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Erstes Buch


I.
Wo König Pausol zum ersten Male die Mißgeschicke des Lebens kennen lernt.

König Pausol hielt Gericht. Dabei saß er unter einem Kirschbaum; denn dieser Baum – sagte er – gibt ebensoviel Schatten wie ein anderer und besitzt der hundertjährigen Eiche gegenüber den Vorzug, daß er im Sommer sehr angenehme Früchte trägt.

Obgleich er für sich selbst die historische Prunkkleidung beibehielt, welche mit ihrer Weite und ihrem Faltenwurf ihm am besten zur Majestät seiner königlichen Person zu passen schien, war er doch einer bescheidenen Vervollkommnung dieser Tracht nicht abgeneigt. Man muß mit seiner Zeit leben. König Pausol trug eine stylisirte Krone, welche unter einem dünnen goldenen Überzug ihre aus Aluminium bestehende Montirung verbarg. Er wollte zeigen, um wie Vieles leichter dieser Kopfschmuck sei, als der Cylinderhut seines Vetters, des Königs von Griechenland. Einige Vorübergehende täuschten sich zwar nicht über das Metall, aus welchem dieser Gegenstand angefertigt war; allein – so sagte abermals der König – wenn Einer pfiffig genug ist, um aus der Entfernung diesen Unterschied in der Arbeit des Goldschmiedes zu erkennen, so würde der Anblick der Krone, möchte sie nun gleich aus massivem, gediegenem Golde sein, keinerlei ernsten Eindruck auf ihn machen. Es ist daher überflüssig, sich den Kopf zu belasten.

König Pausol war absoluter Beherrscher von Tryphema, eines wunderbaren Landes, dessen Fehlen auf dem politischen Atlas ich nöthigenfalls erklären könnte, indem ich die Hypothese riskiren würde, daß, gleichwie die glücklichen Völker keine Geschichte haben, die blühenden Länder keine Geographie haben. Auf den neuen Landkarten erscheinen gewisse unbekannte Gegenden noch als weiße Flecke: Tryphema erscheint als blauer Fleck im Mittelländischen Meere. Das ist doch ganz natürlich.

Nun denn, nein! Nicht das ist die Ursache einer so bedauerlichen Lücke.

Wenn Tryphema ein aus allen Encyklopädien gestrichener Name ist, wenn man die Karte von Europa fälscht, wenn man diese grüne Halbinsel von den Küsten unseres Landes amputirt, so geschieht dies, weil man gegen sie die »Verschwörung des Schweigens« organisirt hat.

Jedermann weiß, daß man so jenes unmittelbare und geheime Einverständniß nennt, welches unter den litterarischen Kritikern bei der Entstehung bedeutender Werke herrscht und welches das junge Talent inmitten seines ersten Lächelns erstickt. Forscher und Geographen von derselben niedrigen Gesinnung bedienen sich des nämlichen Vorganges, um die Touristen von einem Lande fernzuhalten, von welchem sie wissen, daß es ein herrlich schönes ist. Doch mit solchen erbärmlichen Kombinationen will ich mich nicht weiter befassen. Tryphema ist eine Halbinsel, welche die Pyrenäen in der Richtung der Balearen verlängert. Sie grenzt an Catalonien und an die französische Provinz Roussillon, jetzt Ost-Pyrenäen. Ich spreche davon, weil ich dort gewesen bin. Es ist wichtig, daß der Leser die wahrhaftige und zeitgenössische Geschichte, die ich seit fünf Minuten für ihn schreibe, nicht für eine Erdichtung betrachte. Nachdem diese vorläufigen Fragen geklärt sind, wollen wir zu den eigentlichen Ereignissen übergehen.

Es war im zwanzigsten Jahre seiner Regierung, als König Pausol eines Tages – nach so vielen ruhigen Tagen – die Schwierigkeiten des Lebens und die Bürde einer aus dem Gleichgewicht gerathenen Seele fühlte.

Er war an jenem Junimorgen sehr lange nach der Sonne aufgestanden und hatte sich, sanft gewiegt von seinem Maulthier Macario, zu seinem Gerichtsstuhl tragen lassen.

Zahlreiche Diener folgten ihm auf diesem Wege; der eine trug seine Cigaretten, der andere seinen Sonnenschirm, die meisten thaten nichts.

Keiner dieser Diener war bewaffnet. Der König ging stets ohne Leibwache, weil er zeigen wollte, welchen Werth er darauf legte, mehr geliebt als gefürchtet zu sein. Furcht kann nicht immer dauern, sagte er, und auch nicht ertragen werden. Die Liebe des Volkes hingegen ist ein einiges Gefühl, welches von Erinnerungen lebt, die geringsten Handbewegungen als neue Wohlthaten empfängt und nichts Anderes verlangt, als von Demjenigen, welcher der Gegenstand dieser Liebe ist, gebührend geschätzt zu werden.

Das Gericht, welches der König täglich unter einem Kirschbaum seiner Gärten hielt, hatte solches Ansehen gewonnen, daß sich seinen unappellirbaren Aussprüchen Alle willig fügten. Indem König Pausol das Buch der Sitten und Gebräuche, welches seine Vorfahren ihm hinterlassen, vereinfachte, war es ihm gelungen, ein Gesetzbuch zu schaffen, welches nicht mehr als zwei Artikel enthielt und wenigstens den seltenen Vorzug hatte, vom Volke verstanden zu werden. Das Gesetzbuch lautete folgendermaßen:

Artikel I. Schade deinem Nachbar nicht.

Artikel II. Dann thue was dir beliebt.

Es ist überflüssig, den Leser daran zu erinnern, daß der zweite dieser Artikel in keinem zivilisirten Lande gesetzlich zulässig ist. Dieses Volk aber legte gerade auf diesen Artikel den größten Werth. Die Bürger von Tryphema gingen nicht wie die Bürger aller anderen Länder von der Vormundschaft des Vaters in die Vormundschaft des Staates über. Mit fünfzehn Jahren mündig und frei, folgten sie ihren Launen und nicht jenen des Gesetzgebers.

Pausol gönnte sich tagtäglich das Vergnügen, durch seine Urtheilssprüche einige persönliche Freiheiten zu retten. Das war keine ermüdende Arbeit und übrigens würde der vortreffliche Mann eine andere Arbeit kaum angenommen haben, denn seine eigene persönliche Freiheit schien ihm ein Interesse ersten Ranges darzustellen und er respektirte seine Phantasie, welche ihm rieth, träge zu sein.

An jenem Morgen harrten ein Dutzend Kläger und eine große, unbewegliche Menge auf dem schattigen Rasenplatz, als der König unter den Zweigen des Kirschbaumes erschien, mit einem Gemurmel der Verehrung, der Sympathie und der Neugierde begrüßt. Er beantwortete diese Stimmen in der Weise, daß er eine weiche, huldvolle Hand wie ein grüßendes Schnupftuch vor seinem Gesicht bewegte. Dann stieg er die drei Treppenstufen zu dem Gerichtsstuhl empor, wodurch er sich sogleich über dem Niveau der Menschen befand.

Der erste Kläger trat vor.

Es war ein Fremder, ein katatonischer Schiffsknecht, der aus den aufgeschürzten Hemdärmeln zwei fast schwarze Arme hervorstreckte.

– Sire! rief er, Gerechtigkeit gegen mein Weib. Sie ist mit einem Andern entflohen!

– Oh, oh! machte der König. Was soll ich dagegen thun?

Er pflückte eine Kirsche vom Kirschbaum, enthäutete sie mit der Spitze der Zähne und sog mit sichtlichem Behagen den Saft aus dem Fleische der Frucht.

– Aber, Sire, wir waren verheirathet vor dem Alkalden und vor dem Priester. Sie hat bei dem Evangelium geschworen …

– Und wenn sie dir geschworen hätte, vor dreißig Jahren nicht zu sterben, würdest du sie ins Gefängnis; schicken an dem Tage, wo sie die Pest bekäme? Sie hat geschworen, sagst du? Das ist das einzige Unrecht, welches sie meines Erachtens begangen hat. Bei den Gesetzen deines eigenthümlichen Vaterlandes war dies übrigens der eitelste der erzwungenen Schwüre. Du hast ja eben den Beweis erhalten. Wenn sie dich täuschen wollte, wenn sie thäte, als wollte sie dein Gefallen erlangen, um nicht davongejagt zu werden, könntest du … Aber sie betrügt dich nicht, da sie fort ist. Ihr Freimuth ist tadellos. Und weshalb ist sie fort? Ohne Zweifel deshalb, weil sie Einen gefunden hat, der dir überlegen ist durch die Jugend, durch die Schönheit, durch den Charakter und wer weiß? vielleicht auch durch das Vermögen. Du gibst zu, daß ein junges Mädchen an dem Tage, wo es einen Gatten nimmt, alle seine Gründe abwägen darf. Mit viel mehr Recht darf sie es thun, wenn sie Weib geworden und die Erfahrung ihr Rathschläge ertheilt.

– Aber es steht doch im Gesetzbuche geschrieben: »Du sollst deinem Nachbar nicht schaden.«

– Ebendeshalb verbiete ich dir, deinen Nachfolger zu verfolgen.

Der Nächste trete vor!

– Majestät, sprach eine Baßstimme, ein Bettler, ein Ziegenhirt hat mein einziges Kind vergewaltigt.

– Oh, oh, widersprach der König. Man soll nie allzusehr auf den Widerstand schließen. Ich bin neugierig, das Opfer zu sehen.

Man führte dem König das Mädchen vor.

Sie trug die Lieblingskleidung der tryphemesischen Mädchen: ein sonnengelbes Tüchlein auf dem Kopfe mondhelle Pantöffelchen an den Füßen, der Rest des Körpers war nackt. – König Pausol war in der That der Meinung, daß der Anblick einer häßlichen, alten oder gebrechlichen Person für Manche peinlich ist und er hatte nicht nur den gebrechlichen Körpern, sondern auch den häßlichen Gesichtern verboten, unverhüllt zu erscheinen. Da der Anblick eines jungen Mädchens, oder eines jungen Mannes in seiner Kraft nur die gesundesten, der wahren Tugend am besten entsprechenden Gedanken erwecken kann, hatte Pausol seinem Volke begreiflich gemacht, daß mit Ausnahme der wenigen Wochen, in welchen es selbst an den Gestaden des Mittelländischen Meeres Winter ist, man die menschliche Schönheit, dieses ebenso kostbare wie flüchtige Geschenk, Allen unverhüllt zeigen müsse.

– Freund, sagte der König, indem er sich zum Ohr eines Dieners neigte, die noch übrigen Kirschen sind zu hoch, als daß ich sie mühelos pflücken könnte. Und ich werde keinen andern Baum wählen, denn ich bin an diesen gewöhnt. Morgen hänge auf die niederen Zweige ein Dutzend ausgewählter Kirschen.

Dann wandte er sich zu dem jungen Mädchen, welches mit mehr Hoffnung als Verlegenheit des Ausspruches ihres Königs harrte.

– Nun denn, fragte Pausol, beklagst du dich auch? Ich werde deinen Vater nur anhören, wenn er in deinem Namen klagt.

– Oh, Sire, sprecht selbst mit ihm, damit ich keine Prügel bekomme. Ich bin diese Woche zu sehr bewegt, um zwei Tage hinter einander schweigen zu können und ich schäme mich keiner Sache vor Euch, da Ihr so gerecht seid. Gestern Abends bin ich in das Gebirge, zu meiner Schwester gegangen, mit einem Krug Milch, welche ich ihrem Kinde brachte. Sie hat mir viel erzählt von Dingen, welche das Leben lieblich machen und welche in meinen langen Nächten – zu meiner großen Betrübniß – mir fehlen. Ich kehrte durch den Wald zurück, die Wangen vielleicht ein wenig geröthet und das Herz sehr bewegt, als ich unter den Weidenbäumen einem Ziegenhirten meines Alters begegnete, der ob seiner Einsamkeit gleichfalls sehr betrübt schien. Sire, er kam gerade aus dem Bade und war so schön, so sauber, so lieblich am ganzen Körper … er muß es in meinen Augen gelesen haben, daß er mir sehr gefalle. Die Männer bilden sich immer ein, daß sie uns angreifen und doch kümmern sie sich niemals um solche Frauen, die da vergessen sie zu betrachten. Wenn man von uns Frauen Besitz ergreift – und wäre es auch mit Gewalt – so geschieht es, nachdem man in uns gelesen hat, daß uns dies nicht unangenehm wäre. Was mich betrifft, so schwöre ich Euch, Sire, daß ich es nicht mit Absicht gethan habe. Ich wollte nicht, daß er mich berühre. Oder wenigstens glaubte ich, daß ich es nicht wolle. Aber schließlich betrachtete ich diesen Jüngling gerade in dem Augenblicke, wo ich ihn am meisten bewunderte und er ergriff sogleich meine Hand … Und dann, Sire – mein Vater hat Euch die Wahrheit gesagt – habe ich mit allen meinen Kräften mich widersetzt. Ich stieß keinen Schrei aus, denn um keinen Preis der Welt würde ich in der Lage, in der ich war, Jemandem zu Hilfe gerufen haben; übrigens hoffte ich mir selbst aus der Noth zu helfen. Ich wehrte mich mit Händen und Füßen, als gälte es mein Leben zu vertheidigen, von Sonnenuntergang bis zur finsteren Nacht. Dann sah ich, daß es zu spät sei heimzukehren und verlor den Muth; und bis zum Morgen des nächsten Tages verlor ich in gleicher Weise mehrere Male den Muth und ich bin entschlossen, bei solchen Bewegungen, wo die Kräfte so ungleich sind, keinen Widerstand mehr zu leisten. Man bat soeben Eure Majestät, meine Schwäche gegen neue Gewaltthaten zu schützen; nun denn: diejenigen meines Vaters sind die einzigen, die ich fürchte. Ich brauche Niemanden, um die anderen zu beschwichtigen.

König Pausol hatte diese kleine Vertheidigungsrede angehört, ohne sie mit einem Worte zu unterbrechen. Als das Mädchen zu Ende war, beeilte sich der König Folgendes zu erklären:

– Dieses Mädchen ist seinem Vater weit überlegen durch die Reife des Geistes, durch die Initiative und durch den Sinn für das Leben. Ich will sie von der väterlichen Gewalt befreien. Mit welchem Rechte würde ich auch irgend eine Autorität über ein so kluges Köpfchen fortbestehen lassen! Geh' Kind, du bist frei! Thue nichts Böses, lebe nach Deinem Willen, wie es das Gesetzbuch von Tryphema vorschreibt. – Der Nächste trete vor!

Und nun ereignete sich, daß die dritte Angelegenheit nicht gerade diejenige war, die der König erwartete.

Während der Vertheidigungsrede des jungen Mädchens sah man in der Magnolia-Allee, welche zum königlichen Palaste führte, eine alte Frauensperson in unsicherer Hast herbeieilen; sie hielt ihre Röcke hoch und hüpfte heran wie eine Heuschrecke. Bald hörte man ihr trostloses Keuchen; sie stürzte zu dem Gerichtsstuhl des Königs, klammerte sich mit ihrem schwachen Arm an einen Baumzweig, um nicht zu fallen, oder doch so spät als möglich, und hauchte: »Sire! …« aber mit so schwacher Stimme, daß man sie schon für den todt halten mußte.

– Das ist eine alte Frau aus dem Palaste, sagte einer der Diener.

– Die Vorgesetzte der Privatgemächer, erklärte ein anderer.

Und da die Hof-Etiquette angesichts der Gutmüthigkeit des Königs nicht allzu streng beobachtet wurde, machte sich die ganze Dienerschaft ihrer gelangweilten Seele in dem Freudenschrei Luft:

– Es muß was geschehen sein!

Der König hatte sich erhoben.

– Was gibt es? fragte er.

– Sire … die weiße Aline … Ach! Sire … Eure Tochter … die Prinzessin …

– Nun?

– Ach!

Und die Alte fiel in Ohnmacht nieder.

In demselben Augenblicke erschien – ruhiger und ein Briefchen tragend – eine zweite Ehrendame, welche, nachdem sie ihren gelben Sonnenschirm gesenkt, sich folgendermaßen vernehmen ließ:

– Zu meinem Leidwesen muß ich Eurer Majestät melden, daß Ihre königliche Hoheit die Prinzessin Aline den Palast unter geheimnißvollen Umständen verlassen hat, welche indeß zu keinerlei Besorgniß wegen ihrer kostbaren Gesundheit Anlaß geben. Die Ehrendame, welche die Aufgabe hatte, Ihre Hoheit zu wecken und ihre Träume zu deuten, ist respektvoll vor ihrer Thür erschienen und hat vier Stunden lang geklopft, ohne eine Antwort zu erhalten. Beunruhigt durch dieses Stillschweigen, welches sie sich nicht erklären konnte, brachte die Hofdame es über sich einzutreten – trotz der Kühnheit dieses Schrittes. Ihre Hoheit war nicht mehr in ihren Gemächern. Das Bett war nicht berührt. Die Prinzessin Aline hatte ihr Zimmer verlassen, ohne Jemandem ihr Vorhaben mitzutheilen und ohne Gepäck mitzunehmen außer ihrer kleinen Puderbüchse, ihrer Schminkschachtel, ihrem Geldtäschchen und einem Toilettegegenstand, dessen nähere Bezeichnung Eure Majestät gewiß nicht interessirt. Niemand weiß die Stunde ihres Aufbruches, noch auch den Weg, welchen einzuschlagen ihr beliebt hat. Man glaubt nur, daß sie sich durch das Fenster entfernt hat. Im Laufe unserer Nachforschungen haben wir auf ihrem Toilette-Tische ein Briefchen mit der Aufschrift »Für Papa« gefunden. Ich lege dasselbe hiermit in die Hände Eurer Majestät.

König Pausol wollte nicht begreifen. Vergebens hatte die Ehrendame ihre Erzählung im hellen Tageslichte vorgebracht; der König blieb geblendet.

– Liebe Frau, Sie faseln, sprach er. Ich höre aus Ihrem Munde Worte, die keinen Zusammenhang haben … Sie sind von Sinnen: das springt in die Augen. Warum sollte meine Tochter mich verlassen haben? Wo könnte sie besser aufgehoben sein, als im Palaste, bei ihrem Vater? Und wie soll ich glauben, daß sie sich entfernt habe, ohne Abschied von mir zu nehmen? Das sind Träume, sage ich Ihnen. Sie hat vielleicht wegen der allzu großen Hitze nicht in ihrem Zimmer geschlafen. Sie ist sicherlich auf den Terrassen, in ihrer Hängematte. Sicherlich hat man daran nicht gedacht. Gehet sie suchen, anstatt Verwirrung hieher zu tragen, die meine Gedanken aus dem Gleichgewichte bringt.

Als er so gesprochen, fielen seine Blicke auf das Billet, das er noch in der Hand hielt.

In der Mitte eines farbigen Umschlages waren die Worte

 

»Für Papa«

 

in phantastischen, unregelmäßigen Schriftzügen zu lesen. Darunter eine Linie, welche horizontal sein wollte, aber wie mit einem Sprung in die Höhe strebte.

Zögernd und wortlos zerriß er den Umschlag und holte daraus einen Brief hervor, welcher folgendermaßen lautete:

 

»Väterchen! Wenn ich glauben müßte, daß Du dadurch leidest, würde ich niemals den Muth finden mich zu entfernen, wie ich es sogleich thun werde. Aber Du kannst nicht betrübt sein, da ich zufrieden bin. Du sagtest ja immer, daß Du mein Glück wollest.

In sieben Monaten, wenn ich fünfzehn Jahre alt geworden und großjährig sein werde, kehre ich zurück. Erwarte mich ohne Unruhe. Ich entferne mich mit …«

 

… Nein, er hatte schlecht gelesen.

 

»Ich entferne mich mit Jemandem, der sehr hübsch ist, der über mich wachen wird wie Du selbst. Ich küsse Dich, wenn Du nicht böse bist.

Line.«

 

Die Menge hatte sich allmälig genähert und ohne zu wissen was vorgehe, aber neugierig und fast geräuschvoll, beobachtete sie die Aufregung des Königs – eine seltene Erscheinung. Es waren noch Kläger da, die ungeduldig wurden. Die junge Freigesprochene aus der letzten Streitsache, welche fürchtete, daß in den aufgetauchten Verwicklungen ihre gute Sache in die Brüche gehen könnte, wagte eine Sicherheit zu verlangen:

– Ich bin denn frei, Sire? Eure Majestät wolle geruhen, es meinem Vater zu wiederholen.

Der König machte eine langsame Geberde.

– Zum Teufel mit den schwebenden Angelegenheiten! Diener, führet mein Maulthier vor! Hah, so soll die Sache nicht ablaufen! Die Kleine ist ja völlig toll! Man muß schleunigst ihrer habhaft werden. Niemals hat es ein solches Unglück gegeben. Knechte! blödes Gesindel! eilet doch voraus!

Und auf seinem Maulthier Macario, welches zum ersten Male in seinem langen, friedlichen Leben galoppirte, sah man den König Pausol inmitten einer weißen Staubwolke davon eilen, während der Wind bei dem raschen Ritt ihm die leichte Krone vom Haupte blies und sie drollig an ein Myrthenzweiglein hängte.

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