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Die Verhältnisse in Lichtenburg hatten sich zusehends verschlechtert. Ich wußte, daß die gute Zeit auch für Hans vorbei war. Trotzdem, nach all dem Schrecklichen, was Hans früher erlebt, nach den Greuelberichten, die man von einigen anderen Lagern erlebt, schien mir der Zustand noch immer erträglich.
Dann aber geschah etwas, was furchtbare Ahnungen in mir aufsteigen ließ.
Herr Dr. Berndorfer, bei dem ich mich Ende Juli 1937 telefonisch angemeldet hatte, um meine fällige Besuchserlaubnis abzuholen, entschuldigte sich lebhaft bei mir, als ich in sein Büro kam. Er hätte eben gesehen, daß mein Sohn in Lichtenburg sei. Da könne er mir leider keine Erlaubnis geben; es wäre jeder Besuch in Lichtenburg verboten; es tue ihm furchtbar leid, daß er mich unnötig herbemüht hätte.
Ich war so erschrocken darüber, daß mir eine dicke Träne herunterlief, was mir sonst wirklich noch nicht auf der Gestapo passiert war. Als ich einen sehr genierten und mitleidigen Blick von Dr. Berndorfer auffing, ließ ich mich ganz bewußt gehen, fing an zu weinen und sagte: »Entschuldigen Sie, daß ich mich so gehen lasse, aber die Verweigerung eines Besuches stand fast immer mit schrecklichen Ereignissen im Lager in Zusammenhang.
Er schwor mir, daß es sich um rein technische Dinge handele. Aber ich beharrte darauf, daß es einen anderen Grund haben müsse. Meine Tränen erweichten ihn so, daß er sagte: »Nun, ich darf Ihnen eigentlich nicht sagen, worum es sich handelt. Aber es tut mir leid, daß Sie sich unnötige Sorgen machen. Sie müssen es mir versprechen, daß es kein Mensch erfährt. Das Lager Lichtenburg wird aufgelöst. Die Schutzhäftlinge kommen wo anders hin, in die Nähe von Weimar, und in der Unruhe, die das alles mit sich bringt, sind natürlich Besuche nicht möglich. Das war mir nun wirklich eine große Beruhigung, und als er sich nochmals entschuldigte, daß er mir den unnützen Weg bereitet hätte, sagte ich: »Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Vergeßlichkeit, denn am Telefon hätte ich doch nie den wahren Tatbestand aus Ihnen herausgebracht.« Was er mir auch lächelnd zugestand.
Bald danach erhielten wir eine Nachricht von Hans aus Buchenwald, die die Unterschrift »Hans« trug (statt des üblichen Hans-Achim). Das hieß klar und deutlich, »ich werde mißhandelt«.
Ich rief sofort Dr. Berndorfer an und sagte: »Nun ist mein Sohn ja im neuen Lager, nun kann ich wohl den Besuch machen?« Ich sollte mich aber noch einige Zeit gedulden, so rasch nach dem Umzug ginge das nicht. Er würde mich benachrichtigen, wenn es so weit wäre. Der nächste Brief war sehr kurz, gänzlich inhaltlos und mit entsetzlicher Handschrift. Auch wieder mit der Unterschrift »Hans«.
Heinz war Tag und Nacht auf den Beinen, um Kontakt mit Angehörigen von Häftlingen, die im selben Lager wie Hans waren, zu suchen. So konnte man die Nachrichten vergleichen und ergänzen.
Ein anderer Häftling, der noch niemals über etwas geklagt hatte, schrieb an seine Frau einen sehr beunruhigenden Brief. Diese sehr einfache Frau aber wagte nicht, Schritte zu tun, und so berief ich mich auf eine Unterredung mit ihr, als ich mich wieder bei Dr. Berndorfer meldete. Ich sagte ihm, die Frau eines Schutzhäftlinges hätte mich aufgesucht und mir mitgeteilt, sie hätte sichere Nachrichten, daß in Buchenwald entsetzliche Zustände herrschen, und daß ich doch etwas bei der Gestapo unternehmen sollte. Ich hätte außerdem einen furchtbar schlechten Eindruck aus dem Brief meines Sohnes gewonnen.
Doch Dr. Berndorfer wollte mich wieder beruhigen, sagte, das hätte gar nichts zu sagen, aber natürlich wäre es beim Aufbau eines Lagers etwas ungemütlich. Vielleicht wären mal nicht genügend Decken da, so daß die Leute hätten ohne Decken schlafen müssen, aber das würde alles sehr bald in Ordnung kommen. Ich sagte, so optimistisch sähe ich die Sache durchaus nicht an. Ich hätte ein sehr feines Gefühl für die Dinge, die dort vor sich gingen, und ich bäte ihn dringendst, im Lager Erkundigungen einzuziehen.
»Ich nehme zum Beispiel an, daß man auf den schlechten körperlichen Zustand und das steife Bein meines Sohnes keine Rücksicht nimmt bei den Aufbauarbeiten, und ich bat ihn, doch auf den Zustand meines Sohnes aufmerksam zu machen und sich persönlich darum zu kümmern, daß man auf ihn Rücksicht nähme und ihn anständig behandele.«
Er sagte: »Das will ich gelegentlich mal tun«, worauf ich ihm sehr energisch erklärte: »Das Wort ›gelegentlich‹ liebe ich durchaus nicht, denn das heißt auf deutsch ›nie‹. Ich gehe einfach von hier nicht weg, ehe Sie mir nicht felsenfest versprochen haben, daß Sie in der Angelegenheit meines Sohnes sofort etwas tun.« Er versprach es mir auch, aber ich sah ihm an, wie er zwischen Mitleid mit mir und Angst vor dem Lagerkommandanten schwankte.
Als der nächste Brief von Hans wieder einen sehr schlechten Eindruck machte, rief ich erneut an, versuchte Besuchserlaubnis zu bekommen und fragte, ob er Schritte unternommen hätte.
Er erklärte, ja, das hätte er, alles sei in bester Ordnung und meinem Sohn ginge es sehr gut. Ich bin aber überzeugt, daß er es nicht gewagt hat, im Lager anzufragen. Ich hatte den Eindruck, daß dieser Mann ganz gutherzig war und mir gern geholfen hätte, daß er aber absolut keine Rolle spielte und eine Todesangst hatte, seine Stellung zu gefährden, indem er sich irgendwie vorwagte. Die Zeiten, in denen der zuständige Mann für die Lager einen Befehl dorthin riskieren konnte, schienen längst vorbei zu sein.
Einer der Schutzhäftlinge hatte in einem Brief immer und immer wieder von dem schönen Wald, in dem sie lebten, berichtet, so daß seine Angehörigen sagten: »Das muß irgend etwas zu bedeuten haben.« Wir kamen auf die Idee, daß er vielleicht damit sagen wollte: »Guckt euch diesen Wald mal an, er ist noch nicht abgegrenzt.«
Ich dachte sofort weiter: Vielleicht kann man bei einem im Aufbau begriffenen, noch nicht abgegrenzten Lager einen Befreiungsversuch machen. Jedenfalls mußte der vielgerühmte schöne Wald untersucht werden.
Ich fuhr nach Weimar und besuchte einen Bekannten, der ein fixer Kerl war. Natürlich mußte die Sache untersucht werden, das fand er auch. Wir beschlossen, über Weekend eine richtige Streife von Weimar aus zu organisieren. Heinz und ich wollten auch dabei sein. Zwei Autos wurden uns zur Verfügung gestellt. Wir wollten den Wald durchstreifen, um festzustellen, wo sich das Lager befand. Außerdem wollten wir die Bevölkerung in den umliegenden Ortschaften ausfragen. Die Frauen sollten sich an Sonntagsausflügler heranmachen, die Männer sollten in den Lokalen beim Trinken die Leute zum Schwatzen bringen. Ich wollte einige zuverlässige Pfarrer aufsuchen.
Daß in Buchenwald furchtbare Zustände herrschten, hatte ich natürlich längst in alle Welt hinausposaunt. Ich hätte gern im speziellen die Christenheit mobil gemacht. Dazu mußte ich aber erst feststellen, ob sich Häftlinge aus religiösen Gründen in Buchenwald befanden. Das hoffte ich von den Pfarrern der Umgebung zu erfahren.
Eine Freundin von mir, die politisch geschult war, und mit der ich über diesen Plan, wie über alles, was ich unternahm, sprach, war leidenschaftlich dagegen, daß ich mich persönlich beteiligte. Sie erklärte, es würden jetzt auf der Landstraße dauernd Autos angehalten und die Insassen und der gesamte Inhalt aufs gründlichste untersucht. Befände ich mich mit meinem Namen in einem solchen Auto in der Nähe von Buchenwald, so hätte ich bestimmt die allergrößten Unannehmlichkeiten. Ich lachte sie aus, aber sie stellte sich schrecklich an und bat mich schließlich unter Tränen, ihr zuliebe die Sache zu lassen, so daß ich nachgab und auch Heinz nicht mitfahren ließ.
Sie hatte recht gehabt. Die Erkundungsfahrt endete kläglich. Zwei Autopartien, die eine ein älterer Herr mit zwei Töchtern, die andere eine Mutter mit ihrem Sohn, hatten, wie das Ausflügler oft tun, ihre Autos am Waldesrand stehen lassen, um sich in den Wald zu begeben. Sie waren keine hundert Schritt gegangen, als sie von SS-Leuten angehalten und nach der nächsten Polizeistation gebracht wurden. Ihre Erklärungen, daß sie vom Auto aus einen Spaziergang machen wollten, halfen nichts. Sie mußten ihre Personalien angeben, und man hielt sie zwei Tage fest, um zu untersuchen, ob ihre Angaben stimmten. Als sich nichts Nachteiliges über sie herausstellte, wurden sie entlassen, aber sie wurden noch längere Zeit beobachtet.
In den Wald hatte niemand eindringen können. Das einzige Ergebnis dieses Ausfluges war die Feststellung, daß die Bevölkerung der umliegenden Ortschaften völlig verschüchtert war und nichts Näheres zu erzählen wagte. Man hatte ihnen eingeschärft, sie hätten nichts vom Bau des Lagers zu wissen. Sollten sie es verraten, so würden sie eingesperrt.
Eine Karte vom 17. Oktober 1937 meldete: »Meine neue Adresse ist Dachau.« Unterschrift wieder »Hans«.
Ein aus der Lichtenburg entlassener Häftling hatte mir bestellt, wenn Hans etwas über Uta von Naumburg schriebe, so meine er damit immer sich selbst.
Ende September hatte Hans in einem Brief aus Buchenwald geschrieben: »Mir fiel hier ein Stück der Literaturbeilage einer alten Nummer des ›Völkischen Beobachters‹ in die Hände, in der eine Besprechung mehrerer neuerschienener Bücher über die deutsche Kultur des Mittelalters enthalten war. Ich entnahm daraus, daß nach neuen Forschungen Markgräfin Uta nach ihrer Trennung von Burkard zunächst in einem Kloster in der Nähe ihrer Stammburg, später in einem bayrischen Kloster gefangen gehalten wurde, wo sie gestorben sein soll. Ich kann Titel und Verlag dieses Buches nicht angeben, da der Anfang der Besprechung abgerissen war.«
Es war klar: Burkard (von Hohenfels), ein tatsächlich existierender Minnesänger, war der verabredete Name für seinen Freund, mit dem zusammen er in Lichtenburg gesessen hatte. Das Kloster in der Nähe ihrer Stammburg (die Lichtenburg) war Buchenwald, und das bayrische Kloster bedeutete Dachau. Bald darauf kam auch die neue Adresse Dachau.
Ich bat sofort wieder um Besuchserlaubnis mit der Begründung, daß Dachau ja ein altes Lager sei, in dem geordnete Zustände herrschen müßten. Herr Berndorfer stellte mir auch eine Besuchserlaubnis in Aussicht, erklärte mir aber, daß das nicht so schnell ginge.
An Hans schrieb ich, daß das von ihm erbetene Buch (das tatsächlich gar nicht existierte) ein historischer Roman sei, der von Fachleuten absolut abgelehnt würde, weil das meiste freie Phantasie sei. Es gäbe eine angelsächsische Handschrift, die eindeutig schildere, daß Uta das Kloster bald wieder verlassen, sich mit Burkard vereinigt und fern ihrer Stammburg ein weltliches und glückliches Leben geführt habe. Das sollte Mut zusprechen und die Erwähnung der angelsächsischen Handschrift, die ja sehr unwahrscheinlich bei der Geschichte der Naumburger Uta war, sollte ihm sagen, daß man in England wieder für ihn arbeite und an seine baldige Entlassung glaube.
Tatsächlich bemühte sich Lord Allen wieder um ihn und forderte bei der deutschen Gesandtschaft in London eine Verbesserung der so schlecht gewordenen Situation meines Sohnes.
Im nächsten Brief bat mich Hans, festzustellen, von wem die Ballade sei, die schildert, wie Alkuin von Hartwald das Kloster gestürmt habe, um Uta zu befreien, sie aber, da er sich zuviel Zeit gelassen habe, nur noch als Leiche, an ihrem Nonnenschleier erhängt, gefunden habe. Das war deutlich. Von seiner ersten Bemerkung an waren wir überzeugt, daß man ihm bereits in Buchenwald und dann in Dachau gesagt hatte, er habe im Laufe von etwa drei Monaten Schluß zu machen, sonst würde man es selber besorgen. Wir kannten dies Verfahren ja bis in alle Einzelheiten vom Fall Mühsam her.
Es war uns klar, daß jeder Brief ein Hilferuf von Hans war. Nur, was bedeutete Alkuin von Hartwald? Es kam oft vor, daß Hans einen Namen erwähnte, der uns unbekannt war. Wir hatten uns aber daran gewöhnt, sofort jeden uns nicht ganz geläufigen Namen aufs sorgsamste nachzuprüfen. Fand er sich auch nicht in einem Spezialwerk, so wußten wir, daß es sich um eine Tarnung handelte.
Der Angelsachse Alkuin war uns bekannt, aber ein Alkuin von Hartwald, überhaupt ein Hartwald, war nirgends ausfindig zu machen. Wir grübelten und forschten. Plötzlich fiel es Heinz wie Schuppen von den Augen. Alkuin und Allen hatten die beiden Anfangs- und den Endbuchstaben gemeinsam. Und Hartwald war einfach eine Übersetzung von Hurtwood. Hans wußte aus meinen Andeutungen, daß man dort wieder eine große Aktion für ihn plante. Es hieß ganz einfach: »Wenn Lord Allen sich nicht sehr beeilt, bin ich tot.«
Ich gab das alles nach England weiter und bat dringlich um energisches und eiliges Handeln. Hans mußte ich trösten und mit Hoffnung hinzuhalten versuchen. Ich schrieb, ich könne die von ihm erwähnte Ballade absolut nicht ausfindig machen. Es müsse eine Verwechslung sein, wahrscheinlich mit Dahns Mette von Marienburg, wo der tapfere Schwabe Stauf im Augenblick der größten Gefahr die Ordensritter vor dem sicheren Tod rettete. Meine Kinder hatten mich oft scherzhaft den »tapferen Schwaben Stauf« genannt. Er mußte daraus jedenfalls entnehmen, daß ich mit allen Kräften für ihn arbeitete.