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Die Briefe, die ich aus dem Lager bekam, klangen ganz zufrieden. Ich gab übrigens der englischen Dame, die am nächsten Tag nach England ging, die Mitteilung mit, daß es meinem Sohn verhältnismäßig gut ginge und daß das Bein, wenn auch völlig steif, doch vorhanden sei.
Während ich noch darüber nachdachte, wie ich wohl zu einem zweiten Besuch gelangen könnte, kam mir eine Bestellung zu Hilfe, die mir Hans durch einen entlassenen Schutzhäftling machen ließ. Es war ein Berliner Proletarierjunge, der völlig verlumpt bei mir erschien. Er erklärte, er brächte Grüße von Hans, und sein zerrissenes Jackett aufklappend, deutete er auf einen wollenen Sweater: »Erkennungsmarke«. Es war ein Sweater, den ich Hans geschenkt hatte, und den er diesem Jungen gegeben hatte mit der Bemerkung, er solle ihn erst zurückschicken, wenn er wieder zu einem warmen Stück gelangt sei. Ich gab ihm sofort meinen Sweater und tauschte ihn gegen den meines Sohnes ein.
Der Junge hatte das Reisegeld von meinem Sohn bekommen und berichtete, wie sehr Hans immer geholfen hätte mit dem Geld, das er von uns bekam. Man durfte damals jede Woche fünfzehn Mark schicken. Hans verlangte anfangs wesentlich weniger, aber es steigerte sich rasch zur voll erlaubten Summe, weil er viel für andere ausgab.
Dieser Junge bestellte mir, es ginge das Gerücht, daß ein Teil der Häftlinge nach Dachau kommen würde. Ich solle doch alles tun, um das zu verhindern.
Ich meldete mich also wieder bei Hauptmann Frodin an, versicherte ihm aber am Telefon, daß ich weder eine Beschwerde vorbringen noch um Besuchserlaubnis bitten wolle. Ich trug ihm vor, daß in Berlin das Gerücht kursiere, verschiedene Leute von Lichtenburg sollten nach Dachau abgeschoben werden, das für ein besonders schlechtes Lager gelte.
Er: »Nein, wenn Ihr Sohn nach Dachau kommen würde, so müßte ich das schon wissen. Natürlich kann ich Ihnen nicht garantieren, daß nicht später einmal der Befehl kommt. Aber im Moment ist nichts derartiges zu erwarten. Aber abgesehen davon, es wäre kein Unglück; denn Dachau ist ein Musterlager mit vorzüglichen sanitären Anlagen.
Ich: »Die sanitären Einrichtungen helfen einem aber nicht viel, wenn man zu Tode gequält wird.«
Er: »Nein, Mißhandlungen kommen dort bestimmt nicht vor.«
Ich: »Sie wissen ja, was mein Sohn alles erlebt hat, und über Dachau gehen die furchtbarsten Gerüchte um.«
Er: »Wenn das einmal so gewesen sein sollte, was ich mir nicht vorstellen kann, ist es jetzt bestimmt nicht mehr der Fall. Ich habe gerade vor vierzehn Tagen Dachau inspiziert und habe alles vorzüglich gefunden.«
Ich: »Das ist ja auch kein Wunder bei der Art, wie diese Inspektionen gemacht werden. Es will gar nichts besagen, wenn Sie nichts gesehen haben. Da das Lager einige Tage vorher die Mitteilung bekommt, daß es inspiziert wird, so haben die Mannschaften dort die Möglichkeit, alles Unangenehme aus dem Wege zu räumen und die mißhandelten Leute irgendwo zu verstecken. Sie müßten überraschend in den Lagern erscheinen, dann würden Sie eher wissen, was dort los ist.«
Er: »Nein, nein, diese Dinge kommen bestimmt nicht mehr vor. Sie haben sich ja auch in Lichtenburg davon überzeugt, daß alles gut ist, und ich habe bei meiner Revision in Dachau einen Kommunisten ausgefragt, der mir gesagt hat, daß er dort ausgezeichnet behandelt würde.«
Ich: »Sie wissen ja, daß mir mein Sohn auch immer erklärt hat, wie ausgezeichnet er behandelt wird, während man ihm die Spuren der Mißhandlungen ansah. Auf solche Aussagen ist natürlich nicht das mindeste zu geben.«
Er aber blieb weiter fest überzeugt von den wahrheitsgemäßen Aussagen des Mannes, den er vernommen hatte und der ihm, »obwohl er Kommunist war«, einen ausgezeichneten Eindruck gemacht habe.
Ich kam noch einmal auf Lichtenburg zurück, bedankte mich wiederum und sagte: »Sie sehen, wie richtig es war, mich einmal dorthin zu lassen. Wenn man mehr Gelegenheit haben würde, sich von dem Wohlbefinden der Gefangenen zu überzeugen, würden jedenfalls falsche Gerüchte nicht aufkommen. Ich habe sofort nach England weitergegeben, daß das Gerücht über das abgenommene Bein meines Sohnes falsch war und daß ich davon überzeugt wäre, daß mein Sohn zur Zeit anständig behandelt würde.«
In dem Moment, als ich die Bemerkung über England machte, wurde der Hauptmann sichtlich nervös, trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte und sah mich immer prüfend an. Ich hatte das sichere Gefühl, eine Dummheit gemacht zu haben, indem ich meine Beziehungen zu England eingestand, und sagte etwas eingeschüchtert: »Es schien mir sehr richtig, daß ich dies tat; denn ich persönlich lege den allergrößten Wert darauf, daß keine falschen Greuelnachrichten im Ausland erscheinen, und werde auch immer bereit sein, sie aufzuklären.«
Plötzlich lächelte er mich sehr liebenswürdig an: »Wie lange haben Sie denn den Jungen nicht gesehen?« Und als ich sagte: »Ein viertel Jahr«, fragte er: »Wollen Sie ihn wiedersehen? Ich gebe Ihnen Besuchserlaubnis.« Nachdem ich sie sicher hatte, lachte ich und sagte: »Ich möchte Sie aber noch einmal darauf aufmerksam machen, daß ich mein am Telefon gegebenes Wort gehalten habe und nicht um Besuchserlaubnis gebeten habe. Sie haben sie mir freiwillig geschenkt. Sonst wird mir nachher womöglich nachgesagt, daß ich mir unter falschen Vorspiegelungen eine Unterredung verschafft hätte.«
Er versprach mir beim Abschied, daß ich mir jedes Vierteljahr die Besuchserlaubnis bei ihm abholen könnte.
Dieses Mal durfte ich sogar eine Stunde bei Hans bleiben, was für die beiden nächsten Jahre beibehalten wurde. Ich war sehr zufrieden mit seinem Befinden. Er versicherte mir in wirklich überzeugender und freier Weise, daß es ihm ausgezeichnet ginge und daß ich mir keine Sorgen um ihn zu machen brauche.
In einer Gastwirtschaft, wo ich die Zeit bis zum Abgang des Omnibusses verbrachte, erfuhr ich durch geschicktes »Plaudern« mit dem Wirt und den Gästen viel über das Lager, diesmal, daß jetzt ein neuer und »sehr anständiger« Kommandant namens Reich da sei.
Selbstverständlich wurden die Gespräche mit Hans wie immer streng überwacht, aber trotzdem fand sich jedesmal eine Gelegenheit, sich durch ein Zeichen oder ein paar dazwischengeworfene Worte zu verständigen. Hans nahm stets sehr lebhaften Anteil an allem, was ich ihm über seine Freunde erzählte. Er selber sprach eingehend und interessiert von seinen wissenschaftlichen Arbeiten. Jedes Gespräch über Politik und alles, was das Lager betraf, war verboten.
*
Jetzt besuchten mich öfter Leute, die mit Hans zusammen im Lager, in derselben Gruppe, ja im selben Raum gewesen waren. Ich hörte, daß er in der Buchbinderei arbeite (selbst eine Frage nach seiner Beschäftigung wurde mir bei meinem Besuch nicht erlaubt), daß er von allen Schutzhäftlingen geliebt und verehrt werde, daß er selbst den besseren SS-Leuten wegen seiner Gelehrsamkeit imponiere, so daß man ihn für eine Art Weltwunder an Gelehrtheit halte. Die Mannschaften kamen mit ihren juristischen Schwierigkeiten zu ihm. Einer forderte ihn auf, ihn in der Sache, in der Hans ihn beraten hatte, nun auch vor Gericht zu vertreten. Er war sehr erstaunt, als Hans ihm sagte, er dürfe keine Anwaltstätigkeit mehr ausüben. Er hatte sich eingebildet, wenn er als SS-Mann das wünsche, würde es ihm gestattet werden.
Ein anderer kam sogar mit seinem Liebeskummer zu ihm, er müsse doch auch in so etwas gute Ratschläge geben können. Hans empfahl ihm, Rilke zu lesen. Er tat das auch eifrig und ließ sich die schwierigen Sachen von Hans erklären. Ob es den Liebeskummer beseitigt hat, habe ich nicht erfahren.
Ich hörte auch, was die Briefe der Angehörigen für die Häftlinge und besonders für Hans bedeuteten. Sie wurden immer und immer wieder gelesen. Hans konnte sich niemals entschließen, einen freiwillig zu vernichten. In Lichtenburg saß er mit seinen zuverlässigen Freunden oft viele Stunden der Freizeit über meinen Briefen, jeder Satz darin wurde von jedem von ihnen daraufhin durchgesehen, ob er irgend etwas besonderes zu bedeuten hätte.
So wurden denn auch die Briefe, die wir ihm schrieben, immer mehr zu einer wohlabgewogenen Arbeit, besonders für Heinz, der viel geschickter tarnte als ich. Sie mußten Hans Anregung geben. Ich ging in Ausstellungen und berichtete eingehend darüber oder über neuerschienene Bücher, die ihn interessieren konnten. Die Briefe mußten auch etwas fürs Herz enthalten. Alles über seine alten Freunde, alles über die entlassenen Schutzhäftlinge interessierte ihn aufs lebhafteste, vor allem aber jeder Bericht über die Kinder seiner Freunde. Auch ihre Erziehung lag ihm sehr am Herzen. Noch in seinem letzten Brief aus der allerschrecklichsten Zeit gab er Anweisung, wie man den zweijährigen Jungen seiner Freundin Sulamith, bei dem sich musikalische Begabung zeigte, davor behüten sollte, schlechte Musik zu hören. Seine Lieblinge waren die Fürstschen Kinder, und dann kam bald noch das Kind von Walter und Sulamith hinzu, das in Spanien in der Emigration geboren worden war. Die Mütter dieser Kinder sorgten rührend dafür, daß ich Hans in fast jedem Brief nette Begebnisse erzählen und ein Bild beilegen konnte. Das gab den Briefen einen harmlosen Anstrich. Vielleicht hätte es die Kontrolle doch verstimmt, wenn nur immer von gebildeten Angelegenheiten die Rede gewesen wäre.
Eigentlich durften die Briefe nach Lichtenburg nur vier Seiten enthalten. Ich dehnte sie aber allmählich unbeanstandet auf acht aus, als ich erfahren hatte, daß der Zensor meine Briefe »direkt gern las«, weil sie immer »so schrecklich interessant« wären und so viele nette Kinderwitze enthielten. Außerdem hatte es ihm die so bequem zu lesende Maschinenschrift angetan. Er wünschte, daß man es zur Vorschrift erheben sollte, daß alle Briefe mit der Maschine geschrieben würden, weil es die Kontrolle so erleichterte.
Leider wurde dieser nette Mann durch einen neuen Zensor ersetzt, dem meine Briefe gar nicht gefielen. Ich bekam einen zurück, »weil zu lang«, an andere machte er unfreundliche Randbemerkungen: »Sie soll doch lieber gleich eine Kunstzeitung einschicken.« Jedenfalls mußte ich meine Briefe auf das Normalmaß von vier Seiten beschränken, und mit der zunehmenden Anzahl von Häftlingen wurde die Zeilenzahl immer mehr beschränkt.
Hans machte sich große Sorge um seine Freunde Walter und Sulamith, als der spanische Bürgerkrieg ausbrach. Er fand es selbstverständlich, daß sie dort für Freiheit und Menschlichkeit kämpften. Walter, der als Photograph für die Regierung tätig war, hatte an seinem Revolver ein kleines goldenes Kätzchen befestigt, das Hans während seiner Gerichtsverhandlungen als Talisman bei sich getragen hatte. (Führte er nicht denselben Kampf wie Hans, nur in anderer Form?) Ich mußte Hans das erzählen und tarnte zu diesem Zweck Walter als Franco-Kämpfer. Die Idee dieser Tarnung ließ Hans in sein helles unbeschwertes Kinderlachen ausbrechen, das wir alle so an ihm liebten und das ich sonst nie während seiner Gefangenschaft von ihm gehört hatte. Wie viele seiner Freunde und Freundinnen dort im Kampf gegen die faschistische Barbarei starben, habe ich ihm nie erzählt.
Ich hörte auch von mehreren Häftlingen, daß man ihnen die Entlassung angeboten hatte, wenn sie sich dafür zu Spitzeldiensten verpflichteten. Auch im Lager sicherte man günstigere Bedingungen zu, wenn dafür Mithäftlinge denunziert wurden. Das erschwerte das Leben der Häftlinge sehr, weil man immer mißtrauisch sein mußte, denn mancher bisher anständige Mensch erlag dieser Versuchung. Wenn ich meine Besucher fragte: »Hat man Hans das auch angeboten?« sahen sie mich verblüfft an: »Nein, bei Hans hätte das denn doch niemand gewagt.«
Man berichtet mir weiter, daß Hans wirklich eine gewisse Sonderstellung habe. Selbst der Kommandant war von seiner Vornehmheit beeindruckt und hat ihn verschiedentlich zur Entlassung vorgeschlagen.
Hans hatte sogar die Möglichkeit, anderen Häftlingen zu helfen, die sich in besonders ungünstigen Positionen befanden, indem er sie als Arbeitskraft für die Buchbinderei anforderte. Er hatte die Leitung der Buchbinderei, hatte dafür zu sorgen, daß alles gut und pünktlich abgeliefert wurde. Wie er alles einteilte, darum kümmerte sich niemand. So hatte er auch neben der offiziellen Freizeit oft die Möglichkeit, wissenschaftlich zu arbeiten, da er in dem ruhigen Raum verhältnismäßig ungestört war. Er ließ sich ganze Pakete mit wissenschaftlichen Büchern kommen, die oft schwer aufzutreiben und ziemlich kostspielig waren. Daneben verlangte er zu meinem Erstaunen auch eine ganze Menge Detektivschmöker. Man erzählte mir, daß sie zur »Bestechung« der SS-Leute bestimmt waren, die ziemlich scharf darauf wären.
Sein Hauptinteresse galt der mittelalterlichen Literatur. Er übersetzte frühhochdeutsche Werke und arbeitete an einem Lehrbuch für Schulkinder im Alter von etwa vierzehn Jahren, denen er die Schönheit dieser Kultur nahebringen wollte. Er stellte zu diesem Zweck Werke der bildenden Kunst und Literatur zu Beispielen zusammen. Für die Beispiele aus der Literatur machte er zum größten Teil ausgezeichnete eigene Übersetzungen. Als er beim Verlassen der Lichtenburg all sein Hab und Gut zurückschicken mußte, erhielt ich unter vielen anderen Arbeiten auch den Entwurf zu dieser Zusammenstellung, in der schönen Blockschrift der Stefan-George-Bücher geschrieben.
Hans übte einen starken erzieherischen Einfluß auf die Häftlinge seiner Gruppe aus. Er sorgte dafür, daß sich jeder nach seinen Fähigkeiten weiterbildete. Selbst mit Dingen, die ihm an sich nicht lagen, beschäftigte er sich zu diesem Zweck. Er ließ sich zum Beispiel ein mathematisches Lehrbuch kommen, um es mit einem ehemaligen Volksschüler, der naturwissenschaftlich begabt war, durchzuarbeiten.
Hans erwähnte jetzt öfter in seinen Briefen, daß er nun einen sehr netten Arbeitskameraden hätte, der sehr anregend für ihn sei. Ich glaubte, daß es sich um einen Mann handeln müsse, der Germanistik studierte, um so mehr, als mir ein Universitätsprofessor dieses Faches gesagt hatte, es sei ganz unmöglich, daß mein Sohn seine frühmittelalterlichen Arbeiten ohne das genügende Nachschlagematerial bearbeite. Seine Studenten im Seminar könnten so etwas jedenfalls nicht, nicht einmal mit allem dazugehörigen Material. Ich erfuhr später, daß der Kamerad ein Maurer sei, der niemals von diesen Dingen eine Ahnung gehabt hätte, aber unter der Anregung von Hans ein leidenschaftliches Interesse dafür genommen hätte.
Immer wieder kamen jetzt entlassene Schutzhäftlinge aus der Lichtenburg zu mir. Es waren junge Leute, oft sehr intelligent und gebildet, immer grundanständig in ihrer Gesinnung. Sie erzählten mir so ausführlich, daß ich mir von dem Leben dort ein wirklich gutes Bild machen konnte. Diejenigen, die in Berlin blieben, kamen öfter zu mir; denn Hans hatte mir ans Herz gelegt, daß ich mich um sie kümmern und dafür sorgen müsse, daß das Interesse für geistige Dinge, das er in ihnen erweckt hatte, nicht wieder einschlief. Er meinte, daß das sehr wichtig für sie sei, besonders wenn sie keine Arbeit finden könnten.
Einer von ihnen wohnte bei mir ein paar Tage auf der Durchreise. Er sagte: »Eigentlich bin ich traurig, daß ich entlassen worden bin. Wer soll nun für Hans sorgen? Er braucht einfach jemanden, der für ihn sorgt und der aufpaßt, daß seine Gutmütigkeit nicht zu sehr ausgenutzt wird. Wenn er zum Beispiel aus der Kantine Eßwaren kauft (man konnte in der Kantine des Lagers allerlei Eßwaren des täglichen Lebens kaufen) oder am Sonntag mal Kaffee und Kuchen bestellt für die anderen, so ißt er nie mit, weil das Geld nicht für alle langt. Ich habe mit vieler Mühe durchgesetzt, daß die andern nicht essen, ehe Hans sich nicht auch etwas genommen hat.« Er hatte Hans manchmal heimlich Kaffee und allerhand schöne Dinge zubereitet, und er fürchtete, daß nun, da er fort sei, das alles aufhören würde. Er meinte: »Wenn sie mich dort gefragt hätten, ob ich entlassen werden wolle, hätte ich gesagt: ›Nein, ich bleibe lieber hier, solange Hans hier ist.‹ Allerdings, wenn sie mich jetzt fragten, nachdem ich die Freiheit wieder kennengelernt habe, würde ich wohl doch ›Ja‹ sagen.«
Als er abreiste, zitterten ihm die Hände so, daß er nicht damit zurechtkam, sein kleines Köfferchen zu packen. Ich merkte ihm an, wie furchtbar schwer er sich von meiner Häuslichkeit trennte. Vielleicht stieg ihm eine Ahnung auf, wie schwer das Leben für einen entlassenen Häftling ist. Der Kommandant hatte den entlassenen Schutzhäftlingen zwar gesagt, daß sie jetzt wieder in die Arbeits- und Volksgemeinschaft aufgenommen werden würden, daß die Strafe verbüßt sei und sie durch nichts mehr an die Vergangenheit erinnert werden sollten. Sicher hat der Kommandant Reich (der einzige einwandfreie, von dem ich gehört habe) geglaubt, was er sagte. Aber die armen Schutzhäftlinge wurden zum großen Teil eines Besseren belehrt. Dieser junge Mann konnte absolut keine Arbeit finden, wie so viele andere, die herauskamen. Und wenn ihm nicht von wirklichen Volksgenossen geholfen worden wäre, würde er elend umgekommen sein, da er (ich weiß nicht, aus welchen Gründen) auch keine Unterstützung erhielt.
Als er später einmal über Berlin kam, erzählte er mir: »Als ich den Leuten sagte, daß ich im Lager mit Hans Litten zusammengewesen bin, horchten sie auf. Als ich ihnen durch meine Erzählungen beweisen konnte, daß ich ihm näherstand, wurde ich von allen verwöhnt. Ich hatte fast jeden Tag meine warme Mahlzeit, weil ich fast immer irgendwo eingeladen war, ich bekam einen warmen Mantel und alles, was ich sonst an Sachen brauchte. Aber ich weiß genau, das galt nicht mir, sondern der Tatsache, daß Hans mich seines Umganges gewürdigt hatte.«
*
Eines Tages erschien eine Frau bei mir. Man wäre in der Bevölkerung sehr unruhig. Es ginge das Gerücht, daß man als Antwort auf den Gustloff-Mord Hans erschossen habe. Sie habe sich angeboten, zu mir zu gehen unter dem Vorwand, mir ein Wäschestück von Hans zu bringen. Sie hatte früher seine Wäsche ausgebessert, und es war bei ihr liegengeblieben. Ich konnte sie beruhigen, es ginge Hans gut; ich hatte gerade einen Brief von ihm gehabt, den ich ihr zeigte. Sie solle das sofort verbreiten, damit um Gotteswillen keine falsche Propaganda entstünde.
Die Frau blieb den ganzen Nachmittag bei mir. Wir sprachen nur von Hans, für den sie leidenschaftlich schwärmte. Als ich auf eine derartige Bemerkung hin sagte: »Es wird mir immer wieder gesagt, daß viele im Norden von Berlin Hans wie einen Heiligen verehren«, warf sie mir einen niederschmetternden Blick zu und sagte mit Betonung: »Er ist ein Heiliger.«
*
Aber auch andere Berichte bekam ich, die nicht den Guten, den Hilfreichen, sondern den Kämpfer schilderten. Eine Skizze, die ich von Walter Schultz erhielt, sei hier eingefügt:
»Mitte Juli 1934 wurden alle Insassen des Konzentrationslagers Oranienburg nach Lichtenburg (Sachsen) überführt. Einige alte Bekannte, ›Berühmtheiten‹, würde man dort treffen, hieß es; wir erfuhren davon erst, nachdem wir aus dem Zellengebäude im Konzentrationslager Lichtenburg in Gemeinschaftsräume kamen. In welchem Zustand sahen wir ihn! Kameraden, die ihn in Brandenburg gesehen hatten, wo er sich ja die letzte Zeit gut von den vorhergegangenen Mißhandlungen erholt hatte, erkannten ihn kaum wieder; und auf uns, die wir ihn während der Schutzhaft nirgends getroffen hatten, machte er einen tiefen Eindruck. Kahlgeschoren, auf Stöcke gestützt, schmal, blaß, nur die Augen waren lebendig und blickten aufmerksam durch die Brillengläser. Unbekannten, die er kaum, die ihn aber kannten, schüttelte er genau so herzlich die Hand wie Freunden. Er war sogleich Mittelpunkt; von dem, was er ausgehalten hatte, sprach er nicht gern. Sein Rücken war etwas gekrümmt – nicht aber das seelische Rückgrat. Es ging ihm zu der Zeit in Lichtenburg relativ gut. Er wurde mit Buchbinderarbeiten beschäftigt und hatte auch die Bibliothek unter sich. Das lag ihm gut. Da konnte er raten, dieses Buch empfahl er, von jenem riet er ab.
Erfreut und erschüttert sprachen wir oft über Hans Litten; er lag in dem gegenüberliegenden Saal, in den wir nicht durften, mit Ausnahme bei der Bücherverteilung. Als Bibliothekar fühlte er sich recht wohl. Es hieß aber, er habe die erste Zeit in Lichtenburg entsetzlich ausgehalten, sein verletztes, steifes Bein hinderte die SS nicht daran, ihn zu quälen. Ich glaube, diese Zeit in Lichtenburg, als er Bücher einbinden und verwalten durfte, war die glücklichste während seiner Schutzhaft.
Brandenburg hatte er hinter sich, Esterwegen, nun Lichtenburg. Man muß sich wundern, woher dieser doch nicht etwa robuste Mensch die Kraft nahm, sogar in dieser entsetzlichen Haft zu opponieren. Er tat es wie folgt.
Irgendeine Nazi-Feierlichkeit wurde zum Anlaß genommen, die Gefangenen in einen großen Saal zu treiben. Befehl: Feiern! Und zwar stellten die Gefangenen das Programm zusammen, und sie mußten es auch selber bestreiten. Schwer genug für Menschen, die fürchten mußten, überall anzuecken, wenn sie nicht ausgesprochen nazistisches »Kulturgut« verwenden wollten. Hans Litten wußte Rat: er grub aus seiner Bibliothek irgendein Gedichtbuch aus – es wurde rezitiert. Hans Litten beteiligte sich auch, und bei seinem Gedicht horchte alles auf. Tiefbewegt waren alle, als er geendet hatte. Er hatte den Mut, in Gegenwart der SS ein Gedicht vorzutragen, das wir oft und oft gesungen hatten in der Jugendbewegung:
Die Gedanken sind frei,
wer kann sie erraten,
sie fliegen vorbei
wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger erschießen,
es bleibet dabei:
Die Gedanken sind frei.
Ich denke was ich will
und was mich beglücket,
doch alles in der Still'
und wie es sich schicket.
Mein Wunsch und Begehren
kann niemand verwehren,
es bleibet dabei:
Die Gedanken sind frei.
Und sperrt man mich ein
in finstere Kerker,
das alles sind rein
vergebliche Werke,
denn meine Gedanken
zerreißen die Schranken
und Mauern entzwei:
Die Gedanken sind frei!
Die SS hatte den Sinn des Gedichtes, die Absicht des Vortragenden nicht begriffen, jedenfalls kam sie erst darauf, als es zu spät war.
Man bedenke: Rundherum schwarze Uniformen, Totschlägertypen; vorne, etwas erhöht stehend, ein armer, verkrüppelter, gequälter Mensch. Er liest plötzlich ein Gedicht, das in dieser Umgebung eine oppositionelle, nein, eine revolutionäre, eine zündende Wirkung bekam. Für uns alle war dieses Erlebnis – ein Erlebnis! Persönlicher Mut gehörte dazu, und der hat schließlich Hans Litten, weil er innerlich nicht gebrochen war, bei den Nazis so verhaßt gemacht.«