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3. Kapitel.
Letztes Wiedersehen

Am Morgen nach meinem Gestapoverhör brachte der Postbote ein Paket. Absender: Lagerverwaltung Dachau. Es enthielt die letzten bescheidenen Dinge, die sich Hans noch nach Dachau gerettet hatte; Kamm und Bürste, einen Bleistift, ein Bildchen von mir, Nähzeug. Keine Zeile von ihm.

Ich brüllte laut auf: »Er ist tot!«

Man versuchte, mich zu beruhigen. Aber es gab doch keine andere Erklärung. Dann fand man beim Ausschütten des Kartons einen Zettel von der Lagerverwaltung: »Anbei die Gegenstände, die der Schutzhäftling bei seiner Entlassung nicht benötigt.« Das gab nun wieder einen kleinen Hoffnungsstrahl. Wird er etwa entlassen? Ist er vielleicht schon unterwegs? Aber mein Gefühl sagte mir eher, daß er tot sei. Ich war zu keiner klaren Überlegung fähig.

Heinz rief Dr. Berndorfer an, berichtete ihm den Tatbestand, ohne allerdings den beiliegenden Zettel zu erwähnen, behauptete, ich läge in tiefer Ohnmacht, und er müsse den Tatbestand aufklären, um mich zu beruhigen.

Heinz fragte: »Ist mein Bruder tot?«

Dr. Berndorfer: »Nein, mir ist nichts darüber bekannt.«

Heinz: »Die Todesfälle in Dachau sind doch wohl nicht so häufig, daß Sie nicht etwa darüber informiert werden würden?«

Dr. Berndorfer: »Es ist nicht anzunehmen, daß er tot ist. Ich würde doch sicher etwas darüber wissen.«

Heinz: »Würden Sie nicht so freundlich sein, sich gleich mit Dachau in Verbindung zu setzen?«

Dr. Berndorfer: »Das kann ich nicht tun.«

Heinz: »Dann möchte ich es tun. Wollen Sie mir bitte die Nummer des Lagers sagen?«

Dr. Berndorfer: »Ich habe keine Ahnung, wie man eine Verbindung mit Dachau herstellt.«

Heinz hatte auch keine Ahnung, aber er rief das Fernamt an und bekam tatsächlich Dachau. Er fragte nach dem Mann, der als Absender des Pakets gezeichnet hatte. Dieser kam auch wirklich ans Telefon. Auf die Frage, was die Übersendung des Paketes bedeute, erklärte er ganz gemütlich: »Ja, wissen's, s'ist halt so voll, und es ist so wenig Platz, da kann keiner mehr was für sich behalten.«

Heinz: »Aber Sie haben doch einen Zettel beigelegt, aus dem ich ersehe, daß mein Bruder entlassen wird.«

Er: »Das ist wohl nicht richtig ausgedrückt. Entlassen wird er nicht. Nur wenn er mal entlassen wird, dann braucht er die Gegenstände nicht.«

Das Gespräch ergab mit ziemlicher Bestimmtheit, daß Hans am Leben war.

Nach etwa zehn Tagen erhielt ich endlich die versprochene Besuchserlaubnis mit dem Bemerken, der Herr Reichsführer habe mir gestattet, wieder wie früher, jedes Vierteljahr einen Besuch zu machen. Ich hatte also gut »denunziert«.

Am andern Tag fuhr ich nach Dachau. Heinz begleitete mich, da ich nach all diesen Aufregungen einen Herzkollaps gehabt hatte.

In München angekommen, erkundigten wir uns sofort auf dem amtlichen Reisebüro nach einer Verbindung zum Konzentrationslager Dachau. Wir erhielten keine Auskunft. Diese Verbindung ginge sie nichts an, erklärte man uns äußerst unfreundlich. Ein Privat-Reisebüro erklärte (zwar sehr höflich), darüber wisse es gar nicht Bescheid. Nach diesen Verbindungen würde jetzt nicht mehr gefragt. Im Hotel wußte man auch nicht Bescheid, erklärte aber, man würde sich bemühen, und irgendeine Auskunft würden wir bestimmt noch im Laufe des Tages erhalten. Es erschien auch nach einiger Zeit ein Hotelangestellter und gab uns einige Ratschläge für die Fahrt dorthin.

Als ich schon schlafen gegangen war, klopfte es leise an der Zimmertür von Heinz. Derselbe Hotelangestellte erschien wieder und flüsterte: »Schläft die Frau Mama schon? Sie darf mich nicht hören. Ich muß Sie aber warnen. Die Zustände sind dort furchtbar. Wenn sie dort etwas sieht oder beobachtet, soll sie sich ja nicht hinreißen lassen. Sie muß tun, als ob sie nichts merkt, sonst wird sie sofort verhaftet.«

Er begann dann noch auf die Zustände und auf die Regierung zu schimpfen, und Heinz sagte: »Was wollt denn ihr Münchener? Im Bürgerbräu hat's doch angefangen!«

Er: » Wir? Herr, das ist eine Beleidigung. Ihr Ausländer, ihr Preußen habt uns die Suppe eingerührt!«

Wir fuhren am anderen Tag um acht Uhr nach Dachau. Wir zogen an der Omnibus-Haltestelle bei verschiedenen Leuten Erkundigungen ein.

Jeder erbleichte, wenn er das Wort »Lager« hörte. Sie alle erklärten, in die Gegend ginge kein anständiger Mensch mehr. Selbst ein Mann mit einem Parteiabzeichen im Knopfloch sagte empört: »Seit 33 will ich nichts mehr mit Dachau zu tun haben.«

Ob wohl ein Lokal in der Nähe wäre, fragte Heinz. Er müsse mich hinbegleiten und draußen eine Stunde auf mich warten. Und es regnete. Nein, ein Lokal in der Nähe gab es nicht. Aber er solle um Gottes willen nicht in der Nähe des Lagers warten. Wer sich da herumtreibe, werde sofort eingesperrt.

Von dem Ort Dachau aus ist es noch eine lange Autofahrt bis zu dem Lager hin, das ganz einsam liegt. Eine hohe Mauer mit Stacheldraht umgibt den Riesenkomplex. Es ist wie eine kleine befestigte Stadt. Eine lange breite Straße führt mitten hindurch, an flachen, langgestreckten, barackenartigen Gebäuden vorbei, die wie Ausstellungshallen aussehen.

Ich mußte zunächst eine Stunde warten, denn der Herr Kommandant war nicht anwesend, und ohne die persönliche Genehmigung des Herrn Kommandanten durfte kein Mensch das Lager betreten. Schließlich kam die Genehmigung, und ich wurde die lange Straße hinunter in ein kleines Büro geführt.

Die Straße war wie ausgestorben, nur ein einzelner Schutzhäftling putzte Fensterscheiben, neben ihm ein Posten mit Gewehr.

Kurz vor dem Büro kam mir ein Wagen entgegen, hochbeladen mit allerhand Geräten, der von etwa einem Dutzend Schutzhäftlingen geschoben und gezogen wurde. Sie sahen bleich und vergrämt aus und trugen die verschiedensten Abzeichen, rote, blaue, grüne Binden um die Arme. Ich konnte nicht feststellen, was es zu bedeuten hatte. Sie starrten mich alle an wie eine unwirkliche Erscheinung, und der mich begleitende Posten brüllte sie an: »Was habt Ihr herzuglotzen, Augen gerade aus!« Keiner wagte mehr den Blick zu heben.

Im Büro saß ein Mann in Zivil an einem Schreibtisch und gab mir sehr genaue Verhaltungsmaßregeln. Das war ich an sich von den anderen Lagern her gewöhnt. Aber diese Verhaltungsmaßregeln waren sehr viel schärfer, als die mir bisher bekannten. Zunächst: ich durfte keine körperliche Berührung mit meinem Sohn haben. Es mußte ein breiter Tisch zwischen uns sein.

Ich: »Ich habe aber bisher immer bei der Begrüßung und beim Abschied meinem Sohn einen Kuß geben können. Weshalb geht denn das hier nicht?«

Er: »Ich verstehe schon, daß eine Mutter ihrem Sohn, wenn sie ihn nach langer Zeit wieder sieht, einen Kuß geben möchte. Das ist auch nicht Herzlosigkeit, aber es könnten bei dieser Gelegenheit Mitteilungen zugesteckt werden.«

Dann das übliche Verbot, daß ich über nichts sprechen durfte, was das Lager angeht, daß unser Gespräch absolut deutlich sein müsse, und daß beim geringsten Verstoß der Besuch sofort abgebrochen werden würde.

Er fragte: »Ihr Sohn ist Jude?« Ich klärte ihn sehr eingehend über unseren Stammbaum auf.

Hans, der anscheinend auch das Verbot der Begrüßung nicht kannte, wollte auf mich zukommen. Ich rief ihm gleich zu, um einen Abbruch des Besuches zu vermeiden: »Bitte, bleib drüben an der anderen Seite des Tisches stehen. Hier ist unsere übliche Begrüßung nicht erlaubt.«

Der Blick meines Sohnes schien mir zu sagen: »Da siehst du schon, wie anders es hier ist.«

Wir saßen einander gegenüber an den Schmalseiten des etwa zwei Meter langen Tisches, der uns trennte, und der so hoch war, daß ich nur ein Brustbild meines Sohnes vor mir hatte. Der Wächter saß zwischen uns an einem Sondertisch, so daß er jedem von uns näher war als wir einander und machte Notizen über unser Gespräch. Es wäre ausgeschlossen gewesen, sich auch nur das geringste zuzuflüstern, sich auch nur das leiseste Zeichen zu machen. Ich sah nur ein sehr schmales und elendes Gesicht mit sehr müden, traurigen Augen.

Er war gebräunt, was auf Außenarbeit schließen ließ. Leider konnte ich die Hände nicht sehen, da sie durch den hohen Tisch verdeckt waren. Ich sah nur eine Bewegung, die automatisch von Zeit zu Zeit nach der Herzgegend ging. Ein Zeichen, daß es mit seinem Herzen wieder sehr schlecht bestellt sein mußte.

Er trug eine sehr schäbige und abgerissene feldgraue Uniform mit roten aufgenähten Streifen, auf denen wiederum ein runder Fleck aufgenäht war.

Ich fragte nach seinem Gesundheitszustand. Er sähe aus, als ob er Schmerzen habe.

Er wehrte erschrocken ab und sagte klanglos: »Es geht mir ausgezeichnet.«

Er sprach mit merkwürdig leiser und klangloser Stimme. Nur ein paarmal wurde er während der Unterhaltung etwas lebhafter. Aber er schien mir ein anderer Mensch, wenn ich ihn mit seiner Lebhaftigkeit, mit seinem Interesse an allem, mit seiner Freude über mein Kommen bei meinen früheren Besuchen verglich. Während unsere Unterhaltung sonst sprudelte, kamen wir beide zuerst gar nicht recht in Gang. Wir fühlten wohl beide, daß wir uns schrecklich Wichtiges zu sagen hatten und es einfach nicht konnten.

Ich sagte: »Du hast ja meinen Besuch erwartet.«

Er: »Nein!«

»Weshalb denn nicht? Hast du denn meine Nachrichten nicht bekommen?«

»Ja, du hast mir ja geschrieben, daß du kommen würdest. Aber ich habe es nicht geglaubt.«

»Ich habe dir doch aber geschrieben, daß ich direkt vom Herrn Reichsführer die Erlaubnis bekommen habe. Danach konnte doch kein Zweifel an dem Besuch bestehen.«

»Nein, das hast du mir nicht geschrieben.«

Wir wechselten einen erschrockenen und forschenden Blick. Und wir hatten beide in diesem Augenblick begriffen, daß man meinen Brief beschlagnahmt hatte, weil man unseren Briefwechsel beargwöhnte. Dieser Brief enthielt die Bemerkung über den tapferen Schwaben Stauf.

Hans: »Hast du meinen letzten Brief schon bekommen?«

Ich: »Nein, aber ich bin ja eben weggefahren. Den werde ich wohl zu Hause vorfinden.«

Wieder ängstliches Schweigen.

Ich erzählte ihm dann, daß ich jetzt wieder jedes Vierteljahr kommen dürfe, der Herr Reichsführer habe es ausdrücklich genehmigt.

Er sah mich wieder mit einem merkwürdigen Blick an, als wollte er sagen: »Wir werden uns in einem Vierteljahr nicht wieder sehen.«

Er fragte mich sehr eindringlich, ob meine Studien über Uta von Naumburg noch etwas ergeben hätten. Ich schilderte ihm noch einmal das, was ich im beschlagnahmten Brief geschrieben hatte, in etwas anderer Form, und daß eine große Aktion für ihn losgehen sollte. Ich fragte ihn um seinen künstlerischen Rat über ein bestimmtes Filmthema, an dem Heinz arbeite, und er sagte: »Ja, ich bin dafür. Ich halte das Thema für wirkungsvoll.« Das hieß: »Ja, arbeitet, soviel ihr könnt.« Er meinte dann übrigens noch: »Ich glaube doch nicht, daß der Inhalt der angelsächsischen Handschrift, von der du schriebst, historisch wahr ist. Ich glaube, daß der Roman, über den ich die Kritik gelesen habe, doch das wahre Tatsachenmaterial verarbeitet hat.« Das hieß, daß er nicht an eine von mir angedeutete Befreiung, sondern an seinen baldigen Tod glaubte.

Ich fragte nach seiner Lektüre. Ich hatte früher eine Zeitung nach seiner Wahl für ihn abonnieren dürfen. Zuletzt durften nur noch ausgesprochene Parteizeitungen wie der »Völkische Beobachter« und »Der Angriff« gehalten werden, die durch das Lager bestellt wurden, und wofür ich das Geld immer an ihn hatte schicken müssen. Dies Geld hatte er auch schon seit einigen Wochen abbestellt. Daher wollte ich versuchen herauszubekommen, ob er überhaupt noch eine Zeitung zu lesen bekam.

Ich: »Wir lesen doch jetzt beide den ›Völkischen Beobachter‹. Ich denke manchmal, ob du wohl gerade dasselbe liest, was ich lese.«

Er reagierte nicht darauf. Also wußte ich, er las keine Zeitung mehr.

Ich: »Wie ist es überhaupt mit deiner Lektüre, da du keine Bücher mehr hast? Ihr habt hier wahrscheinlich auch wieder eine Lagerbibliothek?«

Er, abwehrend: »Ja, ja, wenn ich mal Zeit habe.«

Also ich wußte, entweder durften sie nicht lesen, oder sie hatten einfach keine Zeit dafür. Auch nicht in den sogenannten Arbeitspausen.

Aber hier unterbrach mich schon der Aufseher: »Frau Litten, Sie wissen doch, daß Sie keine Bücher schicken dürfen. Was fragen Sie dann erst danach?«

Ich: »Ach nein, schicken wollte ich auch keine Bücher.« Und ich brach das Gespräch hierüber ab.

Ich erzählte Hans dann noch allerhand Geschichten von den Kindern seiner Freunde, für die er sich trotz allem Leiden noch immer sehr interessierte, und brachte ihm auf diese Weise allerlei kleine Trostsprüche bei. Zum Beispiel erzählte ich, daß Margots jüngstes Kind Elnis jetzt eine Leidenschaft fürs Singen bekommen hätte, sich zum Dirigenten seiner Freundesschar aufgeworfen hätte und sie bis zur Besinnungslosigkeit sein Lieblingslied üben ließ: »Verzage nicht, du Häuflein klein.« Ich erzählte, daß die Schwester von Elnis, Birute, jetzt so altklug würde, einen Film mit der kleinen Shirley Temple gesehen hätte, seither bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ihren Ausspruch zitierte: »Ein Jahr des Leidens ist nur ein Tropfen in dem Meer der Freude.« Hans verstand diese kleinen Tröstungen, wenn er auch nicht daran glaubte. Der Wächter begriff sie nicht; denn ich schilderte solche Geschichten äußerst temperamentvoll, nur mit einem leisen Nachdruck bei den wichtigen Stellen, und schilderte so lebhaft-lustig den eifrig dirigierenden Elnis und die arme geschundene Sängerschar, daß der Wächter darüber den Kern der Sache nicht aufnahm.

Als wir uns verabschiedeten, warfen wir uns eine Kußhand zu, und Hans sah mich mit einem unendlich lieben und wehmütigen Lächeln an. Er wußte, daß es sein Abschied war.

Ich bedankte mich bei dem Wachhabenden und sagte: »Ich hoffe, ich habe keinerlei Anstoß gegeben, möchte Sie aber doch noch um eine Auskunft bitten, da bei Ihnen ja so furchtbar strenge Bedingungen herrschen. Was passiert denn, wenn man versehentlich mal einen Verstoß macht, zum Beispiel eine Zeile zu viel schreibt?«

Er: »Das kommt ganz darauf an. Wenn Sie einen rein formalen Verstoß machen, bekommen Sie den Brief zurück. Schreiben Sie aber etwas, was inhaltlich beanstandet wird, so kommt der Brief zu den Akten des Häftlings.«

Also ich wußte nun, mein letzter Brief lag bei den Akten.

 

Heinz hatte im Auto auf mich gewartet. Das war nach dem Rat des Chauffeurs der sicherste Platz. Heinz gab mir sofort ein Zeichen, daß ich mich nicht auf ein Gespräch über Hans und auch nicht auf ein Gespräch mit dem Chauffeur einlassen sollte. Er hatte, wie er mir später sagte, versucht, den Chauffeur etwas auszufragen, und schon bei der ersten leisesten Anzapfung hatte er einen begeisterten Lobgesang angestimmt, erzählt, was der Kommandant Loritz für ein großartiger Mann wäre, was für feine Kerle die SS-Leute wären, von denen einige Freunde von ihm seien, und was für ein angenehmes Leben die Häftlinge führten. Na, da wußte man ja Bescheid.

Zu Hause fand ich den Brief, den Hans erwähnt hatte, nicht vor. Also, auch der war beschlagnahmt. Ich mußte Hans warnen und schrieb eine kurze Karte von drei Zeilen (zehn waren erlaubt), daß ich mich so sehr gefreut hätte, ihn wiederzusehen, ihm aber ausführlich erst schreiben würde, wenn sein Brief eingetroffen wäre, von dem er gesprochen hätte. Dann mußte er ja Bescheid wissen. Diese Karte kam umgehend zurück, einfach mit einem Stempel versehen: »Zurück.« Was das zu bedeuten hatte, war mir völlig unverständlich.

Ich meldete mich nun wieder bei Herrn Hauptmann Suchanneck und hielt ihm die Karte unter die Nase.

»Können Sie an dieser Karte irgend etwas finden, was zu beanstanden ist?«

»Nein.«

»Können Sie mir erklären, weshalb ich diese Karte zurückbekommen habe?«

»Nein.«

»Also, was soll ich nun machen? Ich habe bei meinem Besuch festgestellt, daß unsere beiden letzten Briefe beschlagnahmt worden sind. Um nun etwas durchzubringen, habe ich diese kurze und harmlose Karte geschrieben und bekomme sie nun wieder zurück.«

»Da müssen Sie sich zu Herrn Dr. Berndorfer begeben, der mit den Lagerangelegenheiten zu tun hat. Er wird Ihnen schon eine Erklärung geben können. Im übrigen, wie waren Sie denn mit Ihrem Besuch bei Ihrem Sohn zufrieden?«

»Spuren von Mißhandlungen habe ich nicht gesehen.«

Suchanneck, sichtlich befriedigt: »Nun, da sehen Sie mal wieder, wie unnötig Sie sich aufgeregt haben, und daß alles in bester Ordnung ist.«

Ich: »Ich hatte noch nicht ausgeredet. Spuren von Mißhandlungen habe ich nicht gesehen. Aber ich habe nur den Kopf meines Sohnes, und auch den nur auf zwei Meter Entfernung sehen können. Er sah sehr elend aus, war völlig apathisch und machte den Eindruck eines Menschen, der nicht mehr lange leben wird.«

Suchanneck: »Ach, da übertreiben Sie. Es ist doch ganz natürlich, daß ein Mensch, der fünf Jahre im Lager sitzt, nicht gerade vergnügt und lebhaft ist.«

Ich: »Ich habe ja meinen Sohn in den fünf Jahren in den verschiedensten Situationen gesehen. Ich weiß ganz genau, was es bedeutet, wenn er so uninteressiert und matt ist. Im übrigen möchte ich Sie noch um eine Auskunft bitten. Die jetzige Uniform meines Sohnes hat nicht mehr, wie früher, nur den roten Streifen, der das Zeichen des politischen Häftlings ist, sondern jetzt befindet sich auf diesem roten Streifen sowohl auf der Brust wie auf den Beinen ein großer gelber Fleck.«

Suchanneck: »Ich bin gar nicht informiert über die Uniformen in den Lagern. Ich kann Ihnen nicht sagen, was das ist.«

Ich: »Sie wissen doch wohl, was früher im Mittelalter der gelbe Fleck bedeutet hat?«

Er: »Nein, ich habe wirklich keine Ahnung.«

Ich: »Der gelbe Fleck ist das Abzeichen der Juden. Den hat man jetzt wieder hervorgeholt und auf den Uniformen der Häftlinge in den Judenkompanien angebracht. Ich habe das persönlich bei einigen Leuten in Lichtenburg gesehen. Wie kommt es, daß mein Sohn jetzt plötzlich den gelben Fleck trägt, den er bisher noch nie an seiner Uniform gehabt hat?«

Er: »Von diesen Dingen weiß ich überhaupt nichts. Da müssen Sie sich an Herrn Dr. Berndorfer wenden.«

Und beim Abschied dann noch: »Also, Sie werden ja nun beruhigt sein, daß Sie keine Spuren von Mißhandlungen festgestellt haben.«

Bei Dr. Berndorfer fand fast wörtlich dasselbe Gespräch statt, nur mit dem Unterschied, daß er mich an die Lagerkommandantur verwies und hinzufügte: »Aber nicht wahr, Sie werden sehr höflich und sehr liebenswürdig schreiben.«

Ich schrieb also sehr höflich und sehr liebenswürdig an den Lagerkommandanten.


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