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Professor Benjamin Abel war dreiundvierzig Jahre alt und gehörte zu den angesehensten jüngeren Literarhistorikern der deutschen Universität. Er war Privatdozent in Heidelberg gewesen und hatte im Jahre 1929 einen Ruf als Ordentlicher Professor an die Universität Bonn erhalten, was für einen jüdischen Gelehrten, und gerade für einen Germanisten nichtarischer Abkunft, damals schon eine besondere Ehrung bedeutete; denn der Antisemitismus an den deutschen Hochschulen war penetrant, noch ehe er zur Staatsreligion erhoben wurde.
In Bonn hatte sich Professor Abel großer Beliebtheit bei den Studenten erfreut; sein Kolleg über die deutsche Romantik war stärker frequentiert worden als die Vorlesungen über »Friedrich Schiller und die nationale Idee«, die sein Kollege, der alte Geheimrat von Besenkolb, im gleichen Semester hielt. Geheimrat Besenkolb war früher Alldeutscher, dann Deutschnationaler gewesen; am Tage nach dem ersten bedeutenden Wahlsieg der Nazis erschien er vor seinem Auditorium mit einem kleinen, jedoch nicht zu übersehenden Hakenkreuz im Knopfloch seines Jackettaufschlages.
Besenkolb, ein aufrechter Greis mit bösen, stahlblauen Augen, weißem Knebelbart und stark hervortretenden bläulichen Adern auf den Handrücken und auf der mehrfach gebuckelten, hohen, kalkweißen Stirn – Geheimer Rat Maximilian Freiherr von Besenkolb – hatte eine vernichtende Art, mit knapp andeutendem Kopfnicken den etwas ironisch-devoten Gruß seines Kollegen Abel zu erwidern. Seit dem Herbst 1930 erschien der Geheimrat in keiner Gesellschaft mehr, wenn die Hausfrau ihm nicht vorher die Zusicherung gegeben hatte, daß Professor Abel nicht zugegen sein würde.
Als die Nazis zur Herrschaft kamen, war Professor Abel einer der ersten unter den Dozenten der Universität Bonn, die ihrer Stellung enthoben wurden. Man ersparte ihm die Überlegung, ob er seinerseits, sofort und freiwillig, um seinen Abschied ersuchen oder ob er abwarten sollte, bis man ihn vor die Türe setzte. Wer weiß, wie Herr Abel – eine eher weiche, sensitiv-zurückhaltende, keineswegs heroische Natur – sich angesichts solcher Alternative entschieden hätte. Er mußte gehen, man ließ ihm keine Wahl; Geheimrat von Besenkolb, eifersüchtig wegen des erfolgreichen Romantiker-Kollegs und von germanischer Unversöhnlichkeit durch und durch, hatte höchstpersönlich die Entlassung des fatalen Konkurrenten beim Kultusministerium sofort beantragt. Es entsprach der ritterlichen Art des deutschen Forschers – zu dessen berühmtesten Arbeiten eine umfängliche Analyse des Nibelungen-Liedes gehörte – dem gefallenen, für den Augenblick total erledigten Feinde auch noch einen Fußtritt zu versetzen. Dieser bestand in einem langen und ungeheuer beleidigenden Feuilleton, das über den weggeschickten Professor in einem 87 der führenden rheinischen Nazi-Blätter erschien und überschrieben war: »Schluß mit der Schändung deutschen Kulturgutes!« Der enorm gehässige Aufsatz war mit Initialen gezeichnet, und man nahm allgemein an, daß er von Geheimrat Besenkolb verfaßt, mindestens inspiriert worden war: er hatte alle Charakteristika seines zugleich markigen und tückischen Stils.
Benjamin Abel war sehr ratlos und betrübt. Er wußte gar nicht, wohin er sich nun wenden und was aus ihm werden sollte. Sowohl die Würde als der Selbsterhaltungstrieb verboten es ihm, noch länger in Deutschland zu leben, das lag auf der Hand. Andererseits war ihm eine Existenz im Ausland fast unvorstellbar. Abgesehen von den obligaten Italienreisen der Studentenzeit, von ein paar Touren in den Schweizer Bergen und etlichen Besuchen in Wien und Paris, die vor allem den Wiener Breughels und den Schätzen des Louvre gegolten hatten, war er niemals außerhalb der Reichsgrenzen gewesen. Für fremde Sprachen war er keineswegs besonders begabt. Er kannte sich selbst als gehemmt und belastet mit einer fatalen Neigung zu Minderwertigkeitskomplexen, die mit Erfolg zu bekämpfen ihm nicht immer gelang. Es fiel ihm schwer, sich an Menschen anzuschließen, die meisten langweilten ihn, und wenn er seinerseits zu einer Person sich hingezogen fühlte – sei es aus welchen Gründen und unter was für Umständen auch immer – plagte ihn der Argwohn, er könnte lästig fallen oder den Eindruck eines Aufdringlichen machen. Seine alte Mutter lebte in Worms – der Geburtsstadt Benjamins –, wo er sie jedes Vierteljahr mindestens einmal zu besuchen pflegte; übrigens verbrachte er seine Sommerferien regelmäßig mit der alten Frau in einem kleinen deutschen Kurort. Von der Mutter würde er sich trennen müssen, wenn er Deutschland verließ; denn natürlich war nicht daran zu denken, daß die beinahe Siebzigjährige das Wormser Haus aufgab, in dem sie an die fünfzig Jahre verbracht hatte, und wo ihr Gatte, Benjamins Vater, gestorben war. Auch die Freundin würde Abel verlieren; nun bereute er, daß er sich, vor zehn Jahren, nicht dazu entschlossen hatte, sie zu heiraten. »Ich eigne mich ganz und gar nicht zum Ehemann«, hatte er damals gesagt, und Fräulein Annette Lehmann eröffnete resigniert eine kleine Antiquitätenhandlung in Köln, die übrigens recht gut florierte. Obwohl Benjamin, aus Ängstlichkeit und eigensinnigem Spleen, das liebe Fräulein Annette nicht zur Frau Professor gemacht hatte, waren die beiden während all der Jahre ein Paar und wurden von ihrem Bekanntenkreis durchaus wie Eheleute behandelt.
Wie viele gute Dinge des Lebens würde man in der Fremde vermissen: die gemütlichen Kammermusik-Abende zum Beispiel, die Benjamin in seinem Häuschen zu Marienburg, zwischen Bonn und Köln, gepflegt hatte. Professor Abel leistete Achtbares auf dem Cello, und er hatte einen Freund von der medizinischen Fakultät, der als wackerer Pianist gelten durfte. Zu diesen beiden fand sich dann wohl noch ein musikbeflissener Kollege oder Student, und so war denn in der Marienburger Miniatur-Villa manch Beethoven- oder Brahms-Quartett, nicht eben meisterlich, aber doch mit 88 innigem Verständnis und halbwegs hinreichender Technik exekutiert worden. Fräulein Annette hatte Tee und Brötchen gereicht, und in den Lehnstühlen hatten die Professorengattinnen mit Handarbeiten gesessen und sich Universitätsklatsch erzählt, wenn Schubert oder Bach verklungen war. Wie traulich war dies gewesen! Nun, da es so ganz vorüber sein sollte, in der Erinnerung, nahm es sich geradezu zauberhaft traulich aus. Übrigens gehörte der Klavierkünstler von der medizinischen Fakultät derselben Paria-Rasse an wie Abel. Am 30. Januar 1933 teilte er Benjamin mit, daß er nach England zu verziehen gedenke.
Nein, nach England wollte Benjamin doch wohl nicht; ihm schien, in einer so ungeheuer großen und fremden Stadt wie London würde er gar nicht atmen können. Nach langen Beratungen, die er mit sich selbst und mit Annette Lehmann anstellte, entschied er sich für die Niederlande. »Dorthin wolltest du doch ohnedies immer einmal«, erinnerte ihn das intelligente Fräulein. Der Professor nickte wehmütig: »Ja, um die Rembrandts zu sehen.« »Nun, und jetzt wirst du Zeit haben, dir die Rembrandts und die Franz Hals' und die Jan Steens einmal gründlich anzuschauen.« Annette versuchte eine Munterkeit zu zeigen, deren Künstlichkeit der gequälte Blick ihrer Augen nur zu deutlich verriet. Die Sache mit den Niederlanden leuchtete dem Professor halbwegs ein. Er hatte sich viel mit holländischer und flämischer Literatur beschäftigt und eine ausführliche Studie über den »Ulenspiegel« publiziert. »Von Holland aus wird man dann weiter sehen«, sprach die wackere Freundin ihm Mut zu. »Es ist sicher der geeignete Platz, um sich ans Ausland, an die Fremde zu gewöhnen. Die Niederlande sind nicht mehr deutsches Sprachgebiet und gehören doch noch zum kulturellen deutschen Raum. Man befindet sich dort im Bannkreis unserer großen Überlieferungen. Ich hatte einmal drei sehr schöne und anregende Wochen mit meiner armen Mama im Haag und in Amsterdam.«
Von Annettens schönen und anregenden Wochen mit ihrer armen Mama im Haag und in Amsterdam hatte Benjamin schon früher gehört. Aber wie geschickt sie zu reden verstand! Ganz entschieden: eine vorzügliche Frau – das bewies sich in so ernsten Situationen, wie Abels gegenwärtige eine war. Freilich, die Wendung vom »kulturellen deutschen Raum« hatte ein wenig verdächtig geklungen, etwas nach der üblen neuen Terminologie. Sollte die brave Annette schon ein klein bißchen angesteckt sein? Ach, wie würde sie sich entwickeln, wenn man sie den vehementen und unangenehmen Einflüssen überließ, die sich nun hierzulande der Menschen wie eine Seuche bemächtigten und sie boshaft verdarben . . .
»Sicher«, bestätigte Benjamin, etwas müde. »Du hast sicherlich recht.«
»Und vielleicht«, rief Fräulein Lehmann fast flehend, »vielleicht findest du gar eine Möglichkeit zur Beschäftigung in Holland selbst und kannst auf die Dauer dort bleiben – das wäre doch wundervoll. Ich würde dich dann manchmal besuchen . . .« Es lag ihr viel daran, ihn davon zu überzeugen, daß er in Holland glänzend aufgehoben 89 sein würde und daß dort nur das Beste ihn erwarte; denn er mußte doch weg, mußte doch Deutschland schleunigst verlassen, es war ja seiner selbst unwürdig, wenn er blieb, und außerdem – diesen Gedanken wagte Fräulein Lehmann kaum sich selber zuzugeben – kompromittierte seine Anwesenheit auch sie, Annette. Sie wollte es ihm so gerne ersparen, daß sie sich von ihm zurückzog, sich nicht mehr öffentlich mit ihm zeigte. Aber andererseits: sie stand alleine in der Welt, sie konnte es nicht riskieren, aufzufallen, Skandal zu erregen – und skandalös war es doch nun einmal, wenn heute eine »Arierin« – Fräulein Lehmann war »Arierin« – mit einem »Nichtarier« Umgang hatte. Seitdem Geheimrat Besenkolbs gräßlicher Artikel erschienen war, wurde Benjamin Abel von allen, die in Bonn auf sich hielten, peinlich gemieden. Hatte Annette denn Lust, auch über sich selber noch einen Artikel solcher Art zu lesen? Die Nazi-Zeitungen waren wachsam, wo es um »Rassenschande« ging. Und wie schnell konnten die Fensterscheiben an einem kleinen Antiquitätenladen zerschmissen werden . . .
»Ich würde dich jedes Jahr ein paarmal besuchen können«, versicherte Annette Lehmann noch einmal. Sie gab sich Mühe, dem alten Freund den Abschied so erträglich wie möglich zu machen.
Also die Niederlande –: Abel versuchte, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Die Niederlande gehören noch zum kulturellen deutschen Raum. Man will uns in Deutschland nicht mehr – grübelte Benjamin –; aber wir klammern uns an den »deutschen Kulturraum« . . .
Der Entschluß ist gefaßt, er wird schnell in die Tat umgesetzt. Eilige Auflösung des Marienburger Haushaltes: es findet sich ein junges Ehepaar, welches die kleine Villa, samt der Einrichtung, sofort zu übernehmen bereit ist. Hastiger und ungünstiger Verkauf der Bibliothek; Abel entschließt sich, nur zwei Kisten – ein paar hundert ihm besonders lieber Bände – mit ins Exil zu nehmen. (Ja, es ist das Exil: dies wird ihm von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde klarer: er spürt es mit immer grausamerer Deutlichkeit, während er sich losmacht von allem, was nun so lange sein Leben gewesen ist.)
Annette kann ihm, bei so viel komplizierten und quälenden Erledigungen, kaum behilflich sein: Ein dummer Zufall, sie muß gerade jetzt nach Frankfurt reisen, »ein paar wichtige Auktionen, weißt du; so viele reiche Leute ziehen doch jetzt weg von Deutschland, und da kommen Dinge auf den Markt, die sonst gar nicht zu kriegen gewesen sind . . .« Ja, natürlich, viele reiche Leute ziehen weg von Deutschland, auch arme übrigens – warum ziehen sie eigentlich alle weg? Der Kunstmarkt jedenfalls profitiert davon; bald werden sich auch neue Käufer finden für all die schönen Sachen, an die man sonst nicht herangekommen ist, eine neue Käuferschicht ist im Begriff sich zu bilden, Annette hat wohl alle Hände voll zu tun, es ist ja schade, daß sie gerade während der letzten Wochen, die Benjamin noch in Deutschland hat, auf Reisen sein muß . . .
Abschiedsbesuch bei der Mutter in Worms; Tränen, Umarmungen ohne 90 Ende, »Du kommst bald mal zu mir nach Holland, Mama, die Badeorte da drüben sollen ja wundervoll sein, Scheveningen zum Beispiel, und übrigens, wie lange wird diese Nazi-Herrlichkeit schon dauern, alle sagen, Hugenberg und seine Leute werden Hitler davonjagen . . .« »Sicher, mein Liebling, sicher, aber ob ich das noch erleben werde, ich bin doch schon alt, und in Scheveningen war ich mal mit deinem Vater, ein prächtiger Ort, feine Hotels, aber ich vertrage den starken Wind an der Nordsee nicht, er macht mir Atembeschwerden, Kopfschmerzen auch, hast du denn alle deine warmen Sachen eingepackt, in Holland mußt du vorsichtig sein mit dem Essen, sie haben dort eine schwere Küche, der Aal ist delikat, aber unverdaulich, du weißt doch, dein empfindlicher Magen.«
Noch einmal Bonn; nun wohnt Professor Abel schon im Hotel, sein Marienburger Haus wird für das junge Ehepaar zurechtgemacht. Annette ist aus Frankfurt zurückgekommen; sie erscheint spät abends, merkwürdigerweise trägt sie einen ziemlich dichten Schleier vorm Gesicht, sie hat doch früher nie einen Schleier getragen, und nun gleich einen so fest gewebten, hinter dem man ihr Gesicht kaum erkennt. Sie berichtet: in Frankfurt hat sie einige seltene und kostbare Dinge erstanden, ein Stück gotischen Samt, wundervoll und beinahe geschenkt, ich kann tüchtig Geld dran verdienen, wenn ich den richtigen Käufer finde, deutsche Gotik wird vermutlich sehr im Preise steigen, das hängt mit allgemeinen Zeitströmungen zusammen. Leb wohl, meine Liebe! Zehn Jahre unseres Lebens sind wir beieinander gewesen, vergiß das doch bitte nie! Vergiß, zum Beispiel, bitte nie die so sehr gemütlichen Kammermusik-Abende in Marienburg! Adieu, Geliebte! Was wäre denn nun, wenn ich dich geheiratet hätte, damals, als wir beide jung gewesen sind? Sähe dann alles besser aus, oder noch komplizierter? Leb wohl! »Holland ist ja so nahe!« sagt Annette – wie vernünftig Annette ist. Ja, Holland ist nah, eine lächerlich geringe Entfernung. Und trotzdem, was für eine große, einschneidende und bedeutsame Trennung. Laß mich noch einmal dein Gesicht küssen, du bist immer noch schön, ich finde dich immer noch schön, wir sind doch ein Paar gewesen, Gott sei Dank, daß du nun endlich diesen störenden Schleier abgenommen hast . . .
Professor Abel kannte in Amsterdam keinen Menschen. Annette Lehmann hatte ihm einen Brief an einen großen Kunsthändler mitgegeben; aber Benjamin entschloß sich nicht dazu, von dem Empfehlungsschreiben Gebrauch zu machen. ›Die Leute werden wahrscheinlich mehr als ihnen lieb ist von deutschen Emigranten behelligt‹; dieses war des Professors entmutigende Überlegung. Der gleiche Gedanke bestimmte ihn dazu, bei einem Kollegen in Leiden, den er aus Heidelberg, und bei einem anderen im Haag, den er aus Bonn kannte, sich vorläufig nicht zu melden.
Benjamin Abel war ganz allein.
Er ging herum wie in einem schlimmen Traum, und was er dachte, war immer nur: Was soll ich hier? Warum bin ich eigentlich in dieser fremden Stadt? Leider bin ich doch gar kein Holländer – warum gehe ich also in den Straßen von Amsterdam spazieren? Freilich, freilich – erinnerte er 91 sich, wirr und betrübt – man hat mich aus Deutschland hinausgeschmissen, ich durfte dort nicht mehr bleiben, Geheimrat von Besenkolb hat mich als einen »geistigen Vaterlandsverräter«, als einen »Schädling an der deutschen Kultur« gebrandmarkt . . .
Er saß im Freien, vor einem Café am Leidsche Plein. Es war angenehm, draußen zu sitzen; nach einem Junitag, der hochsommerlich heiß gewesen war, brachte die abendliche Stunde willkommene Kühle. Von seinem Platz aus konnte Abel sehen, wie vor der »Stadsschouwburg« die schweren Automobile hielten und wie die Damen in Abendmänteln, die Herren mit den gestärkten weißen Hemdbrüsten sich am Portal drängten. Es gab eine festliche Opernaufführung, Mozart, Abel hatte Lust gehabt, hinzugehen. Es wäre hübsch gewesen, den »Figaro« einmal wieder zu hören, warum habe ich mir eigentlich kein Billet besorgt – dachte er. Aber dann: Nein, ich muß sparen; Gala-Abende in der Oper zu frequentieren, das entspricht keineswegs meinen Verhältnissen. – Es lag ihm daran, sich selber glauben zu machen, daß er nur aus Gründen der Ökonomie auf den Mozart verzichtet habe. In Wirklichkeit hinderten ihn andere Gefühle an einem Theaterbesuch, wie an jeder geselligen Veranstaltung. Er wagte sich nicht unter Menschen. Die Idee, sich unter festlich geputzten Leuten bewegen zu müssen, war ihm unerträglich. ›Ich passe nicht in diese Gesellschaft, die reich, fröhlich und sorglos ist‹, empfand er gramvoll. ›Ich bin gezeichnet, ich trage das Mal. Man hat mich nicht haben wollen in meiner Heimat, hat mich zum Paria degradiert. Ich bin kein Vergnügungsreisender, sondern ein Flüchtling. Es wäre taktlos, eine grobe Taktlosigkeit wäre es, in meiner Situation an Festlichkeiten der Fremden teilzunehmen.‹
Vor der »Stadsschouwburg« war es still geworden: drinnen hatte wohl die Ouvertüre begonnen. Wie gerne wäre Abel dabei. »Figaro« war seine Lieblingsoper . . .
Der einsame Professor bestellte sich noch einen Bols – anfangs hatte er den klaren, scharfen holländischen Schnaps nicht ausstehen können; jetzt aber fand er schon, daß er eigentlich ganz gut schmeckte, besonders, wenn man ihn mit ein paar Tropfen von brauner Essenz würzte. Einen Augenblick lang überlegte Benjamin sich sogar, ob er dem Mädchen, das mit bunten Tulpen zwischen den Tischen umherging, ein paar Blumen abkaufen sollte, eine rote, eine gelbe und eine weiße Tulpe; er könnte sie vor sich hin in sein Wasserglas stellen, sie würden ein schönes Leuchten haben im milden Dämmerlicht der frühen Abendstunde. Aber dann fand er, daß dies doch wohl zu extravagant und übermütig wäre. Er beschloß, daß er, nach dem Genuß dieses zweiten Bols, bezahlen, aufstehen und den Leidsche Plein überqueren wollte. Gegenüber von dem Hotel, auf dessen Caféterrasse er saß, gab es ein Blumengeschäft, das stets bemerkenswert schöne Orchideen, zart getönte, lieblich und überraschend geformte Blüten, sowie die ausgewähltesten Rosen, Nelken und Tulpen in seinem Schaufenster zeigte. Abel vergnügte sich oft mehrere Minuten damit, vor dieser Etalage zu stehen und sich die bizarren, beinah unzüchtigen Bildungen der 92 kostbaren Treibhauspflanzen zu betrachten. Er fand es merkwürdig und sehr auffallend, welchen Luxus diese ernste und gediegene Stadt Amsterdam mit Blumen sich leistete. Oft kam es vor, daß nachts, in einem Lokal, Orchideen angeboten wurden, wie in den Lokalen anderer Städte Veilchen oder Maiglöckchen. Und die Blumengeschäfte mußten das Ungewöhnlichste bieten, um die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu ziehen.
Über den Leidsche Plein wimmelten die Radfahrer: junge Mädchen, Greise, pfeifende Burschen, alles durcheinander, alles eifrig die Pedale tretend. Abel wunderte sich jeden Tag aufs neue darüber, wieviel Fahrräder es in dieser Stadt gab; das öffentliche wie das private Leben schien sich hier zum großen Teile auf dem Zweirad abzuspielen. Benjamin argwöhnte oft, daß auch der Austausch von Zärtlichkeiten zwischen jungen Paaren auf diesen wendigen kleinen Fortbewegungsmaschinen erledigt wurde. Übrigens fürchtete Professor Abel sich sehr vor diesen »Fietsern«, wie sie hier hießen; durch ihre massenhafte Existenz wurde jede Überquerung einer Straße zum riskanten Abenteuer.
Nun hatten sie schon ihre kleinen Laternen an den Lenkstangen angesteckt, obwohl es am glasig grünblauen Himmel noch ein wenig Helligkeit gab.
Auf der Brücke, die über die Singelgracht führt, stieg eine kleine Gesellschaft junger Leute von den Rädern, um über das Brückengeländer ins träge, stehende Wasser zu schauen und recht nach Herzenslust sentimental zu sein. Sie stellten ihre Räder an die steinerne Brüstung, gegen die sie sich selber lehnten; sie legten einander die Arme um die Schultern, und nun sangen sie. Es war etwas recht wehmütig Gedehntes, Zärtliches und dabei Rauhes; Abel fand, daß es hübsch und rührend klang. Wahrscheinlich waren die junge Leute im Vondelpark spazierengefahren, und dort waren sie derartig stimmungsvoll geworden, daß sie sich nun einfach nicht mehr beherrschen konnten, sondern singen und dabei ins Wasser schauen mußten.
Aus dem Wasser hoben sich Nebel. Allmählich wurde es kühl.
An einem Tisch in Benjamins Nähe sprachen zwei beleibte Herren deutsch miteinander. Abel war empfindlich gegen den Klang der deutschen Sprache geworden; er fuhr immer ein wenig zusammen, wenn er sie unvermutet neben sich gesprochen hörte.
Das Mädchen mit den Tulpen hatte sich zurückgezogen; sie ging wohl jetzt gegenüber, vorm Café »Trianon« oder dem »Lido«, mit ihrem bunten Körbchen herum. Statt ihrer hatte sich ein Drehorgelmann eingefunden; eigentlich waren es zwei: der eine bediente das große, weiße, goldverzierte Instrument, das auf Rädern fortbewegt wurde; der andere ging mit seiner Mütze von Tisch zu Tisch und kassierte das Kleingeld. Er machte große Schritte, beinah rannte er; denn es galt, einem kleinen Malayen zuvorzukommen, der Erdnüsse anbot und auch gerne kleine Münzen haben wollte. Der Malaye, ein altes Männchen, wirkte so mitleiderregend, daß mancher ihm gab, statt dem Abgesandten der prächtigen Drehorgel. Die kleine Jammergestalt aus den warmen Zonen schien ganz erbärmlich zu frieren. 93 Seinen viel zu großen alten Hut hatte er sich tief in die Stirn gedrückt, und der Kragen seines häßlich braun-schwarzen Überziehers war bis über die Ohren hochgeschlagen. Sein Gesicht, mit den breiten Wangenknochen und den schmalen traurigen Augen, bräunlich-schwarz wie der Paletot, verschwand fast zwischen Kragen und Hut; was man jedoch von diesem armen Menschenantlitz sah, genügte, um den Eindruck unendlichen Elends, trostloser Verlassenheit stark werden zu lassen.
Professor Abel reichte ihm eines der spielzeughaft kleinen 10-Cent-Stücke, die er in seiner Tasche fand. ›Ein Heimatloser, auch er‹, dachte er, nun seinerseits sentimental. ›Anderswo zu Hause als hier, durch weiß Gott welche Zufallsfügungen in diese Stadt verschlagen. Sein Gesicht scheint nur aus Runzeln zu bestehen. Er ist vertrocknet, eingeschrumpft – wie eine Pflanze, die man aus der Erde gerissen hat, in die sie gehört. Ein Heimatloser, er auch . . .‹
Einer der deutschen Herren am Nebentisch ließ, überlaut, seine Stimme hören, die sowohl fett als auch hart war: »Es gibt immer Möglichkeiten, Reichsmark zu transferieren. Setzen Sie sich doch mal mit Kohn aus Elberfeld in Verbindung.«
Abel hatte genug. Er stand auf.
Die Zeit verging; nun war Abel schon vier Wochen in Amsterdam. ›Das hätte ich auch wieder hinter mich gebracht, auch wieder geschafft‹, empfand er, wenn ein Tag oder eine Woche vorüber war. So zählen Gefangene in ihren Kerkern die langsam dahingehenden Stunden und Tageszeiten. Sie warten auf etwas: auf das große Datum, das die Freiheit bringt. Auf was aber wartete Abel? Doch nicht auf »den Sturz des Regimes« in Deutschland? Er meinte, innerlich mit dem Lande fertig zu sein, das ihn davongejagt hatte. Täglich mindestens einmal sagte er sich selber: Ich würde in dieses Land nicht zurückkehren, sogar dann nicht, wenn man mich riefe. Ich habe abgeschlossen mit Deutschland – versuchte er sich zu überzeugen. Mit Deutschland bin ich fertig, ganz und gar.
Nein, es war wohl wirklich nicht »der Sturz des Regimes«, dem er entgegenharrte. Er zählte die Tage, die Wochen, weil er die Lebensumstände, in denen er sich befand, als durchaus provisorisch betrachtete. So konnte es doch nicht bleiben; so, wie es nun war, konnte es doch keinesfalls ewig weitergehen.
Es ging eine ganze Zeitlang so weiter. Für Benjamin war es fast etwas wie eine Ewigkeit. –
Während der ersten zehn Tage seines Amsterdamer Aufenthaltes hatte er in einem großen Hotel am Bahnhof gewohnt. Die Nähe der »Centraal Station« war ihm tröstlich; sie bedeutete ihm ein Symbol für das Unverbindliche, Vorläufige seines Zustandes.
Auf die Dauer konnte er sich einen solchen Lebensstil nicht leisten. Das Hotel war teuer: fünf Gulden am Tag, nur für Zimmer und erstes 94 Frühstück – man kam sich ja wie ein Hochstapler vor. Die Ersparnisse, die er noch besaß, waren gering; im wesentlichen war man auf eine kleine Pension angewiesen, und leider lag es durchaus im Bereich des Möglichen, daß auch diese Unterstützung plötzlich wegfiel; der nationale Staat konnte es müde werden, einem »geistigen Landesverräter« auch noch Geld ins Ausland nachzuwerfen.
Außerdem fand Abel, daß zu viele Deutsche im Hotel ein- und ausgingen. Manchmal sprach ein deutscher Herr ihn wohl sogar an, im Lift, in der Bar oder in der Halle. Sehr wohl möglich, daß er nur eine harmlose Plauderei beginnen wollte – unverbindliche Konversation zwischen Landsleuten, die sich in der Fremde begegnen: »Na, auch mal auf Reisen, wie gefällt es Ihnen in Amsterdam, ich muß jedes Jahr geschäftlich ein paar Mal rüber, kann Ihnen eine kleine Kneipe empfehlen, wo famoses Bier ausgeschenkt wird, fast wie im Münchner Hofbräuhaus, hahaha . . .« So etwa schwatzten die Herren. Professor Abel aber zuckte zusammen, als hätte man ihn schon nach seiner Weltanschauung, seiner politischen Gesinnung und seinen Familienverhältnissen ausgefragt. Man wußte doch nie, mit wem man es zu tun hatte. –
Professor Abel, der keine deutschen Zeitungen mehr las und in den holländischen nur die unpolitischen Rubriken, studierte im »Telegraaf« und im »Handelsblad« die Annoncen, in denen möblierte Zimmer angeboten wurden. Er besichtigte mehrere Häuser; sie sahen sämtlich eines wie das andere aus. Immer führte eine schmale, sehr steile und sehr sauber gehaltene Treppe hinauf zu den Stuben, die gleichfalls ordentlich gehalten und bescheiden möbliert waren. Schmuck und Überfluß bestand meistens nur in einer Vase mit Tulpen auf dem Tisch und in einer gerahmten Photographie der Königin an der Wand.
Nachdem Benjamin fünf oder sechs Zimmer betrachtet und mit fünf oder sechs Hausbesitzerinnen verhandelt hatte, entschloß er sich für irgendeinen Raum, der ihm nicht besser und nicht schlechter schien als die übrigen. Er fand es angenehm und passend, in der Mozart-Straat zu logieren, die übrigens im stillsten, freundlichsten Viertel der Stadt gelegen war. Man befand sich an der südlichen Peripherie, und hatte keinen weiten Weg, wenn man ins Freie wollte. Um die Mozart-Straat herum gab es lauter hübsche, vielversprechende Straßennamen: Richard Wagner- und Beethoven-Straat, Apollo-Laan, Euterpe-Straat, Clio-Straat, Brahms-, Chopin-, Schubert-, Händel-Straat, oder Straßen, die nach Rubens, Velasquez, Van Gogh, Van Eyck, Tizian, Murillo, Michelangelo, Holbein, Tintoretto hießen. Von allen diesen schönen, ruhmreichen Namen – so meinte der Professor aus Bonn am Rhein – müßte doch ein wohltätiger Einfluß auf die Menschen ausgehen, die hier wohnten.
Er versuchte, sich sein Zimmer mit Büchern und Photographien möglichst wohnlich zu machen. Aber er brachte es niemals fertig, sich in diesem Raum zu Hause zu fühlen. Jeden Abend fürchtete er sich vor dem Heimkommen, welches eigentlich gar kein »Heimkommen« war; deshalb hielt 95 er sich regelmäßiger und länger in Lokalen auf, als dies früher seine Art gewesen.
Besonders quälte es ihn, daß es in seiner Stube immer nach den Mahlzeiten roch, die er hier einsam verspeiste. Es nützte nichts, die Fenster aufzureißen; der fatale Duft nach Saucen und Suppen schien zäh in den dicken Plüsch-Portièren, im abgeschabten Teppich zu nisten. Ja, er haßte diesen Geruch, und er verabscheute auch den anderen, mit dem das dämmrig dunkle Treppenhaus ihn empfing und in dem die Aromas von Staub und Speisen, von alten Stoffen und schwitzenden Mägden sich unerfreulich miteinander vermischten.
Übrigens kam der Professor, im Lauf der Wochen und Monate, dem Haus in der Mozart-Straat allmählich hinter allerlei unheimliche Eigenschaften. Ziemlich lange hatte er nicht gewußt, was es mit dem Brummen für eine Bewandtnis hatte, dessen gedämpfter Laut in seiner Stube fast ununterbrochen zu hören war und das sich verstärkte, wenn man die steile Treppe hinunterging und an einer bestimmten Türe des ersten Stockwerkes vorüberkam. Ohne Frage, hinter dieser Tür hauste ein Brummer; irgendjemand, der auf eine dumpf-melodische Art Tag und Nacht vor sich hin brummte – es war ziemlich schaurig, diesem trostlos monotonen Geräusch zu lauschen. Wer mag der Brummer sein? – mußte der einsame Professor immer wieder mit einer mechanischen, lustlosen Neugierde denken. Als er der geheimnisvollen Person des Brummers dann von Angesicht zu Angesicht begegnet war, begriff er nicht mehr, wie er jemals erpicht auf ein so macabres Zusammentreffen hatte sein können. Beinah, um ein Haar, wäre Benjamin mit dem Brummer im dämmrigen Korridor zusammengestoßen. Dabei erwies sich, daß es sich um einen alten, mächtig großen, gebückt gehenden Mann mit schlohweißem Haar handelte. Er schwankte dem bestürzten Professor wie ein Betrunkener entgegen. Mit den langen Armen ruderte er, als hätte er gegen Widerstände zu kämpfen und bewegte sich nicht durch Luft, sondern durch eine zähflüssige Materie. Er tastete mit den gespreizten Händen ins Leere; wahrscheinlich war er blind, aber selbst Blinde laufen nicht auf so bedenkliche Art im Zickzack, und Blinde taumeln nicht, wie dieser erschreckende Alte es tat. Der da war geschlagen mit einer gräßlichen Krankheit, er hatte nicht nur den Verstand verloren, sondern auch jede Balance und die simple Fähigkeit, geradeaus zu gehen: ohne Frage, er war aufs schlimmste beschädigt im Zentrum des Organismus, sein Rückenmark war lädiert. Mit diesem Unglückseligen, der in eine geschlossene Anstalt gehörte, hauste Professor Abel also unter einem Dach, schon seit Wochen – und dem verzweifelten Brumm-Konzert, das der heillos von Gott Geschlagene morgens, mittags und mitternachts veranstaltete, mußte man lauschen, während man versuchte, die verwirrten und gequälten Gedanken auf geistige und reine Gegenstände zu konzentrieren. ›Das ist ja schaurig‹, dachte Benjamin, und er tat entsetzt einen Sprung beiseite; denn der Brummer war im Begriff, auf ihn zu zu schwanken. Die getrübten Augen des Kranken hatten wohl die Gestalt 96 des Professors, deren vage Umrisse sie erkennen mochten, als nächstes Ziel visiert.
Der Brummer kam näher, lallend, singend, mit den krampfig gespreizten Händen fuchtelnd – und das Ärgste war, daß sein taumelnder Zickzack-Lauf auf schlimme Art einen lustigen Charakter hatte; er erinnerte an gewisse Sprünge, die Kinder manchmal auf der Straße tun, wobei sie ganz bestimmten Spielregeln folgen, die den Erwachsenen mysteriös und unbegreiflich bleiben. Übrigens hatte auch die dumpfe Melodie, die der Schwankende hören ließ, einen munteren, fast hopsenden Rhythmus. Es war deutlich, der Ungückselige fühlte sich relativ wohl; in seinem umnachteten Inneren war ihm nach Tanz und Gedudel und schauerlichem Hopsassa zu Mute. Er war seiner Pflegerin ausgerissen und wollte nun selbständig schäkern und ein wenig übermütig sein. ›Gott steh mir bei‹, dachte Benjamin, der sich vor Grauen nicht mehr bewegen konnte und erstarrt, so wie in einem bösen Traume stand. ›Gott sei mir gnädig, noch ein paar Sekunden, und er wird mich erreicht haben, er wird mich an den Schultern packen, – ich sehe es ihm doch an, was er im Schilde führt: er will sich ein wenig mit mir im Kreise drehen, ein Morgentänzchen, hier auf dem Treppenabsatz, das ist es, wonach der Sinn dem armen Unhold steht . . .‹
Da war der im Nervenzentrum schwer lädierte Greis nah herangekommen an den erstarrten Professor. Benjamin spürte schon den Atem des Kranken an der Wange; das blinde, große, öde Antlitz des Brummers stand dicht vor seinem Gesicht, gleich würde das Schreckenstänzchen beginnen. ›Ich überlebe es nicht‹, dachte Abel. ›Ich falle hin und bin tot, wenn ich mit diesem da tanzen muß‹: da kam endlich Rettung in Gestalt der Pflegerin – eine rüstige Person mit Zwicker auf der Nase, hoch aufgerichtet, in ihrer grauen Schwesterntracht: warum fand sie sich jetzt erst ein? – und sie ließ eine gebieterische Stimme hören: »Kom dadelijk hier, mijnheer van Soderbloem!«
Damit hatte das arge Vorkommnis im Treppenhaus des »Huize Mozart« sein Ende gefunden. Der Greis wandte sich gehorsam, hörte für ein paar Augenblicke zu brummen und zu fuchteln auf, und nun konnte er sogar die wenigen Schritte, die ihn von seiner Beschützerin und Meisterin trennten, ohne viel Taumeln zurücklegen. Die Pflegerin schleuderte, während sie ihren tiefgebeugten Patienten hinwegführte, Professor Abel einen mißbilligenden Blick über die Schulter zu, als hätte er sich unpassende Spiele und Scherze mit einem armen Kranken erlaubt. Benjamin schwor sich, von nun ab jede Begegnung mit dem Brummer peinlichst zu vermeiden und stets, ehe er die Treppe hinunterging, sorgfältig zu lauschen, ob auch keine tappenden Schritte auf Stufen oder Korridor zu hören seien.
Je länger er über den traurigen und unheimlichen Fall nachdachte, als desto auffallender, unstatthafter und tadelnswerter erschien es ihm, daß man ein solches Menschen-Wrack in einer Pension, Tür an Tür mit Gesunden, brummen ließ, anstatt es einer geschlossenen Anstalt zu übergeben. Tagelang nahm er sich vor, mit der Dame des Hauses in diesem Sinne zu 97 sprechen; aber am Ende kam er zu dem Entschluß: Nein, ich habe wohl kaum das Recht, über irgend etwas Klage zu führen, mich aufzuspielen als den anspruchsvollen großen Herrn, und der Inhaberin eines holländischen Hauses mit Beschwerden lästig zu fallen. Ich bin ein Fremder, hier nur eben geduldet, und übrigens nicht vertraut mit den Sitten des Landes, das mir Obdach gewährt. Die anderen Mieter im »Huize Mozart« scheinen an der Existenz des Brummers nicht Anstoß zu nehmen; ein armer Emigrant sollte nicht empfindlicher sein als niederländische Herrschaften, die vielleicht sehr fein und wohlhabend sind . . .
Immerhin konnte Abel sich nicht enthalten, mit dem jungen Mädchen, das sein Zimmer aufräumte und ihm die Mahlzeiten brachte, gelegentlich über den beunruhigenden Gast im ersten Stockwerk zu sprechen. Das junge Mädchen erklärte ihm, daß Herr van Soderbloem ziemlich reich sei und schon seit Jahren die teuersten Stuben der Pension innehabe. »Er ist ganz ungefährlich«, erfuhr Benjamin. »Wie ein Kind läßt er sich von seiner Pflegerin spazierenführen und füttern. Man würde von seiner Existenz überhaupt nichts bemerken, wenn er nicht eben die Angewohnheit hätte, zu brummen, und manchmal, wenn die Laune ihn ankam, ein paar drollig tappende Tanzschritte zu tun. – Mich hat er auch schon einmal um die Taille gefaßt«, erklärte kichernd das Mädchen.
Sie hieß Stinchen und war ein niedliches Ding; blutjung, noch keine neunzehn Jahre alt. Abel unterhielt sich gerne mit ihr. Wochenlang war sie der einzige Mensch, mit dem er sprach. Sie sah gut gewaschen, appetitlich, fast verführerisch aus in ihrer hellblauen, steif gestärkten Schürze und mit ihrem pfiffig-unschuldigen Gesicht eines dreizehnjährigen Buben. Das Hübscheste an ihr, fand Abel, war die geschwungene Linie des Hinterkopfes. Das mattblonde Haar trug sie kurz geschnitten, links flott gescheitelt.
Eigentlich eine etwas ungewöhnliche Manier, sich herzurichten, für so ein junges, dummes Stinchen vom Lande – mußte Benjamin denken. War es die große Einsamkeit seines Lebens, die ihn mißtrauisch werden und ihn allerorten sonderbare, etwas unheimliche Zusammenhänge wittern ließ? Er begann zu argwöhnen, daß es auch um das brave Stinchen weniger harmlos stünde, als er es zunächst gehofft und vorausgesetzt hatte.
Während der ersten Wochen seines Aufenthaltes im »Huize Mozart« hatte es ihm viel Spaß gemacht, gelegentlich eine Viertelstunde mit Stinchen zu verplaudern. Sie redete gar nicht deutsch, war auch zu ungeübten Verstandes, um die Worte einer Sprache, die doch mit ihrer eigenen so intime Verwandtschaft hatte, zu erraten. Abel sah sich gezwungen, all seine Kenntnisse des Holländischen zusammenzunehmen, um sich verständlich zu machen. Das bedeutete eine gute Übung, und Benjamin konnte sie wohl gebrauchen. Stinchen war nachsichtig, munter und geduldig. Gutmütig lachte sie über die groben Schnitzer, von denen jeder seiner Sätze wimmelte, und es vergnügte sie, den feinen gelehrten Herrn zu korrigieren. 98
Es war Stinchens Mutter, eine rüstige und derbe Person, deren schwere Schritte und rauhe Stimme gewaltig durchs Haus hallten, die dem einsamen Fremden das kleine Trost-Vergnügen nicht gönnen wollte. Zu Anfang hatte sie sich um das Verweilen ihrer Tochter in der Stube des deutschen Mieters kaum gekümmert; mit der Zeit aber schien sie mißtrauisch und gereizt zu werden. Meistens brachte sie nun selbst die Mahlzeiten zu Abel hinauf, und wie böse schaute sie ihn an, wenn sie die Schüsseln so hart vor ihn hinstellte, daß es einen Knall und ein Geklapper gab. Erschien aber doch noch einmal das Stinchen, und verweilte sie auch nur ein paar Minuten lang, gleich ließ die Mutter ihre erzürnte Stimme hören. Stinchen ward bleich, traute sich kein Wort mehr zu sagen, sondern machte nur noch mit den Händen hilflose kleine Zeichen – und entschwand.
Was für eine sonderbare Frau war Stinchens Mama! Professor Abel fürchtete sie fast ebensosehr wie den garstigen Brummer im ersten Stock. Weibliche Züge schienen der kräftigen Person ganz zu fehlen. Gang und Stimme, ja, Form und Bildung ihres Gesichtes, der Hände, waren durchaus viril. Die Haare trug sie kurz geschnitten, wie Stinchen; aber sie hatte sie nicht gescheitelt, sondern streng nach hinten gekämmt. Über einem steif gestärkten, stets blendend weißen Stehkragen, zeigte ihr kantiges Gesicht harte und strenge Züge; doch wirkte es nicht nur herrisch, sondern auch verstört und leidend; in den engen Augen gab es irre Flackerlichter.
Häufig machte sie ihrem Stinchen maßlos heftige Szenen; während das arme Ding auf dem Boden kniete, den sie mit dem Putzlappen bearbeitete, stand die unmütterliche Mama, breit- und steifbeinig wie ein Grenadier, daneben und grollte, tobte, klagte, schalt und weinte. Wenn solche Ausbrüche vorüber waren, ging sie mit einem verzweifelten Gesicht umher, schloß sich wohl auch stundenlang in ihre Kammer ein, die sie mit Stinchen teilte, in die das Kind dann aber keinen Zutritt hatte –, und wenn sie wieder zum Vorschein kam, zeigte sie blutig zerbissene Lippen und geschwollene Augen.
Wunderliche Verhältnisse – dem armen Abel gaben sie viel zu denken. ›In was für undurchsichtig trübe Dinge man verwickelt wird, wenn man sich in die Fremde wagt‹, war sein bestürztes Empfinden. Die Eifersucht, mit der die maskuline Alte jeden Schritt des kleinen Stinchens verfolgte, schien ihm auf eine verdächtige Art übertrieben. Das war nicht mehr die natürliche Sorge der Mutter um die Tugend der Tochter; vielmehr die gespannte, leidend wilde Wachsamkeit der Liebenden.
Welche Gründe die Eifersucht der hysterischen Magd auch immer haben mochte, sie konnte für Benjamin gefährlich werden. Er durfte sich schmeicheln, daß er dem Stinchen nicht ganz gleichgültig war. Ihre freundlichen Blicke, ihr Erröten, wenn er in die Nähe kam, verrieten, daß der interessante einsame Mann ihr kindliches Herz beeindruckte und beschäftigte. Sehr angenehm, sehr niedlich und erfreulich! Aber doch auch wieder beängstigend, unter den Umständen, wie sie nun einmal waren. ›Die Alte brächte es fertig, mir Gift einzugeben‹, fürchtete sich Benjamin Abel. Jedes 99 Gericht, das aus der Küche kam, wo die gar zu liebevolle Mutter schaltete, konnte den Tod bringen . . .
Benjamin hatte längst beschlossen, möglichst bald umzuziehen; aus einer Trägheit, die allmählich den Charakter einer totalen psychischen Lähmung bekam, brachte er es nicht über sich, seinen vernünftigen Vorsatz auszuführen. Er blieb – obwohl alles, was ihn umgab, ihm täglich unheimlicher und gespenstischer wurde.
Recht schaurig war zum Beispiel, daß vor dem Krankenhaus, das dem »Huize Mozart« gegenüberlag, täglich mindestens einmal das schwarze Leichenauto stationierte. Häufig hatte Benjamin, der so viel Zeit unbeschäftigt am Fenster verbrachte, schon beobachten können, wie der Sarg aus dem Portal der Klinik getragen und in das sinister-elegante, schwarz lackierte Fahrzeug verladen wurde. Während der ersten Wochen seines Aufenthaltes war ihm dergleichen nie aufgefallen. War damals die Sterblichkeit im Hospital geringer gewesen? Oder hatte man die soeben Verblichenen auf dezentere Art aus dem Hause geschafft? Es war ja wohl im allgemeinen üblich, den Abtransport derer, die da ausgelitten haben, auf eine Stunde zu legen, die von den Lebenden verschlafen wird . . . mit diesen zivilisierten Usancen also hatte das »Ziekenhuis«, auf dessen saubere Front Benjamin den Blick hatte, rigoros gebrochen. Am hellen Tage ging hier mit zynisch-unbekümmerter Sachlichkeit vonstatten, was sonst, mit zarter Rücksicht auf die natürliche Aversion der Atmenden gegen die Erstarrten, im schonenden Dämmerlicht und an versteckter Stelle erledigt wurde.
Übrigens konnte Abel sich nicht verhehlen, daß er die Abreise der stummen Gäste in ihren schwarz verhangenen, motorisierten Luxuskarossen mit Neugierde, ja, nicht ohne ein gewisses schlimmes Vergnügen beobachtete. Er ertappte sich bei Gedanken, die zu mißbilligen und absurd zu finden, er denn doch die moralische Kraft noch aufbrachte. ›Wie behaglich muß es sein‹, empfand er sehnsuchtsvoll, ›wie so sehr angenehm und behaglich, wenn man nicht mehr darüber nachgrübeln muß: Wo gehöre ich hin? Wo ist mein Vaterland? Wo werden meine Dienste verlangt? Was fange ich an mit den Gaben, die mir Gott gegeben? Wie verwende ich sie? . . . Die schmale, langgestreckte, schwarz lackierte Kiste wird zum Vaterland, ein anderes kommt nicht mehr in Frage . . . Von mir genommen die Qual der Zweifel, der Enttäuschungen Schmerz . . . Eine dunkle Kutsche steht vor dem Tore und erwartet mich . . . Freundliche und kräftige Männer in schicklicher, schwarzer Tracht holen mich ab, und wer vorüberkommt, nimmt den Hut ab . . . Denn ich bin ein freier Herr geworden, ich bin vornehm . . .‹ Wenn der Einsiedler mit seinen abwegigen, defaitistischen und unerlaubten Gedanken bis zu diesem Punkte gekommen war, spürte er wohl einen Schrecken und gesunde, kräftige Empörung gegen sich selbst. ›Was ist das alles denn für ein abgeschmackter Unsinn! Ich habe doch noch manches in dieser Welt auszurichten, und es wird wohl irgendwo noch Leute geben, die mich brauchen können! Bleibt mir wirklich nur noch die fragwürdige Behaglichkeit des Leichenautos übrig, weil in meinem 100 Vaterland zur Zeit das Pack die honetten Leute schikanieren darf? . . . Ich komme ja innerlich ganz aus der Form, weil ich zu viel allein bin und mich noch auf keine ernsthafte Arbeit konzentrieren kann. Jetzt gebe ich mir aber einen Ruck, ziehe meinen guten blauen Anzug an und besuche ein paar holländische Kollegen.‹
Die Visiten im Haag und in Leiden verliefen angenehm. Abel hatte menschenfreundliche, gescheite und gerechte Männer angetroffen. Was hielt ihn davon ab, diese Besuche zu wiederholen, einen regelmäßigen, intimeren Verkehr mit den niederländischen Gelehrten herzustellen? Sie waren ihm wohlgesinnt, schätzten seine Arbeit, nahmen Anteil an seinem Schicksal. Recht herzlich war er, sowohl in Leiden als im Haag, aufgefordert worden, sich bald einmal wieder zu melden. Der Umgang mit den angesehenen, wohlbestallten Forschern hätte von bedeutendem Nutzen sein können. Hatte der eine von ihnen nicht schon vielversprechende Andeutungen gemacht? »Köpfe wie Sie können wir brauchen«, hatte er zu Abel gesagt. »Vielleicht zunächst einmal eine Gast-Professur . . .« Es bestand kein Anlaß, dergleichen für leere Höflichkeitsfloskeln zu halten. Abel hätte auf dieses halbe Angebot sofort eingehen sollen, und er hätte sich nicht zu schämen brauchen, später dringlich darauf zurückzukommen. Er unterließ es. Warum unterließ er es denn? . . .
Er ging herum, ließ die Zeit verstreichen. Die holländischen Freunde – genauer gesagt: die Bekannten, die wohl dazu bereit gewesen wären, seine Freunde zu werden – suchte er nicht mehr auf. ›So heruntergekommen, so würdelos, daß ich fremden Leuten lästig fallen möchte, bin ich denn doch noch nicht‹, dachte er, bitter und stolz.
Das Ärgste, Quälendste war, daß er nicht arbeiten konnte. Er hatte vorgehabt, seine unfreiwillige Freiheit zur Ausführung eines literarischen Planes zu nutzen, der ihn seit langem lockte und ihm reizend erschien. Es handelte sich da um einen entzückend zarten und empfindlichen, schwierigen, geistig komplexen Gegenstand. Er hatte sich darauf vorbereitet und darauf gefreut, ein kleines – aber nicht gar zu kleines – Buch über die Wiener literarische Schule um die Jahrhundertwende zu schreiben. Die Abhandlung sollte den lyrischen Charme einer Liebesgeschichte, gleichzeitig aber das solide Gewicht einer literarhistorischen Studie haben. Im Zentrum der Betrachtung würden die Figuren Hugo von Hofmannsthals und Arthur Schnitzlers stehen: Beide waren sie Benjamins Lieblingsautoren seit seiner Gymnasiastenzeit. Was für ein hübsches, anmutiges und interessantes Buch könnte das werden! Aber damit war es nun nichts. Zu einer solchen Arbeit braucht man einen freien Kopf, ein unbeschwertes Herz, einen geschärften Verstand, eine zugleich gespannte und freudig lockere Stimmung der Seele.
Trost kam von keiner Seite. Annette Lehmann zum Beispiel, die tüchtige Freundin, die in Köln zurückgeblieben war, hätte wohl die Macht und Möglichkeit gehabt, etwas Trost zu spenden; aber sie dachte gar nicht daran, augenscheinlich hatte sie ganz andere Gedanken im Kopf. Wie lange 101 war nun schon kein Brief mehr von ihr eingetroffen? Im letzten hatte sie mitgeteilt, daß sie zunächst nicht daran denken dürfe, nach Holland zu kommen. Ihr Geschäft nehme sie mehr in Anspruch denn je. Annette Lehmann versicherte ihrem alten Freund, er könne sich keine Vorstellung davon machen, was für ein Auftrieb und freudiger Elan im »neuen Deutschland« spürbar sei. Ja, die liebe alte Annette schrieb wirklich: »im neuen Deutschland« . . .
In der Tat: dem Professor war ganz und gar nicht danach zu Mute, sich die Stimmung freudigen Elans in Köln am Rhein und im Antiquitätenladen Annettens auszumalen. Ihm schien das Wort »Deutschland« vergiftet. Er dachte es nie ohne Qual, und da er es häufig dachte, hatte er ein großes Maß an Qualen auszuhalten. Darauf war er kaum gefaßt gewesen: daß er, als nicht mehr ganz junger Mann, noch ein Gefühl, einen zehrend heftigen Affekt würde kennenlernen und gründlich erfahren müssen, der ihm seiner ursprünglichen Anlage, seiner Erziehung und seinem Temperament nach so fern gelegen hatte: den Haß.
Wie lange war es her, daß er keine Zeitungen, oder nur die unpolitischen Rubriken in den Blättern gelesen hatte? Nun verfolgte er, mit gierig-leidender Spannung, jede neue Schandtat oder Dummheit, Infamie oder Entgleisung, die das verhaßte Regime dort drüben sich zuschulden kommen ließ. Er las alles, merkte sich alles. Mit tausend Einzelheiten, immer neuen und immer krasseren Details nährte er das quälende und berauschende Gefühl seines Hasses.
Besonders quälend und erst recht berauschend wurde es dadurch, daß er es in so vollkommener Einsamkeit ertrug. Er erwog kaum die Möglichkeit, mit anderen Emigranten – die doch mindestens die Gefühle »Haß und Heimweh« mit ihm gemeinsam haben mußten – den Kontakt zu suchen. Die Idee, Haß und Schmerz fruchtbar zu machen – sich, um ihretwillen, in eine kämpferische Front, in irgendeine aktivistische Gemeinsamkeit einzufügen – kam ihm noch nicht.
Sein stolz und trotzig selbstgewähltes Teil war die Einsamkeit, begleitet von der monotonen Melodie des »Brummers«.
Sein Teil war die Einsamkeit.
Sie ist die treueste Begleiterin auf den unendlichen Spaziergängen in der Stadt Amsterdam.
Wie gut kannte der Professor nun schon diese Stadt: bis zum Überdruß genau, wollte ihm scheinen, war er vertraut mit ihren Straßen, Plätzen, Brücken, Parks und Grachten. Es war sonderbar, dachte er oft, daß man in einer Stadt mit solcher Intimität Bescheid wissen konnte, ohne sich doch in ihr »zu Haus« zu fühlen. Sie blieb die Fremde, – obwohl man nun schon bald jede ihrer Straßenecken ebenso genau kannte, wie die Straßenecken in den heimatlichen Städten Köln, Worms und Bonn.
Übrigens war es eine liebenswürdige Fremde. Wenn Abel seine vergleichsweise guten Tage, seine nicht gar zu niedergeschlagenen Stunden hatte, dann fand er, und machte es sich ausdrücklich klar, daß Amsterdam 102 eine schöne Stadt war, abwechslungsreich und voll von sehenswerten, liebenswerten Plätzen und Dingen.
Auf seine zurückgezogene, einsiedlerische Art nahm Abel doch ein wenig Teil am Leben. Von den Lokalen, den Bierstuben, Bars und Dancings hielt er sich allerdings mehr und mehr fern. Man traf dort überall Deutsche; das störte ihn, – nicht nur, weil die Gegenwart der Landsleute ihm lästig und sogar peinigend war; sondern vor allem, weil er zu spüren meinte, daß ihre massenhafte Anwesenheit den Holländern ein Ärgernis bedeutete. Kleine, an sich unbedeutende, aber doch charakteristische Erlebnisse bestätigten ihm dieses Empfinden und waren geeignet, es noch zu verstärken.
In einer Bar am Rembrandt-Plein, im Zentrum der Stadt, wo Benjamin gelegentlich spät nachts noch einen Bols getrunken hatte, saß hinter der Theke ein geschminktes, hochblondes, üppiges, dummes und freundliches deutsches Mädchen. Sie war recht beliebt bei den holländischen Stammgästen. Eines Nachts kam Benjamin dazu, als ein wohlbeleibter, rotgesichtiger, gutgelaunter, ziemlich stark alkoholisierter Amsterdamer Geschäftsmann mit der kessen und gutmütigen Berlinerin scherzte. Den Hut keck im Nacken, den Paletot aufgeknöpft, die dicke Zigarre im Mund, saß der muntere Bürger auf dem hohen Barstuhl und versuchte, einen Berliner Witz zu erzählen. Benjamin nahm neben ihm Platz und wechselte seinerseits ein paar deutsche Worte mit dem Mädchen, das er nicht zum erstenmal sah. Daraufhin verstummte der Holländer und sah ihn mißtrauisch an. Nach einer etwas bedrohlichen Pause fragte er, die Augen böse zusammengekniffen:
»Auch Deutscher?«
Benjamin mußte bejahen. Der Holländer schnalzte mit der Zunge, schüttelte den Kopf, zuckte die Achseln; es war eine ganze Pantomime der Ratlosigkeit und des Bedauerns, die er aufführte. Endlich schrie er, sehr laut, aber mehr verzweifelt als zornig:
»Auch ein Deutscher!! Nun möchte ich aber doch wissen: Warum sind alle diese Leute hier?! . . . Warum?!« rief er immer wieder, empört und jammernd, als wäre ein Heuschreckenschwarm in sein Land eingebrochen und träfe Anstalten, es zu verwüsten. Das Barmädchen lachte herzlich. Sie fühlte sich gar nicht betroffen. Ein so erfreulich hochbusiges, schmuck hergerichtetes und verführerisches Lebewesen wie sie, war nicht zunächst Deutsche, sondern Frau. Die platinblonde Berlinerin konnte den erregten Gast nur beruhigen, indem sie ihm einen besonders großen doppelten Bols offerierte.
Eines Tages meldete Stinchen: »Herr Professor, es ist ein Mann unten, der etwas verkaufen will.« Abel, der am Fenster mit Papieren saß, schaute kaum auf. »Er soll gehen, ich brauche nichts.« – Stinchen ließ sich nicht wegschicken. »Es ist aber ein sehr netter Herr«, sagte sie. »Ein Deutscher. 103 Er ist auch so ein Emigrant, hat er mir erzählt.« Abel fand es brav von Stinchen, daß sie sich für Emigranten einsetzte. Er lächelte: »Lassen Sie ihn mal reinkommen.«
Ein paar Minuten später räusperte sich jemand bescheiden an der Türe. Abel drehte sich um. Er erschrak und stand auf. Es war ein alter Schüler von ihm, und er war einer der begabtesten im Seminar gewesen.
»Mensch, Hollmann!«
»Der Herr Professor Abel! Das habe ich nicht gewußt! – Man hat mir nur erzählt, hier wohnt ein Deutscher, der sich mit Büchern beschäftigt . . . Ein sehr freundlicher Herr, hat mir das kleine Mädchen unten gesagt. Da dachte ich mir: ich versuch es mal . . .«
Hollmann setzte sich und nahm eine Zigarette. Jetzt erst fiel Abel auf, daß er sich verändert hatte. Er war magerer geworden und sein Haar sehr dünn. Diese nervöse Angewohnheit, sich mit dem Taschentuch die Stirne zu tupfen, war früher auch nicht an ihm aufgefallen.
»Ja, was ist denn mit Ihnen los? Warum sind Sie denn nicht in Deutschland geblieben?«
Hollmann lachte traurig. »Ein Webfehler, wie man jetzt sagt. Mit meiner Mutter war nicht alles in Ordnung. Eine geborene Meyer, der Name klingt harmlos, aber ich konnte den ›Arier-Nachweis‹ nicht erbringen . . . Na, – das wäre an sich noch nicht das Ende gewesen, – vorläufig noch nicht. Aber mir hat es überhaupt Zuhause nicht mehr gefallen . . . Erst habe ich in Paris als Filmstatist gearbeitet. Leider war das auch nicht angenehm; die Gesellschaft war nämlich halb deutsch. Der Star aus Berlin war so ein süßer blonder Bursch, der mit der Direktion schön tut und die Statisten anbrüllt wie ein Unteroffizier die Soldaten. Ich habe ihm einmal eine Antwort gegeben, und dann war Schluß . . . Und jetzt bin ich hier Vertreter von einem großen Lebensmittelhaus. Den ganzen Tag fahr ich rum in einem Lieferwagen, und biete den Leuten Konserven und Tee und Marmelade und Zucker an, oder Wurst . . . Haben Sie keine Bedürfnisse?« Abel lachte: »Der Tee hier in der Pension ist miserabel. Ich werde Ihnen was abkaufen . . .«
Der junge Mann, der vor zwei Jahren eine vorzügliche Doktorarbeit über Goethe und Frankreich geschrieben hatte, blieb noch eine halbe Stunde bei seinem alten Lehrer. Sie hatten viel zu besprechen, sie lachten auch viel, dieser Hollmann war ein lustiger Kerl; doch als sie sich zum Abschied die Hand gaben, waren sie beide ernst. »Es war reizend bei Ihnen, Herr Professor«, sagte der junge Mann. »Danke schön für die halbe Stunde. Jetzt muß ich aber schnell weiter . . .« Er tupfte sich die Stirn mit dem nicht ganz sauberen Taschentuch und blätterte nervös in seinem Adressenbüchlein. »Noch zehn Häuser heute. Dann ist Feierabend.«
. . . Abel sah ihn von Zeit zu Zeit. Es machte ihm Freude. mit ihm von den alten Zeiten zu reden, und manchmal auch von der Zukunft. Wie lange war es her, daß er kameradschaftliche Gespräche nicht mehr 104 gekannt hatte? Nun begriff er: es war vielleicht doch nicht gut, immer allein zu sein. Das Schwerste war leichter zu tragen, wenn man darüber reden durfte. Der Professor empfand für den früheren Schüler echte Sympathie, und manchmal etwas wie Dankbarkeit. Er machte sich auch väterliche Sorgen. Einmal fragte er ihn: »Ist es wirklich notwendig, daß Sie Tag für Tag mit Ihrem Lieferwagen herumziehen? Haben Sie denn wirklich gar keine andere Chance?« – »Kommt schon mal wieder anders«, sagte der junge Hollmann. »Man muß froh sein, solange man überhaupt etwas hat.« – Dann summte er ein Liedchen, das ein Freund von ihm für ein Prager Emigranten-Kabarett gedichtet hatte:
»Ob wir Zeitungen verkaufen;
Ob wir kleine Hunde führen
Oder neben tauben Tanten laufen
Oder als Statist Isolden küren . . .
Alles das, alles das macht uns nicht krumm,
Denn wir wissen ja, wir wissen ja, warum.
Sollte man von uns begehren,
Frösche kitzeln, Steine zählen,
Wolken schieben oder auch die Moldau kehren
Oder unseren Wanzen Märchen zu erzählen . . .
Alles das, alles das macht uns nicht krumm,
Denn wir wissen ja, wir wissen ja, warum.«
Abel nickte; aber sein Lächeln war etwas trübe.
Einmal besuchte er den jungen Freund. Er wohnte in einem Heim, das eine Arbeiter-Organisation den deutschen Refugés zur Verfügung gestellt hatte. Das Gebäude wirkte, mit seinen langen zementierten Gängen und dem etwas trüben Metall seines Treppengeländers, halb wie eine Kaserne, halb wie ein billiges Hospital. Die vereinzelten Gestalten, denen man begegnete, sahen meist recht heruntergekommen, aber teilweise unternehmungslustig aus. ›Sie haben vergnügtere Gesichter, als ich sie im Huize Mozart sehe‹, fand der Professor, der ziemlich mißtrauisch betrachtet wurde.
Hollmann teilte seine Kammer mit einem anderen jungen Menschen, der jetzt nicht zu Hause war. »Er verkauft Zeitungen, da unten an der Brücke, gegenüber vom Hotel American, Sie wissen doch . . .« Abel erinnerte sich daran, dem Burschen gelegentlich eine der Pariser Emigranten-Zeitungen abgenommen zu haben. »Ja, ja, ich kenne ihn«, sagte er. – »Er kann sehr nett Guitarre spielen«, erklärte Hollmann. »Wenn er nachher kommt, werden wir was zu hören kriegen . . .«
Auf dem Tisch standen eine Flasche Portwein und Schüsseln mit Obst und Gebäck. Abel tadelte gerührt die Verschwendung. »Aber was fällt Ihnen denn ein, Fritz, sich so in Unkosten zu stürzen!« – Hollmann wurde 105 ein bißchen rot. »Es kommt ja nicht so oft vor, daß ich einen Gast habe.« Er lachte verlegen. »Und außerdem kaufe ich das Zeug zu herabgesetzten Preisen. Vergessen Sie nicht: ich bin von der Branche . . .«
Es wurde ein netter Abend; Abel fühlte sich so wohl, wie schon lange nicht. Auch von den »alten Zeiten« redeten sie wieder; aber Hollmann sorgte dafür, daß die Erinnerungen nicht melancholisch wurden. Er machte die Professoren der Bonner Universität nach; besonders gut konnte er den Geheimrat Besenkolb kopieren. »Die Nation, meine Herren!« rief er mit quäkender Stimme und machte lange Schritte über ein imaginäres Podium. »Die Nation ist der höchste, heiligste Begriff, den die Menschheit kennt! Alle großen geistigen Leistungen kommen aus dem Geist des Nationalen!« – »Genug! Genug!« flehte Abel, der sich zugleich amüsierte und ekelte. Aber der junge Hollmann dozierte unbarmherzig weiter, mit der Stimme und den Gebärden Besenkolbs.
Später wurden sie ernst. »Ich überlege mir oft«, sagte Hollmann, »was aus den Jungens wird, die sich so verlogenen Quatsch jeden Tag anhören müssen und überhaupt nichts anderes mehr kennen dürfen. Unaufhörlich wird ihnen Gift eingeträufelt . . . Ich denke mir manchmal: gerade in so furchtbaren Mengen verabreicht, verliert es vielleicht seine Wirksamkeit. Es muß den Jungens doch schon zum Kotzen sein – und was man ausbricht, das kann einem nicht mehr den Magen verderben!«
»Möchten Sie recht haben!« sagte Professor Abel.
Dann kam der Bursche, dem Benjamin gelegentlich ein paar Zeitungen abgekauft hatte. Er sah müde und mißmutig aus. »Gar kein Geschäft heute gewesen!« beklagte er sich. »Bis man die paar Fetzen loswird, muß man sich die Füße in den Leib stehen! Eine Scheiße!« Als er aber zwei Gläser Portwein getrunken hatte, wurde er lustiger. Er holte die Guitarre aus dem Schrank. Erst sang er ein paar neue Schlager; dann kamen deutsche Volkslieder. »Die sind doch immer das Schönste«, sagte er. Und Fritz Hollmann fügte trotzig hinzu: »Und wir lassen uns von niemandem die Freude daran verderben.«
Es war schon nach Mitternacht, als Benjamin sich zum Gehen anschickte. »Mein Gott, ist es spät geworden!« rief er aus. »Die Zeit ist so schnell vergangen – ich habe es gar nicht bemerkt.« Er schüttelte den beiden jungen Leuten die Hand. Dabei schien er noch etwas sagen zu wollen; es fielen ihm aber wohl die rechten Worte nicht ein, und was er herausbrachte, war nur: »Vielen Dank. Das war ein sehr guter Abend . . .« –
Warum blieb er eigentlich im »Huize Mozart«? Er hatte sich die Frage schon oft gestellt, und nun, auf dem Heimweg, beschäftigte sie ihn wieder. Warum blieb er! Was hielt ihn fest? War es Stinchen? Aber die sah er immer seltener. Immerhin beobachtete er sie genau genug, um zu bemerken, daß sie sich verändert hatte. Ihr Blick, ihr Lächeln bekamen einen neuen Ausdruck; Haltung und Gang waren zugleich selbstbewußter und weiblich-zarter geworden. Manchmal hatte sie nun eine verfängliche, spöttische und dabei verlockende Art, Benjamin anzuschauen, daß er 106 beinah erschrak. Was ist mit dem Mädchen? – dachte er. Sie verwandelt sich. Unser kleines Stinchen mit dem Bubengesicht wird eine Frau . . .
Wer weiß, wie lange Abel sich nicht weggerührt hätte vom »Huize Mozart«, wenn nicht ein kleiner, aber fataler und aufrüttelnder Zwischenfall ihm den Entschluß aufgezwungen hätte, sein Leben zu ändern, sich in Bewegung zu setzen, zu handeln.
Um die Besitzer des Hauses, in dem er nun schon länger als ein halbes Jahr wohnte, hatte Benjamin sich nie viel gekümmert. Er wußte nur, daß der Hausherr, ein Holländer, in irgendwelchen Geschäften unterwegs war, und sich in Amsterdam nur selten sehen ließ. Seine Frau war eine ziemlich hübsche Person, mit rundlichen Formen und einer blonden Dauerwellenfrisur über einem gesunden, rosigen, etwas leeren Gesicht. Benjamin begegnete ihr nicht sehr häufig; zu einer längeren Unterhaltung war es niemals gekommen. Zuweilen hatte er sich Gedanken darüber gemacht, daß die Dame des »Huize Mozart« sich etwas gar zu reserviert ihm gegenüber verhalte. Sie war Deutsche, in Hamburg geboren, wie sie ihm gleich zu Anfang erzählt hatte. Neuerdings wollte ihm manchmal scheinen, daß sie ihn feindlich und mißbilligend betrachtete, wenn sie auf der Treppe oder im Flur an ihm vorüberging. Ihre rund geschnittenen, wasserblauen Augen waren vielleicht ein klein wenig tückisch – wie ihm bei solchen Gelegenheiten vorkommen wollte. Aber dann beruhigte er sich bald wieder: ›Ich bin gar zu mißtrauisch, das grenzt ja schon an Verfolgungswahn. Was soll die brave Frau gegen mich haben? Ich bezahle pünktlich die Miete, bin leise und höflich, einen besseren Klienten kann sie sich gar nicht wünschen.‹
Eines Vormittags stellte Benjamin fest, daß die Stube, die neben seinem Zimmer lag und bis dahin leergestanden hatte, plötzlich bewohnt war. Durch Stinchen erfuhr er, der Bruder der gnädigen Frau sei eingetroffen: Herr Felix Wollfritz aus Hamburg, er würde mehrere Wochen lang bleiben.
Benjamin begegnete dem Herrn Wollfritz noch am gleichen Tag auf dem Korridor, und seine schreckhafte Reaktion war sofort: Ein Feind!! Aufgepaßt – mit diesem Mann wird es Händel geben! ›Ich bin die Friedfertigkeit selbst‹, dachte Benjamin, indem er gleichsam bei einer höheren Instanz für alles, was zwischen ihm und Herrn Wollfritz geschehen mochte, jetzt schon um Entschuldigung bat. ›Aber dieser Kerl als Zimmernachbar – das ist entschieden zu viel! Mit Herrn Wollfritz wird man wohl beim besten Willen nicht auskommen können.‹
Der Bruder der gnädigen Frau, der zwecks Geschäften oder Familienbesuchs für mehrere Wochen in Amsterdam weilte, war groß und stämmig. Auf einer auffallend steilen und harten, ungesund geröteten Stirn und auf den Wangen waren die scharfen Konturen von Schmißnarben sichtbar: Benjamin bemerkte es gleich, obwohl im Korridor Dämmerung herrschte. Herr Wollfritz hatte einen flachen Hinterkopf, einen steilen und breiten Nacken, dessen blutig rotes Fleisch wulstig über den Rand 107 des Kragens quoll. Sein Schädel war glattrasiert, nur auf der Höhe des Kopfes war ein winzig kleines, sorgfältig pomadisiertes und gescheiteltes Arrangement semmelblonder Haare stehengeblieben –: eine recht erstaunliche Frisur, wie sie, außer bei innerafrikanischen Negerstämmen, wohl nur noch bei deutschen Männern eines gewissen Typs üblich ist.
Benjamin grüßte mit jener ironisch-zeremoniellen Neigung des Oberkörpers, die er früher bei Begegnungen mit dem Geheimrat Besenkolb gehabt hatte. Herr Wollfritz musterte den Mieter seiner Schwester stählernen Blicks, vom Kopf bis zu den Füßen; zog dann mit einem unverschämten Ausdruck die dünnen, blonden Augenbrauen hoch; spitzte die Lippen wie zum Pfeifen, und dankte mit einem Kopfnicken, dessen Knappheit aggressiv wie eine Ohrfeige war.
Als die beiden Herren am nächsten Vormittag sich wieder im Flur trafen, wurde kein Gruß mehr getauscht.
Benjamin Abel und Herr Felix Wollfritz konnten einander nicht ausstehen und machten kein Hehl aus ihrer instinktiven, heftigen Aversion. Es gibt den coup de foudre eines Hasses auf den ersten Blick, wie den der Liebe.
Leider war die Wand, die Abels Zimmer von dem des Herrn Wollfritz trennte, nur eine sehr dünne. Benjamin mußte hören, wenn sein Nachbar sich räusperte; wenn er morgens gurgelte, sich die Zähne putzte; ja, sogar wenn er laut gähnte. Als Wollfritz sich einmal eine Dame zur Lustbarkeit mitgenommen hatte, sah Benjamin sich genötigt, sein Zimmer und das Haus zu verlassen; es ging über seine Kräfte, das Liebesleben des forschen Hamburgers in den akustischen Details zu verfolgen.
Von dem Tage an, da Herr Wollfritz sich in so intimer Nachbarschaft einquartiert hatte, stand es bei Benjamin fest: Ich ziehe aus. Es mußte aber noch zu einem besonderen Eclat, einer Provokation ohnegleichen kommen, damit der sanfte, schwerfällige Abel seinen Auszug derart beschleunigte und die zornige Demonstration aus ihm machte, wie er es dann wirklich tat.
Die Provokation, durch die der höchst Geduldige aus der Contenance gebracht wurde und die ihn so fürchterlich ärgerte und erregte, daß er mit beiden Füßen aufstampfte, die Fäuste ballte und schrie – sie bestand darin, daß Herr Wollfritz, der nicht nur einen Radio-Apparat, sondern auch ein Grammophon besaß, bei offener Zimmertür und unter Benutzung einer Nadel, die besonders starken Ton erzeugte, das Horst Wessel-Lied spielen ließ. Dabei richtete er es so ein, daß der Professor, als er nachmittags vom Spaziergang zurückkehrte, mit der verhaßten Melodie empfangen wurde. Ihm schmetterte es entgegen:
»Die Fahne hoch, die Reihen dicht geschlossen,
SA marschiert mit ruhig festem Schritt . . .«
»Schluß!!« schrie der Professor, dessen Gesicht erst sehr rot, dann weiß wurde und sich mit Schweiß bedeckte. »Schluß!! Genug!!« 108
Er war drauf und dran, ins Zimmer des Herrn Wollfritz zu stürzen und mit eigener Hand den Lauf der Platte zu stoppen, vielleicht gar den Apparat aus dem Fenster zu schleudern. Wollfritz trat ihm hoch aufgereckt in der Tür entgegen. Die schneidende Kommandostimme schrie Abel an: »Sie sind wohl irrsinnig, Herr! Wenn Sie mein Zimmer betreten, lasse ich Sie durch die Polizei rausschmeißen!«
Diese Stimme war geeignet, dem Professor vollends die Besinnung zu rauben. Er keuchte: »Das ist eine Provokation! Stellen Sie sofort den Apparat ab! Ich brauche mir das nicht gefallen zu lassen!«
Darauf Herr Wollfritz, mit kaltem Hohn: »Sowas hat mir gerade gefehlt! Der Jude will mir verbieten, das Kampf- und Weihelied meines Vaterlandes in meinem Zimmer zu spielen. Bodenlose Frechheit! Man ist bei uns immer noch zu sanft mit den Juden! Sowie sie im Ausland sind, werden sie unverschämt!«
Abel hatte schon die Fäuste gehoben. Aber am Grinsen des anderen erkannte er, daß dieser sich nichts anderes wünschte als ein Handgemenge. Blind, zitternd taumelte Benjamin in sein Zimmer. »Meine Rechnung!« rief er noch, ehe er die Tür hinter sich zuschmiß. »Ich ziehe aus! Sofort!«
»Ist auch Ihr Glück!« erklärte Wollfritz, wobei er seinerseits sich zurückzog. »Ich wäre auch nicht mit Ihnen unter einem Dach geblieben. Meine Schwester hätte zu wählen gehabt zwischen Ihnen und mir.«
Fünf Minuten später wurde dem Professor die Rechnung gebracht, als hätte man den Vorgang vorausgewußt und alles für seinen Aufbruch vorbereitet. Stinchens Mutter, in drohend korrekter Haltung, überreichte ihm das Papier auf einem Silbertablett. »Hier, Mijnheer«, sagte sie mit rauher, böser Stimme. Sie sah krankhafter und erschreckender aus denn je. Ihr großes Männergesicht war aschfahl und schien verwüstet von schlimmen Leidenschaften; in den Augen brannten Lichter eines irren Triumphes. Übrigens zeigte sie sich höflich und beflissen, trotz allem. Sie trug mit starkem Arm Benjamins schweren Koffer, den er eilig gepackt hatte, die steile Treppe hinunter.
An der Türe des Brummers blieb Abel stehen, um noch einmal dem wohlbekannten, trostlosen Geräusch zu lauschen. Der Kranke schien gerade eine seiner munteren Stunden zu haben. In seinem Brummen und Summen ließ eine beschwingte kleine Melodie sich erkennen. ›Gleich wird er wieder heraustreten, um mich zum Tänzchen zu bitten‹, dachte Benjamin und ging eilig weiter.
Während die virile Matrone den Koffer ins Taxi verstaute, schlüpfte Stinchen aus der Haustür hervor. Sie preßte sich ein großes, buntes Taschentuch vors Gesicht; dahinter flossen die Tränen. Abels Herz zog sich zusammen vor Rührung und einer sehr zärtlichen Traurigkeit. Obwohl die Mutter, die sich umgewendet hatte, ihn mit wütenden Blicken töten zu wollen schien, ging er mutig auf Stinchen zu und streckte ihr die Hand hin. »Adieu, liebes Kind«, sagte er sanft. Ihm antwortete innig ihr in Tränen schwimmender Blick. »Auf Wiedersehen«, brachte sie hervor. 109 Dann sprang sie davon – entweder aus Angst vor der Alten oder weil sie sich der Tränen schämte.
Während der Wagen sich in Bewegung setzte, empfand Abel: ›Ich war sehr alleine in diesem Haus, und zum Schluß habe ich auch noch einen großen Ärger gehabt. Aber ganz einsam war ich doch nicht, und ganz schlimm ist es hier nicht gewesen. Es hat jemand um mich geweint. Vielen Dank, liebes Stinchen. Ich vergesse dich nicht.‹ 110