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Der Sommer des Jahres 1933 war sehr heiß. Paris glühte. Auch die Nächte brachten keine Kühlung. Die Steinmassen der ungeheuren Stadt strahlten die Wärme aus, die sie tagsüber von der gewaltigen Sonne empfangen hatten. Der Asphalt schmolz. Die Schuhsohlen der Gehenden blieben hängen in seiner zähbreiigen Masse. In den engen Gassen des Quartier Latin und um den Boulevard St. Germain war die Temperatur wie in einem Backofen. Wenn man das Haus verließ, empfing einen draußen die Hitze wie eine erstickende Umarmung.
»Es ist, als ob man einen Schlag vor die Stirn bekäme«, sagte Marion, die mit ein paar jungen Leuten den Boulevard St. Germain hinunterschlenderte. – »Alle besseren Pariser scheinen nach dem 14. Juli aufs Land gefahren«, stellte Theo Hummler fest, der sich vor den Burschen, die gerade erst aus Deutschland eingetroffen waren, als Kenner französischer Verhältnisse zeigen wollte. »Der ›Boul Mich‹ ist verödet. Nicht einmal die Studenten sind mehr da . . .« – »Nur die Proleten – und die Emigranten sind zurückgeblieben«, ergänzte Marion munter.
Die Burschen aus Deutschland waren sozialistische junge Arbeiter, die über Straßburg hierher geflohen waren. Sie waren Schüler von Theo Hummler in Berlin gewesen. Marion und Hummler hatten sie früh morgens an der Gare de l'Est abgeholt, und ließen sich nun seit Stunden von ihnen erzählen. Einer war im Konzentrationslager gewesen; dort hatte er den Konni Bruck getroffen, den Freund von Marions Schwester. »Dem Jungen geht es miserabel«, berichtete er bedauernd. »Er hält das Hundeleben nicht aus. Entweder er wird eingehen – oder er schwört alles ab und singt das Horst Wessel-Lied . . .« – »Das darf Tilly nicht wissen«, sagte Marion leise, mehr für sich selber. – Der Bursche erzählte weiter: vom Leben im Konzentrationslager, und wie zwischen allen Gefangenen, welcher Richtung sie auch immer angehörten, eine natürliche und feste Solidarität sich herstellte. »Ich habe nie gedacht, daß es sogar unter den Kommunisten anständige Kerle gibt«, sagte der junge Sozialdemokrat. »Wenn man sich im KZ so richtig kennengelernt hat, weiß man, daß man auch draußen miteinander arbeiten kann . . .«
Marion und Hummler nickten. Ein anderer von den jungen Leuten fing an zu klagen: über die Leichtgläubigkeit der Arbeiter; über den Mangel an Klassenbewußtsein, den er bei ihnen gefunden hatte; daß sie sich von jedem Schwätzer anlügen und verführen ließen. »Ich kenne so viele, die bei uns oder bei der Kommune waren, und die jetzt das Hakenkreuz im Knopfloch tragen.« – »Sie werden mit der Zeit schon noch hinter den Schwindel kommen«, versprach Hummler. »Es ist unsere Sache, sie aufzuklären – nicht einmal, sondern hundertmal. Dafür sind in Deutschland diejenigen von unseren Leuten da, die wirklich was wissen und was gelernt haben. Ihr seid dafür da, Jungens!« rief Hummler forsch. 111 Etwas gedämpfter fügte er hinzu: »– Und wir hier in der Emigration. – Ihr sollt gutes Material mitbekommen, wenn ihr nach Deutschland zurückgeht!« Die drei Burschen antworteten nicht; zeigten aber ernste und begeisterte Mienen. Auch gingen sie plötzlich aufrechter, die Köpfe stolzer erhoben, als seien sie sich einer schönen und schweren Pflicht trotzig bewußt.
Es war Zeit zum Mittagessen; Marion schlug vor, man solle zur Schwalbe gehen. »Da trifft man immer ein paar Freunde.« – Das kleine Restaurant florierte, trotz der drückenden Hitze. Von den Stammgästen hatte kaum einer genug Geld, um aufs Land zu fahren; hingegen langte es gerade noch zu einem Schnitzel bei der Schwalbenmutter.
Während Marion und ihre Begleiter, langsam und träg, durch den Luxembourg-Garten spazierten, erkundigten die Burschen sich nach den Verhältnissen in der Emigration. Hummler berichtete über die politische Arbeit, die sich langsam organisierte. Er sprach von den humanitären Comités – die Flüchtlinge, die immer zahlreicher eintrafen, mußten empfangen und provisorisch versorgt werden –, und von den Bemühungen, aufklärend, propagandistisch zu wirken. Die publizistische Aktivität der Emgiranten – dozierte Hummler – habe zwei Aufgaben. Sie müsse von der Welt gehört werden und den noch zivilisierten, noch demokratischen Nationen das wahre, erschreckende Bild des Dritten Reiches eindringlich zeigen; andererseits aber sei es von eminenter Wichtigkeit, daß der Kontakt zur Heimat gewahrt bleibe – erstens, um von dort die Nachrichten zu beziehen, die dann in die Welt zu lancieren sind; zweitens, um Aufklärungen, Warnungen und die Aufrufe zum permanenten Widerstand nach drinnen zu leiten, auf den geheimen, schwierigen und gefahrvollen Wegen der illegalen Agitation. »Wir fangen grade erst an«, erklärte der Mann vom Volksbildungs-Wesen. »Aber manches ist im Entstehen begriffen, manches entwickelt sich schon . . .«
Er erzählte von deutschen Zeitschriften und Verlagen, die »draußen« eröffnet worden waren, oder nächstens ihre Publikationen beginnen würden. Eine deutsche Tageszeitung erschien seit neuestem in Paris. »Es ist alles nur ein Anfang!« wiederholte Hummler. »Und die Schwierigkeiten, denen wir bei all unseren Unternehmungen begegnen, sind kolossal.«
Marion ließ sich ausführlicher über die diversen Schwierigkeiten vernehmen. »Sie werden nicht nur durch die Gleichgültigkeit der Welt verschuldet«, erklärte sie; »auch nicht nur durch unseren Mangel an Mitteln. Die psychische Verfassung der Emigranten selber spielt dabei eine Rolle. Ich könnte ein Lied davon singen . . .« – Seit mehreren Monaten bemühte sich Marion, eine kleine Theater-Truppe zusammenzustellen, mit der sie auf Tournee gehen wollte. »Ein junger Autor hat mir ein paar politische Einakter geschrieben, die recht wirkungsvoll sind. Wir könnten mit dem Programm, das ich im Kopf habe, halb Europa durchziehen. Es würde eine gute, nützliche Sache sein – und den Mitwirkenden würde es so viel bringen, daß sich anständig davon leben ließe. Aber nun fangen die 112 Komplikationen erst an. Ich habe mit vielen begabten Schauspielern verhandelt, die in Deutschland nicht mehr auftreten können – oder nicht mehr mögen. Jeder hatte andere Einwände. Dem einen war mein Programm ›zu links‹; dem anderen ›nicht links genug‹. Der hatte Hoffnung auf ein Engagement in Wien oder Zürich; der nächste rechnete damit, eine kleine Rolle irgendwo im Film zu kriegen; wieder einer mußte auf seine Familie Rücksicht nehmen, die noch in Berlin sitzt. Der Sechste ist schwach von Gesundheit und verträgt das viele Reisen nicht. Der Siebente möchte seine eigene Truppe haben, der Achte ist mit dem Autor verkracht, der meine Texte geschrieben hat – und der Letzte kann mich persönlich nicht ausstehen. Es ist zum wahnsinnig werden!« Marion hatte schlenkernde, fast wilde Gesten vor Erregung. Sie ließ ihre Fingergelenke knacken und bekam drohende Augen.
»Wir sind erst im Jahre 1933«, meinte Hummler begütigend, »und das Exil hat nur gerade angefangen. In einem Jahr, oder in fünf Jahren, werden die Herrschaften alle etwas weniger kapriziös geworden sein.«
»Ich weiß aber gar nicht« – Marion schüttelte gereizt die Purpur-Mähne –, »ob ich 1938 noch Lust haben werde, mit einer Truppe herumzureisen. Wenn sechs oder zehn Leute nicht unter einen Hut zu bekommen sind: gut, dann mache ich eben meinen Dreck alleine, wie der selige König von Sachsen gesagt hat. – Ich habe schon meine Pläne und Ideen«, verhieß sie, immer noch etwas grollend, aber doch schon wieder fast munter. »Wenn es sein muß, gehe ich ohne Ensemble auf Tour –: ich, ein zartes, einsames Mädchen!«
Sie grüßte kurz und ziemlich ungnädig zur Terrasse des Café du Dôme hinüber; denn dort saßen Herr Nathan-Morelli und Fräulein Sirowitsch und hatten ihr zugewinkt. Warum sie so unfreundlich nicke? – wollte Hummler wissen. Marion erklärte: »Ich habe diesen Nathan-Morelli nicht besonders lieb. Sein antideutscher Snobismus geht mir auf die Nerven.« – Darauf Hummler: »Er ist aber ein gescheiter, sehr gebildeter Mensch. Neulich habe ich mich mal lange mit ihm unterhalten. Er weiß enorm viel. Und ich glaube nicht, daß ihm Deutschland wirklich so gleichgültig ist, wie er es immer hinstellen möchte. Anfangs habe ich mich auch über ihn geärgert – du erinnerst dich: am ersten Abend gleich, auf der Terrasse vom Café Select –; aber allmählich habe ich kapiert, daß es sich da um etwas sehr Kompliziertes handelt, um eine Art von Liebeshaß.« Hummler bewies, daß er psychologisch geschult und keineswegs ohne feines Verständnis war. »Ein sehr ambivalentes Gefühl«, sagte er noch, klug und gebildet. »Mir hat Nathan-Morelli gestanden: Meinen Sie denn, ich bildete mir wirklich ein, Engländer zu werden? Engländer wird man nicht . . . Ich tue, was ich kann, um mich von Deutschland zu distanzieren – erklärte er mir –, und ich glaube in der Tat, daß dies heute die einzig würdige Haltung für einen deutschen Juden ist; aber ich weiß doch nur zu genau, daß ich von diesem verdammten Land niemals loskommen werde. – Die Redewendung mit dem ›verdammten Land‹ hat mich ja wieder ein 113 bißchen verstimmt. Aber im ganzen war es doch gar nicht so dumm, was er da alles vorgebracht hat.«
»Er hat sicher seine braven Seiten«, räumte Marion ein; aber sie behielt ihr böses, unduldsames Gesicht. – »Und es ist ja rührend, wie die Sirowitsch ihm ergeben ist!« Hummler lag daran, Marion für diese beiden Menschen, die er schätzen gelernt hatte, zu interessieren. »Zunächst verhielt er sich nicht sehr entgegenkommend, ihr gegenüber; aber nach und nach hat sie ihn doch gewonnen. Jetzt sieht man sie beinah immer zusammen. – Man muß nur Geduld haben.« Dies äußerte Hummler mit bedeutungsvollem Blick. Er bemühte sich seinerseits, zäh und unermüdlich, um Marion, die ihm aber wenig Gunstbeweise gab. –
Bei der Schwalbe war es ziemlich voll. Doktor Mathes, der mit Meisje saß, winkte den Eintretenden zu, sich an seinen Tisch zu setzen. Der Arzt und das blonde Mädchen sahen glücklich aus; sie hatten einander gefunden – und Mathes außerdem eine Stellung. Durch besondere Protektion, die er Marcel Poiret verdankte, war er an einem Krankenhaus untergekommen und verdiente sogar ein bißchen. Meisje ihrerseits, die eingesehen hatte, daß sie als Blumenzüchterin hier wenig Chancen hatte, absolvierte einen Pflegerinnen-Kursus. Übrigens erhielt sie monatlich eine kleine Gulden-Anweisung von ihren Verwandten aus Holland. Die beiden waren also relativ wundervoll dran. Sie hatten sich eine Zweizimmer-Wohnung im XIV. Arrondissement genommen. Dort gab es, außer ihrem Bett, ein Sofa, auf dem fast jede Nacht ein anderer Emigrant schlief, und einen Tisch, an dem meistens zwei oder drei Fremde zu essen bekamen. Meisje, die bis jetzt ein einsam-jungfräuliches Leben geführt hatte, sah noch schöner aus, seit sie sich lieben ließ. Ihr klares, offenes Gesicht unter der Fülle des ährenblonden Haares schien zugleich weicher und stolzer geworden. Ein außerordentlich prachtvolles Geschöpf. Marion schaute sie an und dachte: So mochte ich einmal aussehen dürfen, so unschuldig und so stark! Wie herrlich muß man sich fühlen in seiner Haut, wenn man so wohlgeratene Glieder hat, und eine so engelhaft blanke Stirn! – Mathes bemerkte Marions neidisch-zärtlichen Blick. Er nickte ihr zu und lächelte, als wollte er sagen: Ist sie nicht unvergleichlich? Ich finde, daß sie durchaus unvergleichlich ist!
Die drei Burschen, die aus Deutschland kamen, wurden ausgefragt; während sie ihre Erbsensuppe mit Wurst verzehrten, mußten sie nochmals all ihre Neuigkeiten auspacken. Meisjens Gesicht verfinsterte sich zürnend, wie das eines gekränkten Engels, als von den sadistischen Schikanen die Rede war, mit denen SS-Leute ihre Gefangenen quälten.
Auch am Nebentisch unterbrach man die Unterhaltung, um zuzuhören. Dort saß die Proskauer mit Germaine Rubinstein und dem jungen Helmut Kündinger. Die Proskauer arbeitete seit einigen Wochen in einem Comité für jüdische Flüchtlinge. Auf ihrem schrägen Nacken und den schmalen, gesenkten Schultern schien sie allen Kummer der Unglücklichen zu tragen, die sie betreuen half, und ihre raunende Stimme war voll von 114 den tristen Geheimnissen, die ihr anvertraut wurden. »Das Elend ist unbeschreiblich«, murmelte sie oft. Mehr war kaum aus ihr herauszukriegen.
Helmut Kündinger sprach immer noch ziemlich viel und wehmutsvoll von Göttingen und seinem Freund, der sich erschossen hatte. Manchmal packte die Heimweh-Krankheit ihn wie eine schwere Grippe. Die Attacke dauerte ein paar Stunden oder ein paar Tage. Dann überwand er sie wieder. Neuerdings hatte das labile Selbstbewußtsein des schüchternen Jünglings eine gewisse Stärkung erfahren; ein untergeordneter, aber doch nicht ganz unwichtiger Posten an der neugegründeten Tageszeitung war ihm anvertraut worden. Er durfte Korrekturen lesen, und zuweilen auch selber etwas einrücken lassen. Seine Artikel handelten meistens von den Verhältnissen an den deutschen Universitäten. In diesem Milieu kannte er sich aus, und die Journalisten bestätigten ihm, daß er brauchbare Arbeit tue. Nun konnte er, im Café du Dôme oder bei der Schwalbe, gelegentlich auf die Uhr sehen und nervös aufspringen: »Mein Gott, – ich muß in die Redaktion! Es ist Zeit zum Umbruch!« Oder er durfte abends mit bedeutsamer Miene sagen: »Ihr entschuldigt mich, bitte! Ich habe noch einen Aufsatz für die Sonntagsnummer fertigzumachen . . .« –
Man richtete sich ein im Exil. Es dauerte kaum ein halbes Jahr, und war doch schon kein Abenteuer mehr, sondern gewohnter Zustand. Alle hatten Pläne, die meisten schon irgendeine Beschäftigung, und manche verdienten sogar etwas Geld. Man bewegte sich in der fremden Stadt fast schon mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie einst in der Heimat; man hatte seine Stammlokale, seinen Bekanntenkreis. Aus dem Reich kam immer neuer Zustrom. Die »alt-eingesessenen Emigranten« empfingen die eben erst angekommenen nicht ohne einen gewissen Hochmut. »Habt ihr es nun auch eingesehen, daß man bei den Nazis nicht leben kann?« fragten sie, etwas mitleidig und etwas höhnisch. »Na, nun sollen wir euch wohl erst mal was von Paris zeigen!« – Man blieb unter sich, sprach immer deutsch miteinander. Die politisch Aktiven zwar hatten wohl den Kontakt mit französischen Gesinnungsgenossen aufgenommen: man unterzeichnete zusammen Proteste; auch gemeinsame Versammlungen und Demonstrationen wurden geplant. Aber diese Beziehungen waren zunächst aufs Sachliche beschränkt. Marcel war einer der wenigen unter den Pariser Schriftstellern, der mit den deutschen Emigranten freundschaftlich-intim verkehrte.
Auch mit den übrigen internationalen Emigranten, von denen die Stadt wimmelte, hatte man wenig Umgang. Von den weiß-russischen Exilierten distanzierte man sich schon aus politischen Gründen. Marion und Madame Rubinstein, zum Beispiel, sahen sich jetzt viel seltener, als es früher bei den Pariser Aufenthalten Marions der Fall gewesen war. Hingegen erschien die ernste kleine Germaine immer häufiger in der »Schwalbe«; man durfte sie beinah schon zu den Stammgästen rechnen. Das Zusammensein mit den deutschen Antifaschisten, die noch kämpferisch gestimmt waren und auf eine bessere Zukunft hofften, behagte ihr besser als der 115 Verkehr mit den resignierten, verbitterten oder stumpf gewordenen Freunden ihrer Eltern, oder als das Geplauder mit den kleinen Pariser Mädchen, die ihre Kolleginnen im Modesalon waren. »Die haben doch nur ihre Flirts im Kopf«, meinte sie verächtlich. Und sie gestand Marion, daß sie immer noch, und immer heftiger, von der Rückkehr nach Moskau träume. »Gestern habe ich mir einen russischen Film angesehen«, sagte sie zur Proskauer. »Alle Gesichter, die auf die Leinwand kamen, hatten so ein Leuchten . . . Es waren gar nicht lauter schöne Gesichter; aber wenn sie lachten, konnte man sich in jedes von ihnen verlieben. Ich kann es gar nicht beschreiben . . . Ich war nachher so traurig – und so froh, wie schon lange nicht. Wenn Mama mir nur erlauben wollte . . .« flüsterte sie und blickte scheu um sich, als könnte Anna Nikolajewna sie hören.
»Vermutlich ein älterer Film«, murmelte verständig die Proskauer, wozu die kleine Germaine zornig die Achseln zuckte.
Die Schwalbe, Zigarre im Mund, Arme breit in die Hüften gestemmt, ging zwischen den Tischen umher und erkundigte sich bei den Gästen, ob das Essen schmecke. »Ausgezeichnet!« lobte Marion. »Es wird immer feiner bei dir, und immer voller. Ich glaube, dein Laden geht besser als alle anderen von Paris. Bobby Sedelmayer könnte sich gratulieren, wenn er nur die Hälfte von deinen Gästen hätte.«
Bobbys Lokal hieß »The Rix-Rax-Bar« und war verlockend aufgemacht; leider blieb der Erfolg mäßig. Für die Emigranten waren die Drinks zu teuer, und die Pariser große Lebewelt frequentierte kaum ein Dancing, das von einem unbekannten Deutschen geleitet wurde. Die Jazz-Kapelle war gut, der Mixer galt für eine Kapazität in seinem Fach, die Dekorierung der Wände stammte von einem jungen Maler, den man in Kennerkreisen als einen »aufgehenden Stern« bezeichnete. Übrigens lag das Lokal günstig, nicht weit von der Avenue de l'Opéra. Es waren aber nur ein paar durchreisende Amerikaner und einige wohlhabende Geschäftsleute aus dem Berliner Westen, die sich, in nicht besonders heiterer Laune, hier zusammenfanden. Bobby, sehr adrett in seinem zweireihigen Smoking, eine große weiße Nelke im Knopfloch, empfing alle mit dem gleichen gastlichen Lächeln und versuchte optimistisch auszusehen. Besonders wenn Siegfried Bernheim erschien, strahlte Bobby; der Bankier behielt trotzdem den verdrossenen Gesichtsausdruck. Er hatte zuviel Geld in dieses Unternehmen gesteckt, und schon wurde ihm klar, daß es nicht rentierte. Bobby sagte aufgeräumt: »Heute abend ist es ausnahmsweise nicht besonders voll bei mir. Ist ja selbstverständlich, bei der Hitze! Wer bleibt denn jetzt in Paris?« Aber Bernheim schüttelte nur düster den Kopf. Er reiste schlechter Laune nach Mallorca ab. Professor Samuel begleitete ihn.
Die Schwalbe war natürlich doch ein wenig schadenfroh, was die »Rix-Rax-Bar« betraf. »Bobby wollte es eben gar zu schick haben«, tadelte sie. »Die Zeiten sind nicht danach.« Aber als dann Marion nett von Bobby sprach – er sei ein so lieber Kerl und sein Mißerfolg tue ihr leid –, war es die Schwalben-Wirtin selber, die vorschlug: »Wir sollten nächstens mal 116 alle zusammen abends zu ihm gehen. Ich lade euch ein – aber keiner darf sich mehr als einen Cocktail bestellen; sonst bin ich ruiniert. – Und überhaupt«, fügte sie brummend hinzu, »ist es eine Sünde, heutzutage dreißig Francs für ein bißchen Gin rauszuschmeißen, in dem eine Olive und eine halbe Orchidee schwimmen; das ist dann der neu erfundene ›Rix-Rax-Cocktail‹ . . .« – »Bobby ist immer sehr hilfreich und gefällig, wenn er selber was hat«, bemerkte Marion noch. »Er sieht jetzt oft sorgenvoll aus. Weiß Gott, wie viele Leute er ernähren muß . . .« Marion hatte eine Schwäche für den unternehmungslustigen kleinen Mann mit den blendenden weißen Haaren.
Sie wurde ans Telephon gerufen. Es war Marcel. »Ich spreche aus Martins Zimmer«, sagte er.
Martin und Kikjou hausten zusammen in einem kleinen Hotel, das gleich neben dem »National« in der rue de Jacob lag. Seit Monaten hatten sie sich nicht einen Tag mehr getrennt. Kikjou war damals, im April, von seinem Ausflug zum frommen Oheim in Belgien nach einer Woche zurückgekommen. Der enge Raum im »National« war auf die Dauer zu eng für die beiden Freunde geworden. Das Zimmer, das sie nun im Nebenhaus bezogen hatten, ging eigentlich weit über ihre Verhältnisse. Es war ein geräumiges Studio mit eigenem Bad und großem Atelier-Fenster, durch das man den Blick weit über die Dächer des Quartiers hatte. Das Appartement kostete 500 Francs im Monat; an jedem Ersten mußte Kikjou eine neue List ersinnen, um den Onkel in Lausanne weich zu stimmen; – der fromme in Belgien schien finanziell nicht in Frage zu kommen; – oder Martin sah sich genötigt, einen bewegenden Brief an alte Korellas abzufassen. Manchmal blieben die Gemüter hart, und die Geldsendungen aus Berlin wurden, durch die deutschen Devisengesetze, ohnedies immer mehr erschwert. Dann gab es dramatische Auftritte mit der Patronne, die zornig drohte, die beiden jungen Leute aus dem Hotel zu werfen und ihr Gepäck zu beschlagnahmen; schließlich aber doch wieder Nachsicht und Geduld zeigte.
Meistens lagen sie bis zum Nachmittag im Bett –: »um den Lunch zu sparen«, wie Martin erklärte. »Wenn man lange schläft, genügt eine Mahlzeit am Tag.« Gegen halb zwei Uhr klingelten sie; dann brachte ihnen der Valet de Chambre Schokolade und Brioches. Der Valet hieß Jean und war ein würdiger Mann mit hängendem weißen Schnurrbart. Er empfand eine väterliche Sympathie für die zwei seltsamen Knaben; sein Wohlwollen war nicht frei von Sorge. Die beiden besprachen fast alles mit ihm; er kannte ihre Geldsorgen, begriff, daß es Monsieur Martin so schwer fiel, Artikel für die Zeitung zu schreiben, und all der Ärger, den Monsieur Kikjou mit seiner Familie hatte, war ihm wohl vertraut. »Aber Sie schlafen zu lange!« sagte Jean tadelnd. »Das ist kein Leben! Etwas Sport sollten Sie treiben! Junge Menschen müssen aktiv sein!«
Es war dem Alten auch nicht unbekannt geblieben, welch gefährlichen und ungesunden Angewohnheiten »le jeune Monsieur allemand« nachhing. 117 Eines Tages war dem Valet beim Aufräumen die Spritze in die Hände gefallen, und dann mußte Martin alles gestehen. Übrigens liebte er es, von seinem Laster ausführlich und mit einer gewissen Pedanterie zu sprechen. Er schilderte dramatisch das erste Zusammentreffen mit Pépé und schloß den Bericht, nicht ohne Selbstgefälligkeit: »Das Erstaunliche ist, daß ich immer noch nicht eigentlich süchtig bin, weißt du.« (Diese letzten zwei Worte auf die kokette Art zerdehnt und geschleppt.) »Von Morphinismus kann man bei mir gar nicht sprechen. Ich nehme unregelmäßig, in großen Abständen.«
Wirklich besuchte er seinen Freund Pépé – der das Stammlokal längst gewechselt hatte und nun in einem Café nahe der Madeleine »empfing« – zunächst nur jede zweite Woche. Mit einem Heroin-Päckchen, das er nun für 150 Francs erstand, reichte Martin vierzehn Tage lang. Nur jeden zweiten oder dritten Abend gönnte er sich eine Injektion. Er war schon seit längerem davon abgekommen, das Pulver durch die Nase hochzuziehen, und hatte sich daran gewöhnt, die Substanz in destilliertem Wasser aufzulösen.
Anfangs hatte er seine Beziehung zu Pépé und alles, was mit ihr zusammenhing, vor Kikjou strikt verheimlicht. Auf die Dauer war dies nicht möglich; auch litt Martin sehr darunter, ein solches Geheimnis vor dem Freund zu haben. Kikjous Reaktion auf die Eröffnung war sonderbar. Er schien beinah nicht überrascht. »Ich hatte etwas dieser Art erwartet«, sagte er nur, und schaute den anderen, mehr sinnend als streng, lange aus den weit geöffneten, schillernden Augen an. Dann ließ er sich ein paar Stunden lang nicht blicken.
Am nächsten Tage verlangte Kikjou: »Zeige mir la chose infernale!« Martin stellte sich erst, als ob er nicht verstünde, was gemeint war; öffnete aber dann das Päckchen und ließ das kristallisch durchsetzte, hellgraue Pulver sehen. Kikjou betrachtete es, sorgfältig und etwas angewidert, wie man sich ein zugleich attraktives und schauerliches Lebewesen, etwa einen großen, seltsam geformten Käfer besieht. »Formidable!« brachte er nach langer Pause hervor. »Es sieht ungeheuer giftig aus . . .« Dazu schüttelte er sanft den Kopf, wie ein nachsichtiger junger Priester beim Anblick der nackten Sünde.
Martin schlug vor: »Magst du es nicht versuchen?« Kikjou verneinte nur mit einem Blick. Martin erklärte: »Du mußt nicht denken, daß ich ein Morphinist bin, oder es jemals werden könnte. Ich nehme es nur ganz unregelmäßig, weißt du . . .« Kikjou winkte ab. Mit einer sehr leisen, zugleich zärtlichen und tückischen Stimme sagte er: »Ich bin neugierig, wie du aussiehst – wenn du es in dir hast . . .«
Nachts beobachtete er den Freund, wie er sich, nach der Injektion, selig benommen aufs Bett streckte. »Dein Gesicht verändert sich«, konstatierte Kikjou, halb lüstern und halb betrübt. »Wie fremd du mir wirst! Du bist schon ganz weit weg . . . La chose infernale entführt dich –: wohin? – Wohin Martin?« rief Kikjou ihm zu, mit erhobener Stimme, als gälte es, 118 sich über weite Entfernungen verständlich zu machen. »Ist es schön, wo du bist?« fragte Kikjou, wie über Abgründe weg. Und Martins entrückte Stimme gab Antwort: »Wunderschön.«
Aneinandergeschmiegt sprachen sie die Nächte lang. Kikjou ließ die grausamen, unendlich neugierigen und unendlich zärtlichen Augen nicht von Martins weißer, besänftigter und streng verklärter Miene. Martin hielt die Augen geschlossen, während er redete. Ihm kamen vielerlei Gedanken, die Worte strömten, das Gespräch nahm kein Ende. Alle Probleme, alle Begriffe wurden einbezogen, und alle lösten sich auf in einem Nebel, der schimmernd, aber undurchdringlich war. Martin erzählte auch manches von den Büchern, die er schreiben wollte –: große Bücher, wunderbare Geschichten. »Oh wie traurig – oh wie schön werden sie sein! All unsere Schmerzen sollen vorkommen, mitsamt allen Wonnen! Ich spüre, daß mir unvergleichlich Schönes glücken wird . . .«, lallte er aus seiner Euphorie, mit zugleich beschwingter und sehr schwerer Zunge. Kikjou aber schaute ihn an . . .
Da es Martins Meisterwerke bis jetzt nur in Träumen gab und sie noch nicht auf dem Papiere standen, griff er zuweilen nach einem Buch, das er liebte, um dem Freunde draus vorzulesen. Er öffnete den Band Novalis, riß seherisch die Augen auf, in denen die Pupillen sehr klein geworden waren, und verkündete:
»Unerhörte, gewaltige,
Keinen sterblichen Lippen entfallene
Dinge will ich sagen.
Wie die glühende Nachtwandlerin,
Die bacchische Jungfrau
Am Hebrus staunt
Und im thrazischen Schnee
Und in Rhodope, im Lande der Wilden,
So dünkt mir seltsam und fremd
Der Flüsse Gewässer,
Der einsame Wald . . .«
. . . Tags waren die beiden Knaben still und ermattet. Seitdem die unbarmherzige Hitze über Paris gekommen war, verloren sie vollends die Lust, ihr schönes Atelier zu verlassen. Erst am späten Nachmittag verbrachten sie eine Stunde im Bistro gegenüber, um einen Vermouth zu trinken. Dann gesellte sich wohl David Deutsch zu ihnen, der sich noch intensivere Sorgen um Martin machte als der brave Valet de Chambre. David liebte und bewunderte den jungen Dichter, der sich nun an so bedenkliche Abenteuer verlor. Er nahm Kikjou beiseite, um ihn herzlich zu bitten: »Bringen Sie ihn doch ab von dem abscheulichen Gift! Sie haben Einfluß auf ihn! Machen Sie ihn geltend! Wir verlieren Martin, wenn er es so weiter treibt – was ja bedeuten würde, daß er es bald viel schlimmer treiben wird. Wir dürfen ihn nicht verlieren!« Aber Kikjou – ein junger 119 Priester, der nachsichtig das helle Antlitz zur nackten Sünde neigt – schüttelte nur sanft das Haupt. »La chose infernale ist schon stärker geworden als ich«, sagte er, und es klang kaum bedauernd.
Das Abendessen nahmen sie zu dritt in dem kleinen Restaurant, Ecke rue des Saints Pères, wo damals die Amerikanerin ausgespuckt hatte. Und dann kam wieder die Nacht . . .
Am nächsten Vormittag ließ Marcel auf dem Korridor vor Martins und Kikjous Zimmer den Vogelruf hören, mit dem er sich anzumelden pflegte: »Ohu . . . Ohu!« Er mußte mehrfach an die Türe klopfen, ehe Martin, sehr verschlafen und in einem nicht ganz sauberen Pyjama, ihm die Türe öffnete »Les singes!« schimpfte Marcel. Er nannte die beiden niemals anders, was eine Anspielung auf Kikjous zartes und nervöses Affengesichtchen war. »Natürlich! Mitten am Tag noch im Bett!« Martin brachte in seinem langsamen, unbeholfenen Französisch schmollend vor: »So eine Gemeinheit, einen gleich nach Mitternacht zu stören! Komm schon herein, da du nun einmal da bist . . .«
Übrigens freute Martin sich im Grund darüber, daß Marcel neuerdings häufiger zu ihm kam. Er machte es sich nicht klar, oder wollte es sich doch nicht ganz zugeben, daß Poirets Visiten weniger ihm als dem kleinen Kikjou galten. Marcel bewahrte seinem »petit frère« Sympathie und Freundschaft. »Ein sehr anziehendes und interessantes Äffchen«, pflegte er, etwas gönnerhaft, von ihm zu sagen. »Er macht mir Spaß, weil er genau so ist, wie ich in seinem Alter leicht hätte sein können, aber durch verschiedene Zufälle nicht gewesen bin. Wahrscheinlich ist er außerordentlich begabt, und übrigens stark und zäh im Grunde, bei aller Zartheit. Er macht Augen wie ein hysterisches kleines Mädchen; wenn es aber drauf ankommt, weiß er recht genau, was er will. Man könnte noch Überraschungen mit ihm erleben. Er wird manches leisten, und wahrscheinlich überlebt er uns alle.« –
»Eine tierisch verkommene Wirtschaft!« Marcel warf mit kühnem Schwung den leichten, hellen Hut auf einen Sessel; er stand da in seinem grauen, etwas fleckigen, aber gut gemachten Flanellanzug, mit breiten braunen Halbschuhen und einem dicken, rot und blau karierten Leinenhemd, zu dem er keine Krawatte trug. – »Wie das hier aussieht! Schweinerei!« Er lachte und fühlte sich ganz behaglich.
Kikjou hockte nackt auf dem Bett, seine Hände um die mageren Knie geschlungen. Martin warf ihm einen Morgenrock zu. »Du siehst unanständig aus«, bemerkte er, und grimassierte, als ekelte ihn der Anblick.
Marcel hatte auf Kikjous bloßer, unbehaarter Brust das kleine, goldene Kruzifix entdeckt. Der Anlaß kam ihm gelegen, um sich gleich mit Feuereifer in die Diskussion zu stürzen, auf die er sich beinah immer einließ, wenn er Kikjou sah. »Natürlich!« höhnte er, »den häßlichen kleinen Fetisch trägst du auf deinem Herzen! Merde alors!«
»Sei still!« bat der andere ihn sanft, und schützte das heilige Ding mit zärtlich gewölbten Händen, als wollte Marcel es ihm von Halse reißen. 120 Dem schien wirklich nach irgendeiner Aktion solcher Art zu Mute zu sein. »Es ist eine Schande!« polterte er. »Überall auf der Welt geht die Kirche mit der Reaktion, in allen Ländern macht sie gemeinsame Sache mit den Feinden des Fortschritts, mit den Ausbeutern, oder auch mit den faschistischen Mördern – und du hängst dir diesen Firlefanz um den Hals! Dabei bildest du dir auch noch ein, eine linke Gesinnung zu haben, und treibst dich mit Leuten herum, die von dem Faschistenpack aus ihrer Heimat vertrieben worden sind!« Marcel ließ wegwerfende Blicke über die hübsche Gestalt des schmalen Knaben hingleiten, der seine Nacktheit jetzt notdürftig bekleidet hatte.
Kikjou erlaubte sich einen Einwand. »Soviel ich weiß, werden die Katholiken im Dritten Reich fast ebenso schrecklich verfolgt wie die Juden und Sozialisten. Alles spricht dafür, daß die Feindschaft zwischen den Christen und Nazis sich noch verschärfen anstatt mildern wird.«
»Das ist Zufall«, behauptete Marcel gereizt. »Die Herren Bischöfe würden sich mit dem ›Führer‹ herzlich gern abfinden, wenn sich der nur um eine Nuance entgegenkommender ihnen gegenüber verhielte. Man sieht es doch in Italien: das Gentlemen-Agreement zwischen Mussolini und dem Papst scheint zu funktionieren.«
Kikjou versetzte, sanft und eigensinnig, übrigens nicht ohne Feierlichkeit: »In Deutschland wird es Märtyrer des Glaubens geben.«
»Märtyrer des Glaubens gibt es dort schon«, warf Marcel zornig dazwischen. »Des sozialistischen Glaubens nämlich!«
»Sind die Christen, die den Kerker oder Schlimmeres auf sich nehmen, weniger bewundernswert?« Kikjou sandte einen großen, ernst fragenden Blick der schimmernden Augen, die unter ihren gewölbten Brauen den Augen Marcels so sehr glichen.
Marcel wollte nicht weiter von den christlichen Märtyrern in Deutschland sprechen. »Die Kirche ist aus leicht durchschaubaren Gründen immer und überall gegen den sozialen Fortschritt gewesen«, beharrte er. »Nach der Französischen Revolution war der Papst der erste, der sich gegen die Proklamation der Menschenrechte erklärte. In Spanien wollen die Priester, Hunderttausende sollen Analphabeten bleiben, nur damit die kleinen Bauern und Landarbeiter sich ohne Widerstand von den Großgrundbesitzern ausnutzen lassen, stumpfsinnig wie das Vieh. Dort wird es auf besonders krasse Art deutlich, welche Rolle die Kirche spielt und am liebsten überall spielen möchte. Sie tut alles dafür, damit das Land, geistig und ökonomisch, in einem mittelalterlichen Zustand bleibe. Dann könnte man die Heilige Inquisition wieder einführen und die Ketzer brennen lassen, merde alors. Wenn es in Spanien einmal Revolution gibt – und die kann nicht ausbleiben –, dann werden diese verdammten Priester es sein, an denen das Volk sich am grausamsten rächt!« Marcel hatte blutdürstige Augen.
Martin konnte das furchtbar schnell gesprochene Französisch nicht ganz verstehen. Übrigens war er schon mehrfach Zeuge ähnlicher Debatten gewesen, und sie langweilten ihn etwas. Deshalb zog er sich nun ins 121 Badezimmer zurück. »Ich gehe«, sprach er noch, mit würdevoller Miene, ehe er die Tür hinter sich schloß, »um dem Heiligen Vater eine Ansichtskarte zu schreiben. Der arme Mann muß doch wissen, was für unerbittliche Feinde er hat . . .« Dann ließ er drinnen das heiße Wasser in die Wanne rauschen.
Kikjou, noch immer vom Bett her, sagte leise: »Es gibt falsche Priester. Ich verteidige sie nicht. Jede große Sache hat unwürdige Diener, neben den verdienstvollen; auch der Sozialismus. Die spanischen Kleriker mögen irren, sie sind menschliche Wesen, höchst fehlbar. Die deutschen Priester beweisen, daß die alleinseligmachende Kirche im Grunde auf der Seite des menschlichen Rechtes steht. Der Mut, den diese frommen Männer zeigen, kann nur aus innerer Erleuchtung – muß aus der Gnade kommen.«
»Dasselbe ließe sich von den kommunistischen Arbeitern behaupten, die auch nicht gerade feige sind«, versetzte Marcel, zornig und geschwind. »Nur bei den Pfarrern läßt Zivilcourage auf Gnade schließen! – So niederträchtigen Unsinn bin ich gewöhnt, von Madame Poiret zu vernehmen – wenn ich der ekelhaften Person überhaupt noch zuhöre. In Wahrheit ist es aber doch so, daß diese Herren vielleicht in einigen Fällen Mut bewähren mögen, aber für die falsche, verlorene, überwundene oder zu überwindende Sache; für einen Aberglauben, durch den der Fortschritt seit Jahrhunderten bösartig gehemmt worden ist. Kann der Mut des Menschen denn ein anderes Ziel haben, als die materielle und moralische Besserung seines Schicksals?! Die Priester lenken den Menschen von der einzigen Sorge ab, die ihn wirklich zu beschäftigen hätte: von der Sorge um sein eigenes Wohlergehen. Als Ersatz für Annehmlichkeiten, die er sich hier nicht verschaffen darf, winkt ein Jenseits – an dem das einzig Gute ist, daß es nicht existiert; denn seine Langweiligkeit wäre unvorstellbar. – Wir wollen aber nicht warten bis zum Jüngsten Tag!« Marcel stand mitten im Zimmer wie auf einer Tribüne und schrie den Jungen im Bett mit Donnerstimme an, als wendete er sich an eine widerspenstige Masse. Die Augen sandten Strahlen; er hob die Faust. »Hier soll es hell werden!« verlangte er stürmisch. »Hier – wo wir leben und uns plagen!! – Es wird hell sein!« verkündete er entzückt, als wäre ihm gerade jetzt von kompetenter Seite diese Mitteilung gekommen. »Weit hinten am Horizont sehe ich eine feurige und schwefelnde Sonne. Sie ist so stark, daß ihre Strahlen viel versengen werden –: sehr wohl möglich, daß sie einen Feuerbrand anrichtet. Aber die Dunkelheit nimmt sie fort!«
. . . Marcel liebte es, und es unterhielt ihn sehr, vor dem kleinen Kikjou Christum und Kirche anzuklagen, und eine bevorstehende, »klassenlose, kirchenlose, grenzenlose Gesellschaft« zu preisen. Das erregte Gespräch, das sie vormittags im Hotelzimmer begannen, setzten sie zuweilen bis in den Nachmittag oder Abend fort: auf Spaziergängen, in einem Café oder in Marcels kleiner Wohnung, draußen in Auteuil. Marcel redete und redete – fieberhaft eilig, höhnisch und pathetisch, grob und zärtlich, ekstatisch und vulgär. Welche Angst hatte er denn zu betäuben mit dieser Sturzflut von Worten? . . . Er war geplagt von Ideen, wie ein anderer von 122 Schmerzen. Jeder Gedanke, wenn man ihn nur bis zur letzten Konsequenz zu Ende dachte, bedeutete Verpflichtung, alarmierendes Programm, Aufforderung zur Tat. Auch die Zweifel blieben nicht immer aus, und es kamen Leiden.
Entschlossen mutig, wie ein Schwimmer sich in kaltes Wasser wirft, stürzte Marcel Poiret sich in die intellektuellen Komplikationen. »Das Einfache ist stets nur das Vereinfachte!« proklamierte er. Andererseits quälte es ihn, daß die schillernde Zusammengesetztheit seines Denkens ihn den einfachen Kämpfern, den »Soldaten der Revolution« entfremdete. Die Manifeste und Pamphlete, die er verfaßte, verwirrten durch ihre Gedankenfülle wie durch den fulminanten Stil. Die Abonnenten der marxistischen Tageszeitungen und die Besucher von Massenversammlungen konnten mit ihnen kaum etwas anfangen. Sie begriffen wohl, daß dieser entflammte Jüngling sie zum Kampfe rief – »Der Kapitalismus tötet sich nicht selber; man muß ihn töten!« hatte er geschrieben –; aber sowohl Pathos wie Ziel dieses Kampfes blieben ihnen mysteriös.
In den dogmatischen Materialismus des hymnischen Marxisten mischten sich zuviel lyrisch-überschwengliche Elemente. »Am Baume des Umsturzes« sah er »die wundersamsten Früchte keimen«, wie der begeisterte Wanderer durch eine Frühlingslandschaft –, und er rühmte eine heftig bewegte, gleichsam elektrisch geladene »konvulsivische« Schönheit, die einerseits überschwenglich irrational zu sein schien, andererseits aber in einer seltsam strengen und intimen Beziehung zu den exakten Wissenschaften stand. – »Die Dichtung ist ein Mittel zur Erkenntnis«, ließ er hören; er begeisterte sich für den »neuen wissenschaftlichen Geist« wie für eine Religion.
Er gierte nach Licht, nach Erleuchtung, nach Helligkeit, wie der Kranke nach Sonne. Das Dunkle im tiefsten Grunde seines eigenen Wesens mußte wohl mächtig sein, sonst hätte er nicht mit so gereizter Heftigkeit nach dem Hellen verlangt. – Seine Meinung war:
»Zu bewirken: daß aller Muff der Fäulnis verfliege, das wird die Größe der Dichter des XX. Jahrhunderts ausmachen. Deshalb haben wir unser Los verbunden mit dem der proletarischen Revolution, die durch die Befreiung des Menschen den Geist befreien wird.«
. . . Manchmal, – aber nur selten – wurden seine schönen, starken, beweglichen Lippen müde von den gar zu vielen Worten, die sie geformt hatten. Er verstummte im befreundeten Kreis, und der Strahlenblick unter den gewölbten Brauen ward dunkel. »Was soll das alles?« fragte er, nach solchem Schweigen. »Warum habe ich nicht fünfzig Jahre früher leben dürfen? Dann hätte dies alles mich nicht gequält und mich kaum beschäftigt. Ich hätte ein paar hübsche, traurige, verliebte Bücher geschrieben, ein paar Geschichten über einfache, menschliche Gegenstände, und wäre zufrieden gewesen . . .« Und mit einem großen Aufseufzen sagte er: »Ach, ich wünschte mir so sehr, wir hätten die Revolution endlich hinter uns, damit man wieder anfangen könnte mit der Literatur. – Was sollen wir 123 Schriftsteller, während die großen Entscheidungen fallen? Wo sollen wir hin? Sagt mir – wo sollen wir hin?«
Die Freunde konnten es ihm nicht sagen. Was sie vermochten, war nur, den plötzlich Entmutigten etwas zu trösten. Marion legte ihm mit großer Sanftheit die schöne, starke Hand auf den Arm. Martin, pedantisch und kokett zugleich die Worte dehnend, begann, eine humoristische Geschichte zu erzählen. Kikjou lächelte – rätselhaft, gütig und verführerisch.
Man saß in Marcels kleiner Wohnung. Die Unordnung hier war horrend – auf den Stühlen lagen Broschüren neben getragenen Hemden, und das Bett war zerwühlt –; trotzdem herrschte eine gewisse Gemütlichkeit. Auf dem Tisch stand der rote Wein neben dem Brot und dem Fleisch. Marcel besorgte selber seinen kleinen Haushalt. Er scherzte und lachte mit den Ladenmädchen, wenn er seine Einkäufe machte. Alle im Quartier liebten ihn. Keiner widerstand seinem Charme.
Wenn er zu Hause aß, hatte er immer Gäste. Entweder französische Kameraden stellten sich zur Mahlzeit ein, oder es erschienen ein paar deutsche Emigranten. Marcel bewirtete nicht nur die nahen Freunde, wie Marion, Martin und Kikjou, sondern auch beinah Fremde.
»Wir wollen Grammophon spielen«, schlug Marion vor; sie hatte ihre Hand immer noch auf dem Arm des Freundes. »Die schönen Negerplatten, die wir neulich gehört haben. – Es ist so reizend bei dir, Marcel. Wenn es jetzt noch Musik gibt, werden wir beinah glücklich sein.« – –
Marcel zu Marion: »Du bist zu geschäftig. Für mich hast du niemals Zeit. Ich bin nicht zufrieden mit dir.« – Sie bat ihn: »Sage das nicht! Es tut mir weh, wenn du so etwas sagst oder glaubst. Ich denke immer an dich. Die Wahrheit ist, daß zuviel an mich herantritt. Du kannst dir nicht vorstellen, mit was für abenteuerlichen Figuren und Problemen einen diese Emigration in Berührung bringt.«
»Und deine eigenen Pläne?« wollte er wissen. »Die Tournee, die du vorhast?« Es war ihm bekannt, daß sie von ihrem Plan, eine Theater-Truppe zu organisieren, endgültig abgekommen war und nun für sich allein etwas vorbereitete. Indessen hatte er keine deutliche Vorstellung davon, um was es sich handeln mochte. Sie erklärte ihm: »Sei still! Ich bin abergläubisch. Von Projekten sprechen, bringt Pech.«
»Du siehst müde aus«, sagte er. Aber der Blick, mit dem er sie umfing, enthielt mehr Bewunderung als Mitleid. »Du bist auch noch magerer geworden.«
Ihr kurzes, kräftig geformtes Gesicht mit dem breiten, gefährlich lustigen Mund und den eindringlich schönen Katzenaugen, wirkte sowohl angegriffen als auch gespannt. Manchmal zeigte es den Ausdruck einer beinah wilden, aggressiven Entschlossenheit; zuweilen aber, wenn Marion sich unbeobachtet glaubte, erschlaffte es, und der Blick wurde starr.
»Du solltest für ein paar Tage mit mir ans Meer gehen«, schlug Marcel ihr vor. Sie machte Einwände: »Vielleicht – nächste Woche oder übernächste . . . Vorläufig habe ich hier zu tun. Heute nachmittag, zum Beispiel, 124 muß ich Ilse Ill einem französischen Revue-Direktor vorstellen, den ich noch aus guten alten Tagen kenne. Erinnerst du dich an Ilse Ill? Eine unglückselige Person! Das Überraschende an ihr ist, daß sie etwas Talent hat, man sollte es nicht für möglich halten. Übrigens war sie mir immer gräßlich. Es ist ja sonderbar, für was für Leute man sich jetzt einsetzen muß. Wählerisch darf man nicht mehr sein . . .«
Sie bemühte sich nicht nur für die literarische Chansonette – die schon ganz heruntergekommen und verhungert war –, sondern auch für ein Dutzend anderer. Gelegentlich assistierte sie der Proskauer bei der übermäßig anwachsenden Arbeit, die der Betrieb im Comité mit sich brachte. Mit Hummler zusammen – der ihr zäh und geduldig den Hof machte – kümmerte sie sich um die politische Agitation. Es machte ihr Freude, bei der Abfassung von Manifesten und Broschüren behilflich zu sein, die dann, als Reklame-Heftchen für Zahnpasta oder Korsetts schlau zurechtgemacht, den illegalen Weg nach Deutschland fanden.
Seltsame Typen meldeten sich bei Marion von Kammer, deren Aktivität und Hilfsbereitschaft man kannte. Eines Morgens klopfte es an der Türe ihres Hotelzimmers. Im Halbdunkel des Korridors stand eine große, hagere Frau, sie war nicht ganz jung; Marion taxierte: fünfundvierzig oder fünfzig Jahre alt. ›Mein Gott, sie will mir etwas verkaufen‹, dachte Marion, denn die Dame trug ein kleines gelbes Handköfferchen. ›Und ich habe doch gar kein Geld . . .‹ Sie bemühte sich, ein möglichst freundliches Gesicht zu machen, als sie sagte: »Guten Morgen. Kommen Sie herein.«
Die hagere Dame erwiderte den Gruß nicht. Während sie eintrat, blickte sie sich scheu und hastig um, als fürchtete sie, es könnte ihr jemand folgen. »Danke schön«, sagte sie etwas sinnlos, und schauerte zusammen wie jemand, den ein kalter Luftzug berührt. »Setzen Sie sich doch!« sagte Marion, wobei sie die Besucherin einer schnellen, aber genauen Musterung unterzog. Sie hatte es sich angewöhnt, die Menschen, mit denen sie zu tun bekam, zunächst einmal gründlich anzuschauen.
Die Kleidungsstücke, welche die Frau trug, – schiefes kleines Hütchen, langer Regenmantel, hängende Strümpfe, ausgetretene Halbschuhe – schienen auf eine sonderbare Art entfärbt und verblichen, von einem völlig leichenhaften Grau –: noch nie, meinte Marion, hatte sie derart fahle Kleidungsstücke gesehen. Aschgrau wie Kappe und Mantel waren auch die drei grotesken Löckchen, die unter dem Hutrand hervor auf die Stirne hingen. Diese Stirne übrigens schien edel geformt und von einer fast kindlichen Glattheit; nicht einmal die lächerlichen, runden, steif gedrehten Löckchen konnten sie entstellen. Die unruhigen, kleinen und dunklen Augen lagen in schattig vertieften Höhlen. Von einer sehr langen, scharf profilierten Nase liefen gramvolle Furchen zu einem schmalen, verzerrten Mund.
»Fräulein Proskauer hat Ihnen also meine Adresse gegeben«, sagte Marion, da die Fremde, in starrer Haltung, mitten im Raum stehenblieb. »Aber warum setzen Sie sich denn nicht?« 125
Die Frau fuhr auf wie aus schweren Träumen; erschauerte wieder und ließ ein beängstigendes kleines Kichern hören. »Fräulein Proskauer, ganz recht«, sagte sie geschwind und fügte rätselhaft hinzu: »Eine sehr originelle Person . . . Sie hat mich auf die Idee gebracht, mit Lavendelwasser, Seife und komischen kleinen Schwämmen hausieren zu gehen . . . Äußerst originell . . .« In ihren Augen gab es ein kurzes, gehässiges Funkeln.
Marion fragte besorgt: »Sie verkaufen also Toiletteartikel?« Dabei berechnete sie: ›Ich besitze noch 30 Francs. Eine Tube Zahnpasta könnte ich ihr vielleicht abkaufen; das wird nicht mehr als 8 Francs kosten.‹
Statt Marions Frage zu beantworten, erklärte die Fremde, mit einer vornehm knappen Neigung ihres langen und schmalen Hauptes: »Mein Name ist Friederike Markus.« Den Oberkörper vorgebeugt, die aschfarbene Skeletthand an den Mund gelegt, fügte sie raunend hinzu: »Freunde nennen mich Frau Viola. Aber verraten Sie es Etzel nicht! Er kann es nicht ausstehen, wenn ich als ›Frau Viola‹ begrüßt werde – vielleicht weil Gabriel mich stets so angeredet hat: immer als Frau Viola, ganz konsequent, niemals anders.« Da sie mit mißtrauisch schrägem Blick Marions erstaunte Miene bemerkte, machte sie gereizt: »Nun ja, es könnte doch sein, daß Sie Etzel, meinen sogenannten Gatten, einmal irgendwo treffen. Er ist viel unterwegs, wird überall vorgelassen, und benutzt all seine Verbindungen, um gegen mich zu intrigieren.« – Marion dachte: ›Mein Gott, sie ist nicht ganz richtig im Kopf. Durch vieles Leiden ist sie völlig aus der Form gekommen und hat ihr inneres Gleichgewicht ganz verloren. Was fange ich mit ihr an?‹
Frau Viola, die kerzengrade, mit dem Köfferchen auf den aneinandergepreßten Knieen, im Stuhle saß, ließ ihre Stimme vernehmen, die scharf klirrte wie ein geborstenes Instrument: »Ehe wir zu den Geschäften übergehen, liebes Fräulein von Kammer, möchte ich mir doch noch die Frage erlauben: ›Kennen Sie Bernard Shaw?‹«
»Ich hatte nie das Vergnügen.« Marion war ziemlich erschrocken. »Ohne Frage, ein bedeutender Schriftsteller«, fügte sie hilflos hinzu.
»Der Ansicht bin ich auch einmal gewesen«, bemerkte Friederike Markus spitzig. »Aber wenn er wirklich so bedeutend ist –: warum hat er mir dann auf fünfzehn Briefe« – bei Nennung dieser Zahl hob Frau Viola drohend den langen Zeigefinger – »auf fünfzehn lange, mit meinem Herzblut geschriebene Konfessionen nicht geantwortet?!« – Marion meinte, der berühmte Ire dürfe vermutlich stark beschäftigt sein; daraufhin hatte Friederike nur ein unendlich höhnisch-hochmütiges Achselzucken. »Ich habe ihm meine Seele angeboten – mein Innerstes habe ich ihm enthüllt! Nicht nur daß ich mich bemühte, ihm die furchtbar harten und übrigens äußerst interessanten Umstände meines Lebens ausführlich auseinanderzusetzen –: ich habe ihn verschwenderisch beschenkt mit den Früchten meiner Erkenntnis; mit den durch unzählige Schmerzen erworbenen Reichtümern meines Geistes!« Plötzlich den Ausdruck ihres Gesichtes und der Stimme verändernd, den Oberkörper wieder vertraulich vorgeneigt, fuhr sie fort: 126 »Vorigen Monat hatte ich nämlich die Möglichkeit, so viele Briefe zu schreiben, wie mein Herz begehrte. Ich habe meine Armbanduhr versetzt und mir für den Erlös eine Schreibmaschine geliehen. Eine Schreibmaschine – denken Sie sich doch nur, ganz für mich alleine!« Sie kicherte wieder, diesmal klang es beinahe munter. »Etzel war um diese Zeit in relativ friedfertiger Laune. Alles traf sich sehr günstig, ich zog mich vier herrliche Wochen lang von den Geschäften zurück und widmete mich ganz meinen Briefen. – Und nun, diese Enttäuschung . . .« Sie sank trostlos in sich zusammen. »Diese schmähliche Niederlage! – Wann werde ich mir jemals wieder eine Schreibmaschine leisten können? Und Etzel – ach, wenn Sie ahnten, wie er jeden meiner Schritte belauert!«
Ehe es zum Verkauf der Zahnpasta kam, mußte Marion sich noch manches über Frau Violas Vergangenheit anhören. »In Berlin hatte ich Glanz um mich!« rief sie stolz. »Ich war Kunstsammlerin, ich liebte das Schöne und erwarb es in bedeutenden Mengen; ich besaß Gemälde und Tiere aus Porzellan, und bestickten Samt!« Jedes Glück aber war aus ihrem Leben gewichen, seitdem Gabriel sich zurückgezogen hatte –: »Gabriel, mein Erzengel!« In Friederikens schattigen Augenhöhlen glimmten Lichter. »Gabriel, der einzige, der mich verstand; der all des innigen Gefühls, das ich zu bieten habe, würdig gewesen ist! Ach er ging . . . er ging . . . : da bog er um die Ecke!« rief sie fassungslos, als wäre der liebe Jüngling eben erst entwichen und hätte gerade dieses Zimmer verlassen. Ihre Hände krampften sich um den Koffer, der die Pasten, Crèmes und Wohlgerüche enthielt, mit denen die Unglücksfrau hausieren ging. »Warum ließ Gabriel Frau Viola?« fragte sie mit gräßlicher Hartnäckigkeit – während Marion nicht mehr wußte, wohin sie schauen sollte vor Scham und Schrecken.
Für die Zahnpasta verlangte Frau Markus 11 Francs und 50 Centimes: »Es kommt Sie mindestens um 12 Prozent billiger als in jedem Laden«, erklärte sie, plötzlich geschäftsmäßig. Nachdem der Handel abgeschlossen war, bat Marion die Besucherin milde, nun zu gehen. Zum Abschied sagte Friederike – sehr leise, und während eine helle, flaumige Röte über ihr hageres, zerwühltes Gesicht lief –: »Ich möchte Sie bald wieder einmal besuchen dürfen, liebes Fräulein von Kammer! Sie sind doch ein Mensch. Meistens begegnet man nur Lemuren . . .« Noch einmal erschauerte sie; der eisige Lufthauch hatte sie wohl wieder berührt. Schon im Korridor bat sie noch: »Und bitte, Etzel gegenüber – völlige Diskretion: über alles!« Dabei legte sie, lustspielhaft neckisch, den langen Zeigefinger an die verzerrten Lippen.
Friederike Markus verließ das Hotel; steif und närrisch affektiert stolzierend, schritt sie die rue Jacob hinunter und bog in die rue St. Benoit ein, um den Boulevard St. Germain zu erreichen. Das gefüllte Köfferchen, das sie zu tragen hatte, war nicht ganz leicht. Ihre eine Schulter wurde ein wenig nach oben gezogen, während die andere hinabhing. Friederikens Haltung war sowohl steif als schief – und da die einsam Wandelnde auch noch im Selbstgespräch die Lippen bewegte und zuweilen stehenblieb, 127 um mißtrauische Blicke hinter sich zu werfen, war der Eindruck, den sie machte, ein so überraschender, daß mancher Passant mitleidig-amüsiert auf sie schaute. Sie bemerkte es kaum; denn sie war durchaus beschäftigt mit den eigenen Gedanken, die sich teils sorgenvoll-gequält ans Nächste, kümmerlich Alltägliche hielten, teils aber abglitten, davonhuschten, Reißaus nahmen, um sich in jenen Gegenden niederzulassen, wo der Jüngling, Gabriel genannt, seinen strahlenden Aufenthalt hatte. – ›Heute Vormittag muß ich noch mindestens drei Visiten machen,‹ rechnete Frau Viola. ›Zuerst gehe ich wohl zu dieser Schweizer Dame im Hôtel des Saints Pères. Vorher will ich aber noch eine Tasse Kaffee trinken . . .‹
Sie ließ sich in einem schmutzigen kleinen Bistro nieder, das »Au Rendezvous des Chauffeurs« hieß. – Wenn Friederike eine Tischplatte vor sich sah, wurde sie immer gleich von der unwiderstehlich starken Lust ergriffen, zu schreiben. Es war eine Art von Trance, in die sie verfiel, wenn sie die Feder ins Tintenfaß tauchte – und es entstanden die endlos langen, konfusen, übrigens fast unleserlichen Briefe, die sie an berühmte und ihr meistens fremde Personen adressierte. Dichtern und Professoren, Malern und Schauspielerinnen, Dirigenten und Politikern ihr gepeinigtes Herz auszuschütten, war zum einzigen Vergnügen geworden, das sie sich gönnte. Solche Liebhaberei bedeutete für sie einen Luxus, und zwar einen recht leichtsinnigen, üppig unstatthaften. Das Briefporto spielte in ihrem Etat eine beängstigende Rolle, und wenn es sich gar um Doppelbriefe handelte, – was häufig vorkam –, und sie obendrein noch dem inneren Drang nachgeben mußte, das schwere Schreiben rekommandiert und express zu senden, so hieß es tagelang auf eine warme Mahlzeit verzichten und sich mit altem Weißbrot und lauem Tee begnügen, damit nur all die fremden Berühmtheiten aus ihrer Morgenpost erführen, wie melancholisch und interessant das innere Leben der Frau Viola beschaffen war.
Heute schrieb sie an Frau Tilla Tibori – was sie sich schon lange vorgenommen hatte; denn diese Schauspielerin war ihr eine der liebsten in Berlin gewesen. »Verehrte Frau!« Friederikens Feder eilte knirschend übers Papier. »Auch Sie hat unser gemeinsames Unglück in ein fremdes, unwirtliches Land verschlagen.« (Die Markus hatte zufällig Tillas Züricher Adresse durch gemeinsame Bekannte in Erfahrung gebracht.) »Hören Sie die Klage und das Bekenntnis einer Leidensgenossin . . .« An dieser Stelle stutzte sie plötzlich, als hätte eine Stimme sie angerufen. Sie hob ruckhaft den Kopf. Während ihre Blicke irr ins Leere glitten, sprach sie mit einer kleinen, zirpend hohen Stimme: »Ja – Gabriel – wo bist du? Ich kann dich hören! Aber sprich doch bitte bitte etwas deutlicher, damit ich dich besser verstehe!«
Der Kellner beobachtete sie, erstaunt und ziemlich angewidert. –
Während Frau Viola das armselige Briefpapier »Au Rendezvous des Chauffeurs« mit Anklagen und Beschwörungen, Ausbrüchen des Stolzes und des grenzenlosen Jammers füllte, telephonierte Marion mit der Proskauer, um einige Tatsachen über die Unglückliche zu erfahren. »Was ist 128 das für eine Frau?« fragte Marion. »Sie hat mir angekündigt, daß sie mich wieder besuchen wird . . .«
Dora wußte sofort Bescheid. »Natürlich erinnere ich mich an Friederike Markus, die vergißt man nicht, sie hat uns ja genug Sorgen gemacht. Eine Zeitlang mußten wir sie unterstützen, bis wir ihr diese Parfümerie-Vertretung verschafften. Es sind noch keine Klagen über sie gekommen; ihre Arbeit scheint sie korrekt zu erledigen. Trotzdem bin ich pessimistisch, was ihre Zukunft betrifft. Ihr Geisteszustand wird immer bedenklicher.«
»Ist denn alles erfunden, was sie erzählt?« wollte Marion wissen. »Die ganze Geschichte von ihrem satanischen Gemahl Etzel und dem schönen Jüngling Gabriel?«
»Alles erfunden«, bestätigte die Proskauer, »alles erträumt. In Wirklichkeit hat sie niemanden – und das ist wohl so schlimm, daß sie sich einen Gatten ausdenkt, der sie quält, und einen Jüngling, der sie verlassen hat. Von den Dingen, die in ihrem Leben wirklich passiert sind, spricht sie nie. Sie hatte nämlich tatsächlich einen Mann – du wirst seinen Namen wahrscheinlich gehört haben: Doktor Max Markus, Rechtsanwalt. Er war der juristische Vertreter einer linkspolitischen Gruppe in Berlin, und dann kam er ins Konzentrationslager, und dort soll er sich umgebracht haben.« Dora Proskauer schwieg; am anderen Ende der Leitung ließ Marion einen kleinen Laut der Bestürztheit und der Trauer hören.
Marions Tage in Paris waren erfüllt von Sorge um die eigene Zukunft und von Anstrengungen, die sie für die Zukunft anderer unternahm. Nicht alles, was man versuchte und anzettelte, wollte geraten. Ilse Ill, zum Beispiel, kam verzerrt vor Enttäuschung von ihrem Rendezvous mit dem Theater-Direktor zurück. »Er hat mich abgelehnt!« zischte die Kabarettistin. »So eine Gemeinheit! – Und wissen Sie, was er zu mir gesagt hat?! Er hat mir ins Gesicht gesagt: Fräulein, Sie sind zu häßlich! – Später hat er mir aber versichert: Natürlich, Sie haben Talent. – Nun bitte ich Sie, Marion, was soll das bedeuten?! Wenn ich Talent habe, dann habe ich doch ein Gesicht. Und wenn ich ein Gesicht habe, dann bin ich doch nicht häßlich!!«
»Ich kenne noch einen Pariser Theater-Direktor«, sagte Marion müde. »Mit dem werde ich Sie zusammenbringen, Fräulein Ill.«
Und Ilse – die vom Ehrgeiz gejuckt wurde wie von einem giftigen kleinen Ausschlag – wiederholte: »Er hat mir gesagt: ›Vous êtes trop laide, Mademoiselle!‹ Ist das zu fassen? Ist das vorzustellen?« . . .
. . . »Du mußt mit mir ans Meer!« Dieses Mal bestand Marcel darauf.
Sie fuhren nach einem kleinen Ort in der Nähe von Deauville. Der Sommer ging zu Ende; die Winde waren heftiger und rauher. Das dunkle, bewegte Wasser ließ erkennen: es ist Herbst geworden. – »Schluß mit dem Sommer!« Marcel rief es mit grimmiger Vergnügtheit aus – als wäre 129 es jedenfalls gut, daß wieder eine Jahreszeit, irgend ein Lebensabschnitt erledigt und endgültig vorüber war. – »Nie wieder Sommer 1933!« Marion hielt das Gesicht und die schimmernde Mähne dem Sturm hin. »Es war ein infernalischer Sommer. Diese heißen Wochen in Paris vergesse ich nie. Der Asphalt auf den Straßen war ja schon ganz weich geworden; die Schuhsohlen klebten einem fest . . .« –
Sie machten weite Strand-Spaziergänge, oder sie saßen, in ihre Mäntel gehüllt, auf einer Terrasse – fröstelnd, aber froh.
Nachts, wenn der Sturm um das kleine Hotel tobte, veränderte sich alles um sie herum ins Wilde und Phantastische. Sie wußten nicht mehr, daß es ein ziemlich kleinbürgerlicher Erholungsort war, den es da vor ihren Fenstern gab. Das Zimmer, in dem sie einander liebten, schien in der Luft zu hängen, eine schwebende Gondel.
Marion taumelte. Die lange Promenade am Meer und der große Wind, dem sie ihr Gesicht dargeboten hatte, waren wohl ein wenig viel für sie gewesen. Sie klammerte sich an Marcel, als ob sie stürzen müßte, wenn sie ihn ließe.
»Wie mager du bist!« sagte er noch einmal; er schien sich über die Schmalheit ihres Körpers nicht genug erstaunen zu können, obwohl er selber dünn war. »Nur Haut und Knochen!« Dies konstatierte er nicht ohne eine gewisse Strenge. Aber wie viel gerührte Zärtlichkeit klang in seinem Tadel! – »Komm zu Bett!« Es war Marion, die ihn bat. »Mir ist schwindlig.«
Das Zimmer schwankte ihr unter den Füßen. Nun schien es ein Schiff auf hoher See zu sein – oder vielleicht nur ein kleiner Nachen. Wohin trug er sie? Gab es Ufer, jenseits dieser Gewässer, die sich unermeßlich breiteten? Und wenn es Ufer gab – hatte man Kraft genug, um sie zu erreichen?
»J'ai peur – ah, j'ai peur . . .« Marion erschrak: dies war Marcels flüsternde Stimme; sie aber hatte genau dasselbe sagen wollen – freilich auf deutsch.
»Wovor fürchtest du dich?« – Er beantwortete ihre Frage mit einer Stimme, die plötzlich rauh war und etwas keuchte. »Gefahren – Gefahren überall . . . Oh, wir sind schon verloren! . . . Welche Schuld haben wir auf uns geladen, daß man uns zu solcher Strafe verdammt? . . . Ach, Marion – Marion . . .« Seine Worte vergingen an ihrem Hals. Vielleicht weinte er.
»Wir werden schon fertig – mit allem!« raunte sie zuversichtlich. Aber auch ihre Augen hatten den entsetzten Blick, als wäre ein Abgrund jäh vor ihnen aufgesprungen.
Aus dem Abgrund stiegen Feuerbrände, auch Qualm kam in dicken Schwaden, und Felsbrocken wurden emporgeschleudert. Es war der Krater eines Vulkans.
Hüte dich, Marion! Wage dich nicht gar zu sehr in die Nähe des Schlundes! Wenn das Feuer dein schönes Haar erfaßt, bist du verloren! 130 Wenn einer der emporgeschleuderten Felsbrocken deine Stirne streift, bist du hin! Auch könnte es sein, daß du am Qualm elend ersticken mußt.
Hütet euch, Marion und Marcel! Furchtbar ist der Vulkan. Das Feuer kennt kein Erbarmen. Ihr verbrennt, wenn ihr nicht sehr schlau und behutsam seid. Warum flieht ihr nicht? Oder wollt ihr verbrennen? Seid ihr versessen darauf, eure armen Leben zu opfern? – Aber ihr habt nur diese! Bewahrt euch! Wenn auch ihr im allgemeinen Brand ersticken solltet –: niemand würde sich darum kümmern, niemand dankte es euch, keine Träne fiele über euren Untergang. Ruhmlos – ruhmlos, Marion und Marcel, würdet ihr hingehen!
Noch einmal Marcels keuchende Flüsterstimme: »Gefahren, wohin ich schaue . . . Kampf – Kampf ohne Ende . . . Ich sehe Mord –: Mord und Tränen . . . Voici le temps des assassins! Die mörderische Zeit ist angebrochen . . . Wohin retten wir uns? Wohin fliehen wir mit unserer Liebe? Wohin, Marion, wohin?«
Der Griff seiner Hände, der von verzweifelter Heftigkeit war, lockert sich endlich. Er schmiegt sich an sie. Nebeneinander ruhen ihre erschöpften Häupter. Ihre Augen waren geblendet von Feuerbränden, die den Horizont nicht erhellen, sondern purpurn verfinstern. Da der eine nun die atmende Nähe des anderen spürt, dürfen sie endlich damit aufhören, ins schauerliche Gewoge der Flammen zu schauen – der Flammen aus dem Vulkan. Sie schließen die Augen. Mit dem Seufzen, das alle Liebenden haben – und das nach Qualen klingt, während es doch so viel mehr ausdrückt als nur die Schmerzen – vertrauen sie sich den Umarmungen an, und ihr letzter Trost sind die Küsse. 131