit! – Wer zwingt mich übrigens, mich nur auf die deutsche Literatur zu beschränken?« fügte sie noch hinzu, fast übermütig vor lauter Unternehmungslust.
Tilly war gleich begeistert von Marions Plan. Die Mutter verhielt sich mißtrauisch. Ob man sich wirklich sein Brot verdienen kann durch Gedichte-Aufsagen? zweifelte sie. Marion lachte. »Wir werden ja sehen . . . Und übrigens riskiere ich nicht viel – nur alle die Arbeit, die ich mir jetzt mache. Wenn es kein Erfolg wird, versuche ich etwas anderes.«
So war Marion: immer aktiv, voller Einfälle und nicht ohne Munterkeit – wenngleich sie nun häufig recht angestrengte Züge zwischen den Brauen auf der Stirn zeigte. Sie reiste bald wieder ab, weil sie in Paris kolossal viel zu tun hatte, teils mit der Sorge um all ihre Freunde, teils mit der Vorbereitung ihres literarischen Programms. Die drei Zimmer in Rüschlikon wurden so still, wie sie es gewesen waren vor diesem turbulenten, angeregten Besuch. – Tilly war selten zu Hause. Frau von Kammer beschäftigte sich mit großen Handarbeiten, oder sie schüttelte den Kopf über der Lektüre der Zeitung; oft saß sie auch nur einfach da und grübelte, oder sie schrieb auf Zetteln lange Zahlenkolonnen untereinander, um sich auszurechnen, ob sie mit ihrem Monatsgeld auskommen 134 konnte. Es schien fast nicht möglich; aber es mußte sein. Wenn nur das Schulgeld für die kleine Susanne nicht so teuer gewesen wäre. Die schrieb weiter ihre korrekten, ziemlich inhaltslosen Briefe aus dem Internat. Auf ihre trockene Art teilte sie mit, daß sie über nichts zu klagen habe. Sie war ehrgeizig, besonders was den Sport betraf. Stolz berichtete sie von ihrem Sieg auf einem Tennis-Turnier, oder bei einer Schwimmkonkurrenz. Mit den anderen jungen Mädchen vertrug sie sich gut. Vor allem lag ihr daran, nicht aufzufallen; eine unter vielen, ein »Durchschnittsmädel« zu sein. Frau von Kammer mußte ihr nette Kleider und feine Wäsche schicken: das war nötig aus Prestigegründen. Es sollte dem Kind nicht zu Bewußtsein kommen, daß sie ärmer war als alle, mit denen sie in der Klasse saß. Um keinen Preis hätte Susanne es sich selber oder anderen zugegeben, daß sie in dem Zirkel von jungen Mädchen solide-wohlhabender Herkunft ein Ausnahmefall und ein »fremdartiges Element« bleiben mußte –: ihre Familie lebte unter gar zu anderen Umständen und Verhältnissen als die Angehörigen der übrigen Schülerinnen. Einmal hatte sie empört an die Mutter geschrieben: »Die Berta Baudessin aus Hannover ist sehr frech zu mir gewesen und hat gesagt: ›Ihr seid ja nur Emigranten.‹ Das ist doch eine Gemeinheit und auch gar nicht wahr. Du hast mir gesagt, es ist nur wegen Deiner Gesundheit, daß Du in der Schweiz leben mußt, statt in Berlin. So ist es doch, Mama?« – Solche Zeilen las Marie-Luise nicht ohne Sorge. »Das Kind gibt sich falschen Vorstellungen hin«, sprach sie kopfschüttelnd.
Tilly aber ärgerte sich. »Eine dumme Gans!« rief sie böse. Die Mutter meinte versöhnlich: »Aber sie ist doch noch so jung! Wie soll sie eine Ahnung haben von dem, was in Deutschland geschieht? Ihr kommt es doch nur darauf an, daß sie nicht aus dem Rahmen fällt und nicht anders ist als ihre kleinen Kolleginnen.« Darauf Tilly: »Das ist ja gerade das Schlimme – wenn man bedenkt, was für eingebildete, kapitalistische Fratzen diese ›kleinen Kolleginnen‹ sein müssen!«
Es war einfach unpassend – fand Tilly –, daß Susanne in einer so teuren Schule blieb. »Das ist etwas für die Kinder von reichen Leuten! Susanne sollte nicht vergessen, daß ihre Schwestern sich schon plagen müssen, um leben zu können!«
Sie übertrieb etwas; mit der Plage war es in ihrem Fall noch nicht arg. Sie hatte Stenographieren und das Bedienen einer Schreibmaschine perfekt gelernt, und durch die Vermittlung von Freunden hatte sie auch eine Art von Stellung gefunden. Jeden Tag war sie von morgens neun Uhr bis zum Mittagessen bei einem alten Herrn, der eine stattliche Villa am See bewohnte. Herr Ottinger beschäftigte sich mit der Abfassung seiner Memoiren, die er unter dem Titel »Lebensbeichte eines Eidgenossen« zu veröffentlichen dachte. Dieses gewichtige Manuskript war es, aus dem er Tilly diktierte. Er erlaubte sich einen kleinen Verstoß gegen das Gesetz seines Landes, indem er die Fremde arbeiten ließ. Sicherlich war es die erste illegale Tat in seinem langen, korrekten Leben. Herr Ottinger 135 erwies sich als ein freundlicher und liberal gesinnter Mann, mit weißem Vollbart und kurzsichtigen, guten blauen Augen hinter den Brillengläsern. Sein Reichtum galt für solide; bedeutende Teile seiner Revenuen verwendete er für wohltätige Zwecke. Mancher in Stadt und Land und wohl auch auswärts hatte Anlaß, dem Ehepaar Ottinger herzlich dankbar zu sein; denn auch Madame war sehr gut. Sie hatte eine Menge seltsamer grauer Löckchen auf dem Kopf und ein Gesicht voll von Fältchen. Die Greuel, von denen man jetzt aus dem großen Nachbarland wie auch aus anderen Weltgegenden berichtete, erschienen diesen zwei braven Menschen ebenso unverständlich wie häßlich. »Ich bin ein alter Demokrat«, erklärte Herr Ottinger und strich sich selbstbewußt den schön gewellten Bart. »Nie werde ich verstehen, daß ein Volk sich so viel bieten läßt wie das deutsche.« Für die Emigranten hatte er Sympathie. Sogar wenn sie in ihrer Opposition etwas maßlos wurden und sich zu kommunistischen Ideen bekannten – die Herr Ottinger mißbilligte –, blieb er nachsichtig. »Man hat den armen Leuten sehr viel zugemutet«, pflegte er zu sagen. »Durch Haß und Leiden sind sie vielleicht etwas konfus geworden.« Und er schrieb noch einen stattlichen Scheck aus.
Einmal in der Woche gab es bei Ottingers »Jour« mit Musik. Madame spielte Klavier und komponierte selbst kleine Piècen. Tilly führte auch ihre Mutter ein. Frau von Kammer erschien im besten Kostüm, mit weißen Glacéhandschuhen zu den Empfängen; manchmal wurde sie auch zu einer Bridgepartie gebeten. Hier durfte sie die Erfahrung machen, daß längst nicht alle Mitglieder der »besseren Kreise« jene Gesinnung teilten, durch die sie aus dem Salon der Krügis vertrieben worden war. –
Auf einem der »Jours« lernte Tilly den jungen Peter Hürlimann kennen. Er galt als ein besonders begabter Schüler des Züricher Konservatoriums und durfte mit Frau Ottinger musizieren. Hürlimann sah nett aus, wenngleich etwas plump; ein vierschrötiger Bursche mit langem, struppig schwarzem Haar und einer Brille im runden, gutmütigen, intelligenten Gesicht. Am ersten Abend, als er Tilly traf, traute er sich kaum, mit ihr zu reden. Er schaute sie an. Als sich dann herausstellte, daß sie den letzten Zug nach Rüschlikon versäumt hatte, erbot er sich, sie nach Hause zu bringen. »Es ist ein schöner Spaziergang«, sagte er ernst. Unterwegs sprach er nicht viel. Dann sahen sie sich beinah jeden Tag.
Tilly war während des letzten Jahres viel hübscher geworden. Es schien, als hätte die lange Traurigkeit sie verschönt. Ihr helles, weiches Gesicht wurde ernst gerahmt vom glatten, rötlichen Scheitel. Die schräg gestellten, langen, schwermütig zärtlichen Augen führten eine sanfte, eindringliche Sprache. Besonders gefiel den Männern ihr üppiger Mund, von dem Konni immer gesagt hatte, daß er so »schlampig« wirke.
Sie hatte viele Verehrer, sowohl unter den Emigranten, die sich vorübergehend oder dauernd in Zürich aufhielten, als auch unter den jungen Schweizern, die sie hier und dort traf. Ihre etwas rundlichen, etwas trägen Glieder waren anziehend, und ihr feuchter Blick verlockte. Die 136 meisten Männer waren wild nach ihr. Von den Emigranten hatten viele lange keine Frau gehabt. Sie waren gierig nach Liebe. Tilly wirkte wie eine, die nicht schwer zu erobern ist. Alle wollten gleich mit ihr ins Bett. Aber sie mochte das nicht. Sie dachte immer noch an ihren Konni, und sie rechnete heimlich damit, ihn bald wieder zu sehen. Nur einem hätte sie vielleicht nachgegeben: das war Konnis Kamerad in Prag, H. S., mit dem sie weiter korrespondierte. Den kannte sie nicht einmal; aber sie erwartete sich viel von ihm. Wenn das Schlimmste wahr werden und ihr Konni wirklich nicht mehr in Erscheinung treten sollte –: H. S. würde eines Tages da sein . . .
Den Peter Hürlimann mochte sie gern. Seine Liebe war anspruchslos und zuverlässig. Ein paarmal hatte er sie geküßt, aber niemals war er auf Weiteres ausgewesen. ›Wahrscheinlich hat er Hemmungen‹, beschloß Tilly, aber sie war ihm doch dankbar für seine brave Zurückhaltung. – Peter sprach verständig und langsam; was er sagte, hatte Hand und Fuß, ob es sich um die Musik von Johann Sebastian Bach oder um die Schweizer Innenpolitik handelte. An Tillys großen und kleinen Sorgen nahm er ehrlichen, bieder-ernsthaften Anteil. Er bemühte sich, ihr das Leben etwas leichter und angenehmer zu machen. Später einmal wollte er sie heiraten: dazu hatte er sich wohl schon seit längerem in aller Stille entschlossen. Tilly wußte es; sprach aber nicht gerne davon. Er erklärte ihr, als wäre im übrigen alles zwischen ihnen abgemacht: »Natürlich kannst du erst meine Frau sein, wenn ich anständig Geld verdiene. Das kommt aber bald. Ich werde eine Stellung als erster Geiger in einem Orchester kriegen. Und dem Herrn Kapellmeister hier vom Stadttheater hat meine neue Komposition recht gut gefallen.« – »Wir müssen abwarten . . .« Tilly sagte es zärtlich, aber etwas beunruhigt durch die Selbstverständlichkeit, mit der er ihre Verbindung erwähnte. »Man weiß ja heute nie, was geschieht – und es kommt einem so sinnlos vor, Pläne zu machen . . .«
Sie gingen zusammen ins Theater oder in Konzerte – Kino mochte Hürlimann nicht –; am Sonntag machten sie Wanderungen. Manchmal aßen sie auf dem Lande bei Peters Eltern, die eine bescheidene Gastwirtschaft nicht weit von Zürich hatten. Es waren einfache Leute, und viel Geld hatten sie nicht. Aber es langte bei Hürlimanns doch dazu, der Freundin ihres Sohnes einen Braten und einen offenen Landwein vorzusetzen. Im Garten, unter dem Kastanienbaum, oder in der alten Wirtsstube schmeckte es sehr viel besser als in den kleinen vegetarischen Restaurants, wo die zwei sonst meistens miteinander speisten.
Obwohl Tilly so viel an ihren Konni denken mußte und immer darunter litt, daß in Deutschland jetzt alles so schrecklich war, fand sie ihr Leben in Zürich, mit Ottingers, Peter Hürlimann und der starren Mama, nicht so übel und war, alles in allem, nicht unzufrieden. Es gab aber eine Sorge, aus der die ärgste Kalamität werden konnte: ihr deutscher Paß war bald abgelaufen. Sie hatte sich überwunden und war zum Konsulat des Dritten Reiches gegangen. Um nur einen neuen Paß zu bekommen, 137 hatte sie sogar das Hitlerbild an der Wand gegrüßt, so peinlich es ihr auch war. Der Beamte war ihr höflich, aber mit einer gewissen Reserviertheit begegnet. Er versprach, wegen der Verlängerung ihres Passes »bei der zuständigen Berliner Stelle rückzufragen«.
Die »zuständige Berliner Stelle« verweigerte die Erlaubnis. Tilly von Kammer sollte keinen deutschen Paß mehr haben. Der Beamte, der ihr dies mitteilen mußte, schien selber ein wenig verwundert über den Bescheid. »Es ist also nichts zu machen«, sagte er, als könnte er es nicht ganz begreifen.
Nachdem die Stenotypistin den Raum verlassen hatte und er mit der Besucherin alleine war, wurde er zutraulicher. »Es scheinen in Berlin Anzeigen gegen Sie vorzuliegen. Was haben Sie denn angestellt, kleines Fräulein?« Er leckte sich die Lippen, lüstern, als ginge es darum, ein pikantes Histörchen zu erfahren. »Naja, es wird ja jetzt viel denunziert,« gab er zu, »und nicht alles muß stimmen.« Dann meinte er noch, sinnend, und mehr als spräche er zu sich selbst: »Vielleicht hängt es auch mit ihrem Fräulein Schwester zusammen. Die soll ja in Paris neulich einen sehr anstößigen Vortragsabend gegeben haben.« Seine Stimme klang fast ehrerbietig. »Jedenfalls – nichts zu machen . . .« Er zuckte, bedauernd-abschließend, die Achseln.
Der Paß wurde also nicht verlängert; und in ein paar Wochen würde er nicht mehr gelten. Die kleine Tilly mit den hübschen schrägen Augen und dem schlampigen Mund sollte keine Deutsche mehr sein. Sie wußte nicht genau, wie sie zu dieser Schande kam – oder zu dieser Ehre. Wichtiger, als hierüber nachzugrübeln, war nun, sich zu überlegen, was geschehen sollte. Denn ohne Paß kann man nicht existieren: so viel hatte die junge Emigrantin schon begriffen. Ein Paß ist etwas durchaus Lebenswichtiges; unter normalen Umständen weiß man es kaum, aber plötzlich stellt es sich, schrecklich und überraschend, heraus.
Ehe er endgültig abgelaufen war, mußte etwas geschehen. »Ich weiß wirklich keinen Rat für dich, liebes Kind,« sagte nervös Frau von Kammer. »Wahrhaftig, ich bin niemals in einer solchen Situation gewesen . . . Übrigens gilt mein eigener Paß auch nur noch drei Jahre lang«, fügte sie hastig und gleichsam schuldbewußt hinzu.
Die Bekannten im Café rieten zu einer Scheinehe. »Für ein weibliches Wesen ist es ja gar nicht so schlimm«, sagten die Männer neidisch. »Ihr könnt heiraten. – Sei nicht traurig, Tilly! Du heiratest einen netten Schweizer und wirst Eidgenossin.«
Tilly dachte an Peter; aber gerade er hätte für einen so zynischen Vorschlag kaum Verständnis gehabt. Heiraten, um einen Paß zu bekommen! – Er wäre entsetzt gewesen. Wenn sie ihn nahm, mußte sie mit Leib und Seele die Seine werden. Andererseits würde er sich bitter darüber kränken, wenn sie mit einem anderen zum Standesamt ging, und sei es auch nur aus den bekannten, unerfreulichen Gründen. Am besten, sie verheimlichte dem Hürlimann die ganze Sache. Mit dem »Ehegatten«, von 138 dem sie einen Paß wollte anstatt ein Kind, würde sie persönlich ja wohl kaum viel zu tun haben müssen. Übrigens konnte man sich bald wieder scheiden lassen. – Sie schwieg Hürlimann gegenüber und bat die Freunde aus dem Café, auf Gattensuche für sie zu gehen.
Es war nicht so einfach. Bei jedem der jungen Leute, mit denen die Bekannten sich in Verbindung setzten, gab es einen anderen Hinderungsgrund. Der eine hatte schon eine Braut, der andere eine Familie, die ihm einen so verwerflichen Akt wie die Scheinehe nie verzeihen würde; der dritte wollte viel Geld, der vierte war aus religiösen Gründen gegen das Ganze; der fünfte erklärte, daß er eine so schwerwiegende Gefälligkeit nur einer kommunistischen Gesinnungsgenossin erweisen könne, der sechste sparte sich und seinen Paß für eine jüdische Glaubensgenossin auf; der siebente, der achte und der neunte wollten gleichfalls ziemlich viel Geld.
Schließlich empfahl man Tilly eine Rechtsanwältin, die sich auf dergleichen Dinge verstehen sollte. Sie verdiene ihren Unterhalt mit Arrangements solcher Art, deuteten die Caféhaus-Bekannten an –; sei aber auch eine Idealistin, die um der guten, antifaschistischen Sache willen, emsig, preiswert und gewandt, Paß-Ehen stifte.
Frau Doktor Albertine Schröder wohnte in einer kleinen Pension, nahe dem Bahnhofplatz. Tilly war überrascht, daß die Anwältin sie, nachmittags um drei Uhr, im Bett empfing. Über einem Nachthemd, das nicht ganz sauber schien, trug sie eine Art von Frisierjacke, hellblau, mit Spitzen garniert. Sie war eine ältere Frau; Tilly taxierte: zwischen fünfzig und sechzig. Um ein aufgeschwemmtes, fahles Gesicht hingen die grauen Strähnen ihrer aufgelösten Frisur. Ihre Augen waren stahlblau und hatten einen erschreckend harten, übrigens lustigen Blick –: ›Augen wie aus Eis‹, dachte Tilly entsetzt.
Frau Doktor mußte die erschreckte Miene ihrer jungen Besucherin bemerkt haben. Sie redete, im Bett halb aufgerichtet, mit einer blechernen, künstlich lebhaften Stimme. »Na Kleine, Sie wundern sich wohl ein bißchen, daß ich am hellichten Tage in den Federn rumliege –: kann ich verstehen, kann ich durchaus begreifen, daß Sie sich etwas wundern. Sollten es aber 'ner alten Frau nicht übelnehmen, daß sie sich mal ein bißchen Ruhe gönnt. Habe es mir wohl verdient – oder finden Sie nicht, kleines Ding?« Dazu lachte sie, und wies, noch kichernd, auf einen Stuhl, der neben dem Bett stand. Tilly nickte, bleich und bestürzt. Während sie sich auf dem Stuhl niederließ – es war eine schmale, harte, unbequeme Sitzgelegenheit – plapperte die Alte mit ihrer Blechstimme weiter. »Mein Gottchen, nein, wenn ich denke – ich habe ja wahrhaftig genug hinter mir! In Deutschland haben sie mir tüchtig zugesetzt, haben mich olle Person tüchtig verdroschen, die Jungens von der SA.« Dazu lachte sie lüstern. »Die Nieren tun mir noch weh«, konstatierte sie gutgelaunt.
Tilly fragte bestürzt: »Aber wieso denn, Frau Doktor? Warum sind Sie denn mißhandelt worden?« 139
Die muntere Rechtsgelehrte im Bett schlug die Hände über dem Kopf zusammen und amüsierte sich so herzlich, als hätte Tilly einen guten Witz gemacht. »Aber Kindchen!« brachte sie schließlich hervor. »Sie stellen mal ulkige Fragen! – Warum die olle Schröder von der SA vermöbelt worden ist? Na, da gab es doch reichlich Gründe . . .«
Das Telephon klingelte; Tilly bemerkte erst jetzt, daß der Apparat im Bett, neben dem Kopfkissen, stand. Die Anwältin unterbrach sich sofort in ihrer grausig-aufgeräumten Rede und nahm den Hörer ab. »Hier Dr. Schröder.« Sie sprach jetzt mit einer veränderten, leisen und drohenden Stimme. Ihr Gesicht war starr und furchtbar ernst geworden. Während sie lauschte, kniff sie die blauen Eis-Augen ein wenig zusammen. Der Teilnehmer am anderen Ende des Drahtes sprach lange und klagend; schließlich unterbrach Frau Doktor barsch den Redefluß. »Schluß! Ich will nichts mehr hören. Sie schwätzen Unsinn und wissen das selber recht wohl. – Nein, natürlich kann ich mich auf Ihre Vorschläge nicht einlassen: sie sind absurd. Ich bin selbst eine arme Frau. Sie werden noch von mir hören, und bald – worauf Sie sich verlassen können. Adieu.« Sie hängte ein und starrte, ein paar Sekunden lang, aus den bösartig zusammengekniffenen Augen vor sich hin. Dann wandte sie sich, wieder munter, an Tilly.
»Also, kleine Dame –: warum die olle Schröder Haue bekommen hat, wollen Sie wissen? Na, ich war doch eine bekannte Nummer in Berliner Linkskreisen; habe doch die ganzen roten Jungens juristisch vertreten, und geschickt vertreten, darf man wohl flüstern. Die Nazis hatten was gegen mich, und das war ihnen schließlich nicht zu verdenken. Als dann der Reichstagsbrand kam . . .«
Tilly überlegte: ›Sonderbar, daß ich ihren Namen in Berlin nie gehört habe. Wahrscheinlich ist alles nicht wahr. Mein Gott, die Person spricht ja kein wahres Wort . . .‹
»Wenn ich nicht durch Geburt Schweizerin wäre«, fuhr die Alte fort, »dann säße ich wohl immer noch in dem famosen Columbia-Haus, oder vielmehr: wahrscheinlich gäbe es die olle Schröder nicht mehr; die Jungens hätten mich hingemacht. Auf dem besten Wege dazu waren sie – kann ich Ihnen garantieren. Soll ich Ihnen mal meine Narben zeigen? Aber so 'nen unschönen Anblick will ich Ihnen gar nicht zumuten, Sie sehen zart aus. – Erst haben sie mir die Kleider vom Leibe gerissen, alle Kleider –; dann sind sie mit Gummiknüppeln über mich her und mit so 'ne langen Nilpferdpeitschen . . .«
Tilly, die den lügnerisch-lüsternen Bericht nicht länger ertragen konnte, bemerkte, ein wenig zitternd: »Leider bin ich ziemlich pressiert. Vielleicht haben Sie nichts dagegen, daß wir bald zu meiner Sache kommen.« – Frau Doktor kniff drohend die Augen zusammen. »Gut. Ganz wie Sie wünschen, mein Fräulein. Durchaus wie's beliebt.«
»Mein deutscher Paß ist abgelaufen«, erklärte Tilly, »und wird nicht verlängert.« 140
»Sie wollen also heiraten?« erkundigte sich die Juristin lauernd. »So 'ne kleine Paßehe – wie?«
Tilly, sehr leise: »Ich dachte, Sie könnten mir dabei behilflich sein.« Daraufhin die Rechtsgelehrte, munterer denn je: »Läßt sich machen, Kindchen, läßt sich durchaus machen. Sie sollen ja eine tapfere kleine Person sein, versichern mir Ihre Freunde. Tapferen kleinen Personen helfe ich immer gern . . . Außerdem sind Sie ein appetitliches Mädel, ein reizendes Geschöpf, muß man zugeben!« Sie zwinkerte der Besucherin unzüchtig zu. »Ist für keinen Kerl ein Opfer, Sie zu heiraten, kleines Fräulein . . .« Dazu das blecherne Lachen.
»Ich will aber gar nicht wirklich heiraten«, wandte Tilly ein.
Die Rechtsberaterin schien wieder herzlich belustigt. »Weiß ich doch, weiß ich doch!« Sie machte eine munter abwinkende Bewegung. »Bin doch nicht doof!« versicherte sie. »Habe doch Köpfchen!« Dabei tippte sie sich schalkhaft mit dem Zeigefinger auf die Stirn. »Na, man wird ja da sehn . . . Ungefährlich ist die Sache für mich keinesfalls.« Nun wurde sie wieder ernst und bekam die schmalen, unheilverkündenden Augen. »Aber für eine Gesinnungsgenossin, eine tapfere kleine Antifaschistin riskiere ich was«, sprach sie bieder.
Dann erklärte sie, daß sie gerade zufällig einen sehr sympathischen jungen Schweizer »auf Lager« habe: »aus guter jüdischer Familie; kommt sehr in Frage; werde ihn gleich mal anläuten.« Sie zog den Telephon-Apparat an sich heran – mit einer merkwürdig zärtlichen Gebärde, so wie eine Mutter ihr Kind an sich zieht – und wählte die Nummer. – »Kann ich den jungen Herrn Nathan sprechen? – Ach, er ist nicht zu Hause?« Sie schien sehr enttäuscht. »Er soll doch bitte die Frau Doktor Schröder anrufen, sowie er zurückkommt. Etwas Wichtiges! – – Na, wir werden das Kind schon schaukeln!« verhieß sie, nachdem sie eingehängt und den Apparat wieder von sich geschoben hatte. »Der kleine Nathan ist gar nicht übel. Politisch tadellos; hübscher Bursch, brauchen sich mit ihm auf dem Standesamt nicht zu schämen. Kolossal anständiger Kerl; wird Ihnen keine erpresserischen Geschichten machen.«
Tilly stand auf. »Sie werden sicher so liebenswürdig sein, mir gleich Nachricht zu geben, wenn Sie von dem Herrn gehört haben.«
»Ganz recht, Kindchen.« Die Anwältin bekam fürchterlich schmale Augen. »Aber erst müssen wir noch den geschäftlichen Teil der Sache erledigen, damit es keine Mißverständnisse gibt. Mit dem jungen Nathan werden Sie sich leicht einigen, er dürfte nicht anspruchsvoll sein. Was mich betrifft . . .« – sie saß aufgerichtet im Bett und hielt sich die hellblaue Frisierjacke mit einer nervösen Bewegung über dem Busen zusammen –, »so gewähre ich Ihnen meine Hilfe aus Idealismus, aus selbstlosem Interesse an Ihrem Fall. Wenn ich aufs Geld aus wäre, gäbe es ja einträglichere und weniger gefährliche Dinge für mich zu tun. – Immerhin: ich lebe nicht von der Luft.« Dies stellte sie mit einer gewissen Erbitterung fest, und sie fügte hinzu: »Was ich mir in Deutschland erspart 141 habe, ist mir alles gestohlen worden. – Nun, liebes Kind, ich darf wohl annehmen, daß Sie mit Glücksgütern auch nicht gerade gesegnet sind. Ich schlage daher vor, als ein bescheidenes Honorar für meine Bemühungen: achthundert Schweizerfranken. Vierhundert Franken sind sofort anzuzahlen, ehe ich irgend etwas weiteres unternehme; die restlichen vierhundert sind auf einer Züricher Bank für mich zu deponieren.«
Tilly wurde sehr blaß. »Achthundert Franken«, sagte sie. »Aber ich habe kein Geld . . .«
Die Alte, mit unheimlich gedämpfter Stimme: »Machen Sie keine Witze! Zu einer berühmten Anwältin gehen, stundenlang ihre Dienste beanspruchen – und dann erklären: ich habe kein Geld! So unverschämt kann doch wohl niemand sein!«
Tilly brachte hervor: »Ich hatte natürlich damit gerechnet . . ., Ihnen eine Kleinigkeit zu bezahlen, wenn die Sache erledigt ist . . .«
Die Doktorin höhnte wütend: »Eine Kleinigkeit! Wenn die Sache erledigt ist! Das könnte Ihnen so passen, Sie dummes Ding!«
Tilly, sehr blaß, aber plötzlich etwas höher aufgerichtet, erklärte – fast zu ihrer eigenen Überraschung: »Nun ist es aber genug.«
Die Schröder war so erstaunt, daß sie ein paar Sekunden lang keine Worte fand. Schließlich lachte sie bitter. »Das hab ich gern! Auch noch frech werden – wie?! Auch noch eine alte Frau, eine verdiente Sozialistin beleidigen!« Würdevoll im Bett sitzend, wiederholte sie grausam und majestätisch ihre Forderung! »Vierhundert Franken auf den Tisch des Hauses, vierhundert auf der Bank hinterlegt – oder der Fall ist für mich erledigt.«
»Der Fall ist für mich erledigt«, sagte Tilly, schon in der Nähe der Tür. Frau Doktor rief, atemlos vor Wut: »He! Nicht so schnell! Ich habe eine Stunde meiner kostbaren Zeit für Sie vertan! Ich verlange dreißig Franken Entschädigung – dann will ich Sie nie wieder sehen!« – Daraufhin Tilly, mehr noch fassungslos erstaunt als zornig: »Sie sind ja die gemeinste Person, die mir in meinem Leben begegnet ist.«
Albertine Schröder griff sich an den Busen, als könnte ihr Herz Attacken von solcher Infamie und Wucht nicht aushalten. Es gelang ihr aber doch, hervorzubringen: »Das büßen Sie mir! Sie sind die längste Zeit in der Schweiz gewesen! Ich lasse Sie ausweisen – das kann ich, als Schweizerin von Geburt! Ich zeige Sie bei der Fremdenpolizei an und erzähle, was Sie im Schilde führen, von wegen Paß-Heirat und so!«
»Sie wären dazu imstande«, sagte Tilly, die Türklinke in der Hand. »Es würde Ihnen aber nicht gut bekommen.«
»Nicht gut bekommen würde es mir?!« Frau Doktor schüttelte mit rasenden Gebärden die Federbetten von sich und hüpfte, überraschend gewandt, aus dem Bett. »Sie haben mich beleidigt! In meiner eigenen Wohnung! Das sind Verbalinjurien, was Sie da vorgebracht haben!« Bei dem Wort »Verbalinjurien« stampfte sie mit ihren beiden nackten Füßen auf den Teppich. »Sie werden es bereuen, Sie kleine Hochstaplerin!« 142
»Was Verbalinjurien betrifft«, sagte Tilly, die sich über die eigene Gefaßtheit wunderte, »so dürften wir uns gegenseitig nichts schuldig geblieben sein.«
»Schweigen Sie!!« fauchte die Alte; in ihrem langen, grauweißen Nachthemd machte sie drohende Schritte auf Tilly zu. »Ich habe mich in Deutschland für meine Überzeugung halb totschlagen lassen! Ihnen wollte ich aus Güte bei Ihren schmutzigen Angelegenheiten behilflich sein – und das ist der Dank!« Sie schien noch nicht ganz entschlossen, ob sie in der nächsten Minute weinen oder mit den Fäusten über ihre Besucherin herfallen wollte.
Tilly sagte: »Pfui!« Dann schmiß sie die Türe hinter sich zu.
Die Erfahrung mit Frau Dr. Schröder war niederschmetternd. Die Bekannten aus dem Café schienen wenig erstaunt, als Tilly von ihr berichtete. »Jaja, eine unangenehme Person«, sagten sie nur.«Das meiste was sie erzählt, ist wohl Schwindel.« Manche wollten auch wissen, daß sie keineswegs von Geburt Schweizerin war, sondern sich ihrerseits diese Staatszugehörigkeit durch eine suspekte Heirat erworben hatte. Tilly wunderte sich, daß von all dem nicht die Rede gewesen war, als man ihr die Anwältin so herzlich empfahl.
Aber was sollte werden? Das deutsche Papier – dieses häßlich braun gebundene, abgegriffene Heftchen – würde bald ungültig sein.
Ein besonders schlauer Bekannter aus dem Café wußte Rat. Er hatte eine Freundin in Budapest –: »eine abscheuliche alte Kupplerin«, wie er versicherte, »aber zuverlässig und schlau; im Grunde ein braver Kerl. Die wird schon einen Mann für dich haben . . .«
Man schrieb der Dame; die Antwort aus Ungarn kam postwendend: Natürlich, das Fräulein solle nur kommen, ein Gatte sei leicht zu finden, der ganze Spaß solle etwa dreihundert Schweizerfranken kosten. Tilly reiste sofort nach Budapest. Zeit war nicht zu verlieren, sonst galt der Paß nicht mehr.
Alles ging geschwind wie im Traum, und nur in Träumen sieht man Gesichter, wie die Kupplerin eines hatte. Sie hieß Beatrix Flock, und ihr Haar war gräßlich rot gefärbt. Das Gesicht schien in Verwesung begriffen, zeigte aber den muntersten Ausdruck. Weniger fröhlich war der Kavalier, den Tilly heiraten sollte: ein Major außer Dienst, er nannte Tilly »meine Gnädigste«, und küßte ihr während einer Viertelstunde zehnmal die Hand. Sie entschuldigte sich bei ihm, weil sie seinen Namen nicht aussprechen konnte; es war ein ungarischer Name, überreich an Konsonanten und von erstaunlicher Kompliziertheit. »Es wird Ihr Name sein, Gnädigste«, näselte der Major außer Dienst. Er trug weiße Glacéhandschuhe; sein eisgraues Schnurrbärtchen war an den Enden steif aufgezwirbelt. Die Kupplerin kicherte animiert. Tilly fragte: »Wann werde ich den Paß bekommen können?« Die Kupplerin versprach: »Übermorgen. Ich habe famose Verbindungen.« Tilly hatte sich Geld von Ottingers 143 geliehen. Die Zeremonie auf dem Standesamt war rührend. Madame Beatrix Flock und ein Stubenmädchen aus dem Hotel figurierten als Trauzeugen. Der Major sagte nach der Vermählung: »Küß die Hand, Gnädigste! Wir werden glücklich miteinander sein.« Beatrix erklärte: »Übermorgen haben Sie den Paß. Inzwischen können Sie sich Budapest ansehen. Wir haben Dinner im Hotel Hungaria, nachher fahren wir auf die Margareten-Insel und besuchen das Nachtlokal, das der Prince of Wales bevorzugt hat.«
All das mußte Tilly noch bezahlen. Übrigens lohnte sich die Ausgabe. Auf der Margareten-Insel war es reizend, und das Nachtlokal – mit versenkbarem Tanz-Parkett – hatte sicher in Paris nicht seinesgleichen.
Tilly – die Gattin des Majors mit dem unaussprechlichen Namen – bewunderte Budapest. Die Stadt zeigte verführerische und tragische Züge. Sie war glanzvoll – und schäbig; elegant – und heruntergekommen; übermütig – und elend; mondän – und trostlos; liebenswürdig – und jammervoll.
Am übernächsten Tag lieferte Madame Flock – macabre anzusehen und schon halb verwest, aber überraschend zuverlässig – den Paß ab. Tilly konnte reisen. Beatrix und der Major mit dem unaussprechbaren Namen begleiteten sie zum Bahnhof. Die Flock gab ihr einen Kuß auf die Stirn und flüsterte: »Au revoir, mon enfant!« Sie war in Bukarest geboren und hatte lange in Paris gelebt. Beim Abschied bekam sie feuchte Augen. Tilly hatte große Sympathie für sie. Die Alte mußte vor Gerührtheit fast schluchzen, weil Tilly ihr gesagt hatte: »Ihr Hut ist wundervoll, Madame!« Der Major küßte seiner jungen Gattin zum allerletztenmal die Hand und sprach: »Grüß Sie Gott, Gnädigste, ist mir wirklich ein Vergnügen gewesen.«
In Zürich gratulierten ihr alle Bekannten. »Du bist fein heraus! Ein guter ungarischer Paß ist mehr wert als ein Haufen Geld.« In einem Atelier wurde ein Fest gegeben, um Tillys Hochzeit zu feiern. Übrigens nannte sie sich im Privatleben weiter Tilly von Kammer. Aber in ihrem Paß stand nun das exotische Wort mit den vielen Konsonanten.
Sie fand, daß es auf die Dauer nicht anginge, ihrem Freunde Peter Hürlimann das Vorkommnis zu verheimlichen. Er könnte es durch Dritte erfahren; dann würde es noch kränkender für ihn sein. Sie erzählte ihm alles; er nahm es mit Fassung auf. »Ich begreife, daß es sein mußte«, meinte er gutmütig. »Und du kannst dich ja scheiden lassen und mich heiraten, wenn ich genug Geld habe, um dich zu erhalten. Vorher hätte ich dich doch nicht genommen. Nur des Passes wegen – nein, das wäre für mich nichts gewesen!« Aus seiner Antwort sprachen sowohl Selbstbewußtsein als auch zärtliches Verständnis für ihre Situation. – »Aber ob sich dieser Major nicht in dich verliebt hat?« Dies war das einzige, was ihn beunruhigte. Indessen kamen aus Budapest keine Nachrichten. Der Kavalier schien seine junge Gattin geschwind und gründlich vergessen zu haben. 144
Marions erster Pariser Abend fand in einem Saal auf dem linken Ufer statt. Meistens wurden hier Avantgarde-Filme vorgeführt; zuweilen aber vermietete der Besitzer sein Etablissement für literarische und musikalische Darbietungen.
Der Abend war nur in den Blättern der deutschen Emigration annonciert worden. Marcel und einige andere Freunde hatten indessen dafür gesorgt, daß es auch Franzosen, die ein wenig deutsch verstanden, im Publikum gab. Madame Rubinstein hatte Russen mitgebracht. Eine stattliche Zuhörerschaft – wie die Schwalbe befriedigt feststellte – und sehr bunt zusammengesetzt. Man hörte auch englisch und italienisch sprechen. Marion, die kaum anderthalb Jahre in Paris lebte, schien doch schon ein Renommée zu haben, das man beinah Ruhm nennen konnte. Sie verdankte es noch nicht ihren Leistungen, sondern ihrer Persönlichkeit. Die Leistung sollte erst jetzt kommen. Alle waren neugierig.
In der Mitte des Raums hielt die Schwalbe Cercle. Viele sammelten sich um ihre sowohl ehrwürdige als auch flotte Figur. Sie schüttelte hundert Hände und lachte jeden aus den blauen Kapitänsaugen an. – Meisje und Doktor Mathes, ein glückliches Paar, saßen still nebeneinander und schienen beinah vollkommen zufrieden. Theo Hummler war gefolgt von mehreren Burschen, deren Gesichter den Ausdruck entschlossenen Ernstes zeigten. Es waren wieder einmal solche, die gerade erst aus Deutschland eintrafen und viel Schreckliches zu erzählen wußten. Dieses Mal waren ihre Nachrichten besonders sensationell. Sie bestätigten den emigrierten Freunden, was auch diese ihrerseits schon gehört hatten: daß zwischen den höchsten Spitzen des Regimes – zwischen dem Führer selbst und einigen seiner alten Freunde – bedenklicher Unfriede herrschte. Einer der Mächtigsten hatte eine Rede gehalten, die als Sturmzeichen gelten durfte. Die jungen Leute meinten: »Man muß auf allerhand gefaßt sein. Die alten Nationalsozialisten fangen an, dahinterzukommen, daß man sie beschwindelt hat. Schließlich bestehen sie noch auf dem Parteiprogramm und möchten den Sozialismus haben. Dagegen muß von höchster Stelle was unternommen werden . . . Andererseits machen die Konservativen Opposition. Es kann ein nettes Durcheinander geben!« –
Ein Gefolge hatte auch Dora Proskauer; es bestand aus jüdischen Damen und Mädchen, die zugleich animiert und ängstlich um sich blickten: einerseits angeregt von der Freude auf den literarischen Genuß, der bevorstand; andererseits gequält vom Gefühl, es könnten auch hier plötzlich Verfolgungen gegen sie einsetzen. – David Deutsch trippelte aufgeregt hin und her, als wäre er selbst es, der sich gleich würde produzieren müssen. Er begrüßte Martin und Kikjou, die in dunklen Anzügen bleich und fromm wie zwei Konfirmanden wirkten. – Neben Marcel saß ein großer Neger, mit dem er eigentlich nur verkehrte, um Madame Poiret zu schokieren. – Ilse Ill wand sich vor Eifersucht wegen des gut besuchten Parketts. Siegfried Bernheim plauderte leutselig. Professor Samuel – weise und sensuell – umarmte junge Damen und junge Herren, 145 während er mit alten, klugen Augen ihre Mienen studierte, als wollte er sie gleich porträtieren. Germaine Rubinstein mied den Kreis ihrer Mutter, von dem eine gewisse Düsterkeit ausging, und setzte sich in die Nähe der Schwalbe. Monsieur Rubinstein unterhielt sich mit dem ungarischen Grafen, der sinnend um sich blickte, als dächte er über die Probleme einer Schachpartie nach oder über die Umstände, die ihm die Rückkehr in die Heimat seit so vielen Jahren unmöglich machten. – Bobby Sedelmayer hielt sich etwas im Hintergrund; er hatte seine Rix-Rax-Bar gerade vorige Woche schließen müssen, was eine erhebliche Enttäuschung für ihn bedeutete. Indessen dachte er gar nicht daran, schon den Mut zu verlieren. Vielmehr versicherte er dem jungen Kündinger, der bei ihm stand: »Europa wird überhaupt zu eng! Ich habe es gründlich satt. Von meinen neuen Plänen darf eigentlich niemand was wissen. Aber Ihnen verrate ich es: ich will nach China . . . Na, was sagen Sie dazu?« Der unverwüstliche Weißhaarige strahlte wie ein Knabe, den der Gedanke an unerhörte Abenteuer erregt. »Nach Shanghai«, flüsterte er, Glanz in den Augen und die rosige Miene freudig bewegt. »Der ferne Osten ist ein alter Traum von mir. Dort werde ich bestimmt mein Glück machen . . .«
Zu ihnen gesellten sich Nathan-Morelli und die Sirowitsch, die längst zueinander gehörten. Der Sirowitsch wegen – an die er sich bis zu dem Grade gewöhnt hatte, daß man beinah von Liebe sprechen durfte – hatte Nathan-Morelli seine Londoner Wohnung aufgegeben und war ganz nach Paris übergesiedelt. »Marions Programm verspricht interessant zu werden«, sagte er zu Bobby und blickte klug aus den schräggestellten Mongolen-Augen.
Das Programm stand unter dem Motto »Zeitgemäße Klassik«. Angekündigt waren Stücke von Schiller, Lessing, Goethe, Heine, Victor Hugo, Gottfried Keller, Nietzsche und Walt Whitman.
Als Marion das Podium betrat, wurde es still im Saal. Die Schwalbenmutter flüsterte noch: »Wie schön sie aussieht!« Dann verstummte auch sie. Marion begann mit Schillers Gedicht »An die Freunde«. Ihre Stimme rief:
»Lieben Freunde, es gab schönre Zeiten
Als die unsern – das ist nicht zu streiten!
Und ein edler Volk hat einst gelebt.
Könnte die Geschichte davon schweigen,
Tausend Steine würden redend zeugen,
Die man aus dem Schoß der Erde gräbt.
Doch es ist dahin, es ist verschwunden,
Dieses hochbegünstigte Geschlecht.
Wir, wir leben! Unser sind die Stunden,
Und der Lebende hat recht.«
Sie stand regungslos, während sie sprach – noch sparte sie die Gebärden –; nur die Finger bewegten sich und die lockere Mähne, wenn sie das Haupt ein wenig in den Nacken sinken ließ. Das überanstrengte Leuchten 146 ihres Blickes war sowohl beängstigend als bezaubernd. Durch den gereckten Körper schienen Schauer zu laufen wie elektrische Schläge. Auch die im Saale unten wurden von ihnen berührt; zuerst und am stärksten David Deutsch, der vernehmbar seufzte. – »Wir, wir leben . . .« Die Schwalbe nickte bedeutungsvoll. Da strömten die Verse schon weiter.
Die Verse strömten. Marions Stimme gab die schönsten, überraschendsten Töne her. Sie drohte und lockte, grollte und jubelte, jammerte und sang, wehklagte und triumphierte; sie leuchtete, blendete, rührte, verführte, erschreckte. Sie kam dumpf aus Tiefen, um sich gleich danach zu ungeahnter Höhe emporzuschwingen. Alle saßen gebannt; auf manchen Mienen spiegelte sich sogar Bestürzung. Wie konnte eine einzelne Menschenstimme so beängstigend abwechslungsreich sein und so viel Erschütterung bringen? Gerade hatten noch die meisten feuchte Augen gehabt, und nun lachte der ganze Saal. Auch Marcels französische Freunde, die nur mangelhaft Deutsch verstanden, amüsierten sich, und selbst der Neger, dessen Daseinszweck es war, Madame Poiret zu schokieren, ließ ein Grunzen hören. Marion rezitierte aus dem großen Gedicht Heinrich Heines: »Deutschland, ein Wintermärchen«.
In jedem Vers und jeder Prosazeile, die sie ausgewählt hatte, gab es die Beziehung zum Heutigen. Sie war niemals aufdringlich; immer deutlich. Die verewigten Meister schienen an dieses Jahr und an diese Stunde – an dieses Publikum und seine besonderen Leiden schienen sie gedacht zu haben, als sie gewisse Dinge schrieben, die Marion nun zum Vortrag brachte. Die im Saale unten begriffen: Weder unsere Leiden noch unsere Erkenntnisse sind so unerhört und so neu, wie wir in der ersten Aufregung oft meinen wollten. Andere vor uns haben schon gelitten und schon nachgedacht, und sind von den gleichen Problemen berührt worden wie wir. Aus ihren Erkenntnissen und Schmerzen aber ist Schönheit geworden. Uns hinterließen sie das große Erbe ihrer Weisheiten und der gestalteten Schmerzen. Dieses Mädchen dort auf dem Podium belebt es neu, mittels ihrer erstaunlichen, sehr abwechslungsreichen und höchst rührenden Stimme. Was für ein Genuß, ihr zuzuhören! Und übrigens ist es auch tröstlich. Es erinnert uns daran, daß wir nicht einsam sind. Erstens haben wir diese Freundin dort oben auf dem Podium – das Mädchen, in dessen Blicke und Stimme wir uns alle verlieben – und dann, die erhabenen Toten, die schon so viel durchdacht und ausgestanden haben, längst ehe wir von all dem etwas wußten. Plötzlich sind sie in unserer Nähe. Wie verklärte Brüder schauen sie uns ernst und freundlich an. Geisterhafte Zusammenhänge stellen sich her; aus den großen Toten sind neue Freunde geworden.
Auch die jungen Leute, die aus Deutschland kamen und die Köpfe voll politischer Neuigkeiten hatten, waren ergriffen. Als Marion den ersten Teil ihrer Darbietung mit einem Gedicht von Gottfried Keller, »Die öffentlichen Verleumder«, effektvoll geschlossen hatte, waren es die jungen Deutschen, die am lautesten applaudierten. 147
Während der Pause durfte nur Marcel zu Marion kommen. Er sagte ihr, wie schön es gewesen war; er küßte sie, sie saßen beieinander. In dem kleinen Raum, der hinter der Szene lag, konnten sie nicht hören, wie unruhig es drunten im Saal geworden war. Irgend jemand hatte neue Zeitungen von der Straße mitgebracht. Die Nachrichten waren wirr. Niemand wußte noch genau, worum es sich handelte. Aber Unglaubliches schien sich vorzubereiten, in Deutschland drüben, oder war schon im Begriff zu geschehen. Eine Art von Palast-Revolution – so hieß es – war ausgebrochen im Dritten Reich. Hatte es schon Tote gegeben? Kam es zu einem Massacre? Und wer würde fallen? . . . Alles redete durcheinander. Bedeutete dies die große Revolte? Den Zusammenbruch des Regimes? »Jedenfalls ist es der Anfang vom Ende!« riefen viele. Man hörte den Namen des Hauptmanns Röhm nennen. Er hatte zu den Getreuen des Führers gehört. War er aufgestanden gegen seinen Herrn und Meister?
Auch als Marion wieder auf der Bühne erschien, wollte das Reden und Flüstern noch nicht gleich verstummen. Sie stand vor den Draperien des Hintergrundes, sehr schmal und aufrecht in ihrem langen schwarzen Kleid, und wartete, bis die erregten Stimmen schwiegen. Da sie spürte, daß die Aufmerksamkeit ihr noch nicht völlig gehörte, begann sie den Vortrag mit besonderer Vehemenz. Sie sprach eine Hymne von Walt Whitman an die Demokratie. »O Demokratie, ma femme!« Dabei breitete sie enthusiastisch die Arme, und aus ihren Augen leuchtete es stärker denn je. Der Zauber ihrer Stimme wirkte wieder; er beruhigte und erschütterte. Besänftigt zugleich und auf schönere Art erregt, lauschten die Menschen, die eben noch besessen gewesen waren von den wirren Neuigkeiten des Tages. Eine Stunde lang vergaßen sie den General von Schleicher, den Hauptmann Röhm, und jenen Hitler, der die beiden anderen vielleicht schon hatte umbringen lassen. Sogar der Präsident von Hindenburg sollte ermordet sein, wie manche besonders Eingeweihte wissen wollten – und die Reichswehr stand in offener Rebellion. All dies war beispiellos sensationell; nur schien es plötzlich weniger bedeutsam, da die Klagen und Weisheiten der längst Verstorbenen so nahe herangebracht wurden und eine so schön beredte Sprache führten, durch das Medium von Marions Stimme, die aufrührerisch oder zärtlich war, tödlich betrübt oder überschwenglich heiter, gellend oder zart.
Nach dem Vortrag war der Beifall heftig, aber dauerte nicht sehr lang. Während in den vorderen Parkettreihen noch ein paar Dutzend Menschen standen und leidenschaftlich in die Hände klatschten, wurden hinten schon wieder die Blätter mit den wilden, ungenauen Neuigkeiten herumgereicht und gierig diskutiert. Der General von Schleicher – lautete die Nachricht – marschierte an der Spitze der empörerischen Armee gegen Berlin. Es war zu schön und zu sensationell, um die Wahrscheinlichkeit für sich zu haben. Doch wollten alle es so sehr gerne glauben. Niemand erkundigte sich, woher die Gerüchte kamen. Sie schienen durch die Luft 148 heranzuschwirren, noch unkontrollierbar, noch unbeweisbar, verwirrend, Hoffnung und Entsetzen erweckend . . .
Eine schwerhörige alte Dame, die sich im Gefolge der Proskauer bewegte und lange nicht verstand, wovon die Rede war, wurde ganz ausgelassen, als sie endlich begriff. »Aber das ist ja großartig!« rief sie mit einer Stimme, die vor Munterkeit krähte. »Dann ist ja der ganze Spuk vorüber, und wir können alle nach Berlin zurück!«
Ein paar Sekunden lang sagte keiner ein Wort. Jeder starrte auf die alte Dame, die es gewagt hatte, dies auszusprechen. Dann lachten einige – als wollten sie bekunden: Uns kann man nicht bluffen! Wir bleiben skeptisch! Aber in den Augen glitzerte es.
Das war am 30. Juni 1934.
Martin schrieb. Von dem großen Roman, den er plante und von dem er sich so viel versprach, war noch nicht viel mehr da als ein paar Notizen. Nun aber wollte er das Vorwort machen.
Es war still im Zimmer. Kikjou schlief. Nach den langen Gesprächen und den Liebkosungen ohne Ende waren ihm endlich doch die Augen zugefallen. Schon lichtete sich die Dunkelheit hinter dem großen Atelierfenster. Die Dunkelheit erbleichte, wurde fahl, hellgraue Töne mischten sich in die Schatten; der neue Tag kam wohl bald. Wenn er heraufgezogen ist, wird Martin sich niederlegen, um ihn fast ganz zu verschlafen. Am besten sind die Stunden der Dämmerung.
Während Martin sich die Papiere zurechtlegte, lächelte er bei dem Gedanken, daß ihm früher einmal schlecht geworden war, wenn er nach dem Genuß der Droge aufrecht am Tisch saß. Jetzt mußte er schon eine ungewöhnlich große Dosis konsumieren, damit Übelkeit sich einstellte. – ›Es wird mir wohl vom Gifte, nicht schlecht.‹
Er hörte Kikjou atmen. Er sah das lichte Grau der Dämmerung sich rosig verfärben. Er schrieb:
»Es ist eine große Unruhe in der Welt. Nicht nur die, welche ihr Vaterland haben verlassen müssen, irren wie Heimatlose umher.
Mit einer Dringlichkeit und einer Angst, mit einer Verzweiflung und einer Hoffnung, wie seit Jahrhunderten nicht mehr, stellt der Mensch sich die Frage nach seiner Bestimmung, seinem Schicksal, seiner Zukunft auf diesem Stern. Zu einem Gott, dessen Antlitz sich uns verhüllt, steigt zu jeder Stunde eines jeden Tages hunderttausendmal der Schrei: Herr, wohin führst du uns? Was hast du vor mit uns, Herr? Welches ist der Weg, den wir gehen sollen? Siehe: wir sind im Begriffe, uns sehr schlimm zu verirren!
Das Herz eines jeden Menschen in dieser Zeit ist berührt und ergriffen von der großen Unruhe. Mein eigenes Herz ist berührt und ergriffen; es schlägt angstvoll in meiner Brust.
Deshalb will ich von den Ruhelosen und Heimatlosen erzählen. Mein 149 Ehrgeiz ist es, der Chronist zu sein ihrer Abenteuer und Niederlagen, ihrer Aufschwünge und Zusammenbrüche, ihrer Trostlosigkeit und ihrer Zuversicht. Ich wiederhole die ewige Frage: Herr, wohin führst du uns? Welches ist unser Weg, und wo kommen wir an? Nicht nur die Verbannten, nicht nur die Heimatlosen fragen so; aber bei ihnen – von denen jede Bindung, jede Sicherheit gefallen ist – hat die Frage den dringlichsten Ernst, die meiste Inständigkeit.
Mir ist es aufgetragen, die tausend Formen und Gebärden, in denen diese Frage sich ausdrückt, die Aufschreie und das Gespräch, die Gelächter und das Gebet, das Stöhnen und noch das trostlose Verstummen, aufzuzeichnen und festzuhalten.
. . . Für wen schreibe ich diese Chronik der vielen Wanderungen und Verirrungen? Wer wird mir zuhören? Wer wird Anteil nehmen? Wo ist die Gemeinschaft, an die ich mich wenden könnte . . . Unser Ruf geht ins Ungewisse – oder stürzt er gar ins Leere? Bleibt ein Echo aus? Irgend etwas wie ein Echo erwarten wir doch – und sei es auch nur ein undeutliches, weit entferntes. Ganz stumm darf es nicht bleiben, wo so heftig gerufen wurde.
Und wenn auch noch nicht die Gemeinschaft da ist, von der wir uns verstanden wüßten –: Einzelne sollte es doch geben, hier und dort Verstreute, die helfen – nicht, indem sie auf die Frage Antwort wüßten; aber dadurch, daß sie die Frage hören, und mit uns auf die Antwort warten.
Dringt unsere Stimme zu ihnen? Erreicht sie der Ruf – dieser Angst- und Not-Schrei, den wir ins Ungewisse, vielleicht ins Leere senden?
Für wen schreibe ich? – Immer haben Dichter sorgenvoll darüber nachgedacht. Und wenn sie es gar nicht wußten, dann haben sie wohl – hochmütig und resigniert, stolz und verzweifelt – behauptet: Für die Kommenden! Nicht euch, den Zeitgenossen, gehört unser Wort; es gehört der Zukunft, den noch ungeborenen Geschlechtern.
Ach, was weiß man aber von den Kommenden? Welches werden ihre Spiele, was ihre Sorgen sein? Wie fremd sind sie uns! Wir wissen nicht, was sie lieben oder was sie hassen werden. Trotzdem sind sie es, an die wir uns wenden müssen. –
Die Horizonte unseres Daseins sind verfinstert. Die drohend geballten Wolken künden schon lange das Gewitter an. Es könnte ein Gewitter ohnegleichen werden. Die Katastrophen aber sind kein Dauerzustand. Die Himmel, die wir heute so tief verschattet sehen, erhellen sich wieder. Werden wir, die wir jetzt kämpfen und leiden, von diesem neuen Licht noch beschienen werden?
Es sind andere unterwegs: jüngere Kameraden, jüngere Brüder – wir hören schon ihren leichten Schritt. Denken wir an diese, wenn wir müde werden wollen! Lieben wir die noch Namenlosen! Ihre Stirnen sind noch blank von einer Unschuld, die wir längst verloren. Unsere jungen Brüder sollen nicht schuldig werden, wie unsere Väter und wie wir es gewesen sind. Sie sollen eine bessere Welt kennenlernen als wir. Sie sollen sich 150 freier entwickeln, besser und schöner, kühner und frommer, klüger und sanfter werden dürfen, als es uns gestattet war.
Das Lächeln einer flüchtigen, zerstreuten Dankbarkeit, mit der die jüngeren Kameraden unserer vielleicht gedenken werden, muß des Lohnes genug für uns sein. Irgendwo werden sie – von denen wir uns so gerne vorstellen, daß sie glücklicher sind als wir – auf Spuren stoßen, die von unseren Leiden und Kämpfen zeugen – diesen Kämpfen, die uns heute ganz in Anspruch nehmen, von deren Gewicht und Bitterkeit jenen Knaben aber wahrscheinlich die Vorstellung fehlen wird. Dann werden sie, für eine ganz kurze Weile, innehalten in ihren Spielen und in ihrem Werk. Ein paar gerührte Sekunden lang beschattet Nachdenklichkeit ihre Stirne, einer Wolke gleich, die schnell vorüber ist. Sie blättern, nicht ohne Mitleid und vielleicht nicht ganz ohne Achtung, in dieser Chronik von den vielen Wanderungen und den vielen Fragen. Dann kommt ihnen wohl eine Ahnung, was von uns gesündigt und bereut, durchkämpft, gelitten worden ist – und wir sind nicht vergessen.« 151