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Am anderen Morgen begab ich mich sogleich an die quälenden Vorbereitungen für die Beerdigung. Wohltuend war das Benehmen der Hotelangestellten. Sie kannten mich noch von meinem vorigen Besuch in Dachau.
Der junge Mann, der damals in der Nacht bei Heinz erschienen war, kam vorsichtig zu mir, als ich mich einen Augenblick allein im Schreibzimmer befand, und fragte mich nach dem Befinden meines Sohnes. Er schäumte vor Wut, als er hörte, was geschehen war, berichtete von zahllosen Selbstmorden dortiger Häftlinge und warnte mich, ich sollte schrecklich vorsichtig sein, sie hätten ja Gott sei Dank wenig Nazi-Verkehr in ihrem Hotel, aber man wisse nie, ob nicht ein Spitzel da wäre. Die Hotelangestellten seien sicher, die Gäste nicht. Ich sollte auch ja nicht im Lokal besonders freundlich zu ihm sein, er selber sei bewacht und gefährdet.
Unser erster Gang des Morgens war zur Gestapo. Der Posten unten am Eingang schien schon informiert, denn als ich nur meinen Namen sagte, wies er mich gleich an das zuständige Zimmer. Auch der Herr dort war äußerst höflich zu mir und wollte mir alles aus dem Wege räumen und gleich mit der städtischen Beerdigungs-Gesellschaft verhandeln. Ich sagte, ich wollte meinen Sohn lieber durch die Großdeutsche Feuerbestattung beerdigen lassen, weil meine Familie (allerdings mit Ausnahme meines ältesten Sohnes) Mitglied dieser Gesellschaft sei. Ja, natürlich, er wolle mit dieser Gesellschaft telefonieren. Man könne die Leiche ja sofort abholen lassen.
Ich: »Das wird nicht gehen. Der Herr Kommandant hat mir gesagt, daß Leichen von Schutzhäftlingen nur in der Nacht herausgegeben werden dürften.«
Er, sichtlich unangenehm berührt: »Aber so ein Unsinn! Nein, das muß ein Mißverständnis sein.«
Er traf alle Vereinbarungen mit der Bestattungs-Gesellschaft, und als ich mich gerade von ihm verabschiedet hatte, rief die Gesellschaft nochmals an, sie bedaure sehr, diesen Fall könne sie nicht übernehmen. Nun mußten wir doch zur städtischen Beerdigungs-Gesellschaft gehen. Ich verhandelte dort mit einer Beamtin, um die näheren Abmachungen für die Beerdigung zu treffen. Sie wunderte sich: »Die allerbilligste Beerdigung?«
»Ja«, es schien mir ein Hohn, meinen Sohn nach diesem Leben mit irgendwelchem Prunk zu begraben.
Sie: »Wissen Sie auch, daß gar keine Bäume in der Halle sind und gar kein Schmuck und gar keine Musik?«
»Ja, ja, ich weiß. Ich möchte auch darum bitten, daß mein Sohn in dem einfachen Holzkasten bleibt, in dem er in Dachau aufgebahrt war.«
Aber ich wollte ihn abholen. Ich bestellte einen Leichenwagen, in dem die Angehörigen mitfahren können.
»Nein, so etwas gibt es in München nicht.«
»Nun, dann möchte ich also ein Extra-Auto haben. Bei der Abholung wünsche ich unter keinen Umständen, daß es die billige Klasse ist. Dabei kommt es mir überhaupt nicht auf Geld an.«
Sie sah mich einen Augenblick prüfend an, dann sagte sie leise zu mir: »Würden Sie mir erlauben, Ihnen einen Rat zu geben? Es ist hierzulande nicht Sitte, daß die Angehörigen in einem Wagen hinter einem Leichenwagen herfahren. Es würde sehr auffallen, und ich fürchte, Sie könnten große Unannehmlichkeiten haben.«
Ich dankte ihr, dann wollte ich es lassen. Ich hatte ja nur im Lager zeigen wollen, daß ich mich nicht scheute, die üblichen persönlichen Ehrenbezeigungen zu erweisen.
Dann ging es zum Krematorium. Man war nett und höflich, sah etwas erstaunt auf, als ich von der einfachen Form der Beerdigung sprach, meinte wieder, es würde doch aber sehr kahl sein.
»Ich wünsche nicht, daß mein Sohn anders begraben wird, als er gelebt hat.«
»Ein Geistlicher?«
Ich wurde lebhaft: »Nein, ich wünsche unter keinen Umständen einen Geistlichen. (Ich fürchtete, einem deutschen Christen in die Hände zu fallen.) Aber ich möchte gute Musik haben.«
»Gute Musik? Gott ja, es wird eine Kleinigkeit auf der Orgel gespielt bei einer so billigen Beerdigung.«
»Was die Musik kostet, ist mir ganz gleichgültig. Ich wünsche eine ganz bestimmte Musik.«
Man rief den Organisten heran; ich sagte ihm, ich wollte ein ganz bestimmtes Stück aus der Matthäus-Passion.
Ja, das gab es in keinem Beerdigungsprogramm. Das war wirklich nicht möglich.
Ich: »Daran hätte mir sehr viel gelegen. Ich möchte so gern die Stelle haben: ›Da verließen ihn alle Jünger und flohen‹, bei der Gefangennahme Christi, wenn alles verängstigt von ihm zurückweicht.«
Er: »Ob es nicht etwas musikalisch Ähnliches sein könnte? Er würde schon etwas finden?«
Ich: »Es würde mir gerade an dieser Stelle sehr viel liegen; ich habe vor nicht langer Zeit mit meinem Sohn über diese Stelle gesprochen. Er arbeitete an einer Heliand-Übersetzung und erzählte mir, wie er durch eine ganz bestimmte Behandlung des Versmaßes die Stimmung dieser Szene herausgearbeitet habe. Er glaubte, daß der Dichter des Heliand genau dasselbe gewollt habe, was Bach achthundert Jahre später musikalisch bei der Vertonung derselben Szene zum Ausdruck gebracht habe.«
Der Organist sah mich lange an. Dann sagte er: »Natürlich läßt sich das machen. Ich habe die ganze Nacht Zeit. Ich hoffe, Sie werden mit der Musik zufrieden sein.«
Am Nachmittag ging ich mit Blumen ins Krematorium. Der Sarg war noch nicht da. Er kam auch bis sechs Uhr nicht. Ich mußte hinaus, weil alle Tore geschlossen wurden. Ich saß noch eine Stunde vor dem Kirchhofstor, bis der Wärter mir sagte, es hätte keinen Sinn, noch zu warten, vor dem nächsten Morgen würde kein Sarg mehr hereingebracht.
Also, es war nicht, wie der Gestapo-Beamte gemeint hatte, ein Mißverständnis. Nein: Leichen von Schutzhäftlingen durften nur in der Nacht herausgegeben werden.
Als wir uns am anderen Morgen dem Krematorium näherten, trat ein Pfarrer aus einem Hauseingang auf mich zu und sagte einige sehr liebe und tröstende Worte zu mir. Er sei ein großer Bewunderer meines Sohnes, habe sein Schicksal mit großer Anteilnahme verfolgt, und wie er, dächten Unzählige.
In der Krematoriumshalle fand ich den Sarg schön aufgebahrt, mit einem wundervollen Tuch bedeckt. Meine Blumen lagen darauf. Der Raum war mit grünen Pflanzen reich geschmückt, und hinter dem Sarge stand ein riesengroßes, glattes Holzkreuz, das in seiner strengen Einfachheit dem Raum ein unerhört feierliches Gepräge gab.
Merkwürdig, sie hatten mir doch gesagt, daß es so kahl und nüchtern sein würde, wenn ich die einfachste Form der Beerdigung wählte. Sie hatten mir auch gesagt, daß es ein nicht-kirchlicher Raum sein würde, wenn ich keinen Geistlichen dabei haben wollte. Und nun gab dies riesengroße Kreuz dem Raum einen ausgesprochen früh-christlichen Charakter. Wie merkwürdig, daß in dieser katholischen Gegend ein leeres Kreuz und kein Kruzifix in der Halle stand. Ich erfuhr später, daß es das Kreuz war, das man bei Beerdigungen von gefallenen Kriegern verwendet.
Die Musik setzte ein, mit der gewünschten Stelle aus der Matthäus-Passion. Sie war wundervoll ausgearbeitet und ausgesponnen und tönte in den verschiedensten Variationen fort.
Außer meiner Freundin und mir war kein Mensch im Raum. Ich hatte mich vorher vergewissert, daß kein Lager- oder Gestapo-Beamter die Feier durch seine Anwesenheit entweihte. Ich kniete am Sarge, bis er in der Tiefe versank.