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3. Kapitel.
Die Gestapo verhört

Die Atmosphäre in Spandau hatte mich so beruhigt, daß ich eine Ferienreise wagte. Aber ein Brief von Hans bewog mich zum sofortigen Abbruch meiner Reise. Er enthielt im Kode die Nachricht, daß Dr. Mittelbach durch den als scharf bekannten Dr. Conrady ersetzt worden sei, und daß Schlimmes zu befürchten wäre. Ich wollte für alle Fälle zur Stelle sein, wenn sich die Situation veränderte.

Bei meinem nächsten Besuch in Spandau (Mitte August) hieß es, mein Sohn würde gerade abgeholt, ich könne ihn noch rasch einen Augenblick im Zimmer des Inspektors sprechen.

Schon durch die Tür hörte ich die aufgeregte Stimme von Hans: »Haben Sie denn mein Schreiben an die Gestapo nicht weitergegeben?« Und auf die beruhigende Antwort des Inspektors, er habe es getan und es läge doch kein Grund zur Beunruhigung vor, sagte mein Sohn: »Aber doch, ich werde ja von demselben Mann abgeholt, der mir mit Mißhandlungen gedroht hat.«

Ich sprach meinen Sohn nur wenige Minuten, ich fühlte, wie stark sein Herz schlug. Seine Hände waren eiskalt. Als ich merkte, daß es sich um ein bevorstehendes Verhör handelte, sagte ich: »Du mußt alles sagen, was man von dir wissen will. Die neue Regierung hat neue Moralbegriffe aufgestellt, denen du dich zu unterwerfen hast, auch wenn du sie nicht teilst. Tust du jetzt etwas Unmoralisches, so hat es die Regierung zu verantworten, nicht du!«

Er sagte: »Es handelt sich ja nicht nur darum, daß ich mein Amtsgeheimnis breche, sondern ich soll Dinge aussagen, die nicht wahr sind.«

Ich erklärte: »Du kannst dem Mann bestimmt nicht helfen, sie werden doch mit ihm machen, was sie wollen, ob du nun standhaft bleibst oder nicht, sage aus, was sie haben wollen.« Damit war unser Gespräch beendet, und mein Sohn wurde im Gefangenenwagen abtransportiert.

Der Inspektor machte mir Vorwürfe, daß ich meine Nerven verloren hätte; ob, weil ich mich eben in meinem Zureden unmoralisch benommen hatte, oder weil ich ihn in die unangenehme Lage gebracht hatte, mein Gespräch mitanhören und melden zu müssen, da es doch möglicherweise auch die draußen wartenden Schergen mitangehört hatten, weiß ich nicht.

Ich rannte zum nächsten Telefon und versuchte, Herrn von Blomberg zu bekommen. Er war verreist, und zwar mit seinem persönlichen Adjutanten, so daß nach der Richtung nichts zu erreichen war.

Ich fuhr zu einer Bekannten, einer Nationalsozialistin, die sich vorübergehend in Berlin aufhielt, und deren anständige Gesinnung ich festgestellt hatte. Wir beratschlagten und kamen zunächst auf die Idee, zu einem Freunde Blombergs zu gehen, mit dem wir seinerzeit besonders nett gestanden hatten. Er erklärte, daß er als überzeugter Stahlhelmer durchaus nicht geschätzt würde, und daß man absolut keine Notiz von ihm nähme, was bei seiner Gesinnung ja auch das Angenehmste für ihn wäre. Infolgedessen habe er auch nicht den mindesten Einfluß.

Nun beratschlagten wir zu dritt. Er schlug den früheren Königsberger Garnisonprediger Müller vor, der gerade in Berlin war, um zum Reichsbischof gekrönt zu werden. Müller hatte jener schönen jungen Frau – die mir helfen wollte – in weitgehendem Maße den Hof gemacht, hatte sie, nachdem er ihr erstes Kind getauft hatte, in durchaus nicht seelsorgerischer Weise abgeküßt, und so hoffte ich, daß sie ihn, der ja bekannt dafür war, daß er großen Wert auf Erfolge bei schönen Frauen legte, zu einer helfenden Stellungnahme überreden könne. Der gutmütige Offizier gestattete ihr in seinem Hause Telefongespräche, die ihnen beiden hätten das Genick brechen können. Sie kam nicht an Müller heran, der sich gerade in einer Sitzung befand, aber wenigstens an seine rechte Hand, Meusel (der sich später erschoß, weil er entdeckte, daß der Reichsbischof ein Verhältnis mit seiner Frau hatte). Sie erklärte Meusel, es sei ein Skandal, was hier für Dinge passierten, er habe sie seinerzeit zur Nationalsozialistin bekehrt, und wenn sie sich dessen nicht schämen solle, so müsse für Abhilfe gesorgt werden.

Es gelang ihr auch schließlich, ein Souper um Mitternacht mit dem Herrn Reichsbischof zu arrangieren. Leider war es ohne jeden Erfolg. Er erklärte, nachdem sie ihm den Fall vorgetragen hatte: »Glauben Sie wirklich, daß es meine erste Tat als Reichsbischof sein könnte, einem Kommunisten zu helfen?« Und im Laufe des weiteren Gespräches fügte der christliche Mann hinzu: »Die Kommunisten müssen überhaupt mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden.«

Am anderen Morgen war in sämtlichen Zeitungen ein Bericht unter einer besonders großen Überschrift: »Hans Litten gesteht Mitwisserschaft an einem Mord.« Darunter war ausgeführt: Hans Litten hat gestanden, daß er einen Mann verteidigt hat, der im Felsenecke-Prozeß einen SA-Mann niedergeschossen hat, obwohl Litten wußte, daß sein Mandant schuldig sei. An diesen Bericht knüpften sich die wildesten Beschimpfungen, da sähe man nun, was das für ein Anwalt wäre, der einen Mörder verteidigt habe usw.

Ich war ganz zufrieden damit, weil ich dachte, damit wäre die Sache nun abgetan. Aber am andern Tag bekamen wir einen furchtbar aufgeregten Brief von Hans, aus dem wir sofort den Schluß zogen, daß er die Absicht habe, sich das Leben zu nehmen. Er war außerdem sehr aufgeregt, da er nichts mehr von mir gehört hatte. Wahrscheinlich nahm er an, daß ich auf mein Gespräch hin verhaftet worden war. Margot fuhr sofort nach Spandau. Sie wollte versuchen, ihn zu sprechen und ihn zu beruhigen. Wir hofften, daß sie vorgelassen werden würde, da sie gut mit dem Inspektor stand. Ich fürchtete, daß er mich nicht vorlassen würde, weil er mit meinem letzten Gespräch so unzufrieden gewesen war.

Als sie dort ankam, war gerade der Krankenwagen mit meinem Sohn nach Moabit abgefahren. Sie wurde in das Zimmer des Inspektors geführt und hörte bei der dort herrschenden Aufregung und durch verschiedene Telefongespräche mehr, als man ihr sonst wahrscheinlich gesagt haben würde. Sie erfuhr den folgenden Tatbestand:

Hans hatte einen Tag, nachdem er von seinem Verhör vollständig verstört zurückgekommen war, sofort an die Gestapo einen Bericht gemacht, daß er unter Zwang ausgesagt habe, daß nicht eine der Aussagen der Wahrheit entspräche, und daß er jede Aussage widerrufe. Da er die ihm angedrohten Folgen dieses Widerrufes fürchte, so nähme er sich das Leben. Alle Vorbereitungen dazu konnte er in seiner Einzelhaft unbemerkt treffen. Man fand ihn am anderen Morgen vollständig ausgeblutet und hielt ihn schon für tot. Es gelang aber einem herbeigerufenen Arzt – einem Mithäftling –, ihn zum Leben zurückzurufen. Er hatte das seinerzeit in der Butter eingeschmuggelte Gift genommen, und als er anfing, es auszubrechen, sich an vier Stellen mit einer Rasierklinge die Pulsadern aufgeschnitten. Seine vollständige Ausblutung war dadurch verhindert worden, daß sich das Blut an den Wunden etwas verkrustet hatte.

Hans hatte auch einen Abschiedsbrief an mich hinterlassen, der der Gestapo zur Kontrolle übergeben werden mußte, und den ich niemals erhalten habe. Auch dem Inspektor hatte er einen Abschiedsbrief geschrieben. Er bat ihn darin um Entschuldigung, daß er ihm diese Unannehmlichkeit bereite. Er fürchte, ihm dadurch seinen Urlaub, den er in zwei Tagen antreten wollte, zu stören, und hätte gern noch seinen Selbstmord aufgeschoben. Aber es wäre nicht möglich gewesen, seinen Widerruf so lange aufzuschieben. Er teilte ihm auch in seinem Briefe mit, daß er das Gift, das er genommen habe, schon bei seiner Verhaftung bei sich getragen hätte, und daß man es bei seiner ersten Körperuntersuchung nicht gefunden hätte. Damit wollte er die Beamten vor Unannehmlichkeiten schützen. Er hatte ihnen aber, ohne es zu ahnen, eine viel größere Unannehmlichkeit gemacht. Es war der Befehl erteilt worden, Hans des Nachts zu fesseln, diesen Befehl hatte aber niemand ausgeführt, um Hans die Quälerei zu ersparen.

Sobald ich die Nachricht von dem Selbstmordversuch erhalten hatte, rief ich das Krankenhaus Moabit an, sprach den Leiter, Sanitätsrat Schlegel, der mir sagte, ich könne meinen Sohn sehen, müsse aber vorher die Erlaubnis der Gestapo haben. Ich solle mich sehr beeilen, weil er wahrscheinlich nicht mehr lange leben würde.

Auf der Gestapo schien man schon Bescheid zu wissen und führte mich und Margot, die mich begleitete, sofort zu dem Kriminalkommissar Marowski, der das Verhör geleitet hatte. Der erklärte: »Selbstverständlich können Sie sofort hin. Ich werde Sie sogar mit meinem Auto hinfahren, damit es schneller geht.« Das war aber nicht, wie ich annahm, schlechtes Gewissen oder ein menschenfreundlicher Akt, sondern er wollte diese Fahrt dazu benutzen, mich unauffällig zu verhören.

Zunächst fragte er mich, ob ich meinem Sohn das Gift besorgt hätte. Ich war sehr erstaunt, daß jemand auf die Idee kam, eine Mutter könne ihrem Sohn Gift für einen Selbstmord besorgen. Dann sagte er: »Glauben Sie, daß Ihr Sohn diesen Selbstmordversuch gemacht hat, weil er sich durch die Zeitungsberichte in seiner Ehre gekränkt fühlte?«

Ich sagte: »Das halte ich nun für ganz ausgeschlossen. Ich nehme an, daß mein Sohn über diese Frage denkt wie ich, nämlich, daß nur er selber seine Ehre verletzen kann.«

Marowski: »Na, dann bin ich ganz beruhigt. Ich hatte mir schon Vorwürfe gemacht, daß ich diese Berichte an die Zeitungen habe durchgehen lassen.«

Er fuhr fort: »Ich habe schon lange mit Ihrem Sohn schlecht gestanden, wir haben früher so alles Mögliche miteinander vorgehabt. Aber das ist ganz gleichgültig, das hat mich nicht beeinflußt. Was wissen Sie denn über die Sache?« Und als ich sagte: »Ich weiß überhaupt von nichts«, meinte er: »Einigermaßen müssen Sie doch Bescheid wissen. Sie haben gesagt: ›Du kannst dem Mann ja doch nicht helfen.‹ Sie können doch unmöglich so eine Bemerkung machen, ohne etwas zu wissen.«

Ich: »Nein, ich weiß tatsächlich absolut nichts. Diese Bemerkung geht nur aus meiner Einstellung Ihnen gegenüber hervor. Ich nahm an, wenn Sie solche Verhöre anstellen, müssen Sie unbedingt etwas erfahren wollen, was mein Sohn nicht freiwillig aussagt. Außerdem, daß ich sagte ›Der Mann‹ ist doch ganz natürlich, denn ich kann mir nicht denken, daß es sich um eine Frau handeln könnte. Daß ich bei so einem Verhör sofort an den Felsenecke-Prozeß denke, ist doch auch ganz natürlich, denn das war doch der Prozeß, der zuletzt so viel böses Blut gemacht hat.«

Er: »Sie haben doch sicher vertraut mit Ihrem Sohn gestanden. Da ist es doch sehr natürlich, daß Ihnen Ihr Sohn alles über den Felsenecke-Prozeß erzählt hat.« Als ich das verneinte: »Das können Sie mir aber wirklich nicht weismachen, daß Sie nie über solche Sachen gesprochen haben!«

Das erklärte ich ihm nun damit, daß wir an zwei verschiedenen Orten wohnten, ich in Königsberg, er in Berlin; daß er außerdem mit meinem Manne schlecht gestanden hätte wegen politischer Meinungsverschiedenheiten, und wir uns deshalb nur gesehen hätten, wenn ich ihn auf der Durchreise in Berlin besucht hätte.

Er: »Na, und da wollen Sie wirklich nie über solche Sachen gesprochen haben?«

Ich: »Nein. Erstens finde ich die ganze Politik ekelhaft, und zweitens habe ich gesehen, wie die politischen Meinungsverschiedenheiten alle Familien vergiften, besonders seitdem die Nationalsozialisten eine solche Rolle spielen. Wir hatten wirklich erfreulichere und edlere Dinge, über die wir uns bei unserem kurzen Zusammensein unterhalten konnten.«

Herr Marowski war gerade noch im Begriff, mir klar zu machen, was für ein schauderhafter Mensch mein Sohn sei, wie nett er sich immer zu den scheußlichsten Verbrechern benommen habe, und daß es doch sehr merkwürdig wäre, wenn ein Mann aus so guter Familie sich zu so etwas hergäbe, als wir am Krankenhaus anlangten und unser Gespräch dadurch unterbrochen wurde.

Dort erwartete mich Sanitätsrat Schlegel und sagte rücksichtsvoll zu mir: »Erschrecken Sie nicht. Ihr Sohn sieht entsetzlich aus.«

Ich: »Werden Sie ihn denn am Leben erhalten können?«

Er antwortete lebhaft: »Sie können sicher sein, daß ich alles tun werde, was in meinen Kräften steht. Ich muß ihn ja dem Staat erhalten, der noch Aussagen von ihm braucht.«

Ich: »Unter diesen Umständen wäre es mir lieber, mein Sohn wäre nicht zum Leben zurückgerufen worden.«

Er: »Wenn wir seine Aussage haben, dann kann er ja mit sich machen, was er will. Dann haben wir kein Interesse mehr an ihm.«

Mein Sohn sah wie ein Toter aus, noch nicht wieder recht bei Bewußtsein, so daß er mich und Margot zuerst nicht erkannte. Man hatte ihm den Magen ausgepumpt, die Schnittwunden genäht, Einspritzungen gemacht, um das Blut zu ersetzen. Als langsam die Besinnung wiederkehrte, fragte ihn der Kriminalkommissar Marowski, der mit seinem Begleiter mit uns zusammen das Zimmer betreten hatte: »Fühlen Sie sich schon kräftig genug, mir einige Fragen zu beantworten?« Man sah meinem Sohn die krampfhafte Anstrengung an, sich zu sammeln. »Ich will es versuchen.« Ich wollte schon protestieren, dachte dann aber, daß es für meinen Sohn eine Beruhigung sein könnte, wenn ich dieses Verhör mit anhörte. Auch hoffte ich, allerhand zu erfahren über die bisherigen Vorgänge.

Marowski: »Weshalb haben Sie den Selbstmordversuch gemacht?«

Hans: »Weil alle Aussagen, die ich unter Folterungen gemacht habe, falsch waren. Ich mußte sie widerrufen, fühlte mich aber den mir angedrohten Folgen für den Fall eines Widerrufs nicht gewachsen. Das habe ich auch an die Geheime Staatspolizei geschrieben.«

Marowski erschrocken: »Haben Sie meinen Namen in diesem Brief genannt?«

Hans: »Ja.«

Marowski empört: »Sie haben mir doch Ihr Wort gegeben, nicht von dem Gebrauch zu machen, was unter vier Augen geschehen ist.«

Hans: »Ich habe auch nur das erwähnt, was Sie der Sekretärin zu Protokoll gegeben haben.«

Der Pfleger faßte in diesem Augenblick nach dem Puls meines Sohnes, der wieder das Bewußtsein verlor, und sagte: »Die Unterhaltung muß abgebrochen werden.« Marowski verließ das Zimmer mit den Worten: »Ich werde in den nächsten Tagen weiter fragen«, worauf mein Sohn verängstigt flüsterte: »Aber bitte hier.«

Als ich ihn später einmal im Krankenhaus fragte, was das »Bitte hier« zu bedeuten hätte, sagte er: »Wenn sie mich im Krankenhaus bei dem Verhör mißhandeln, kommt auf mein Schreien ein Krankenwärter, um das Verhör abzubrechen, während ich ihnen doch in der Gestapo wehrlos ausgeliefert bin.« Er sagte mir auch einmal: »Wenn sie mich erschossen hätten, wäre ja alles gut gewesen, aber die Martern und Folterungen konnte ich nicht mehr ertragen.« Etwas Genaueres über das, was sich bei dem Gestapo-Verhör zugetragen hat, habe ich nie in Erfahrung bringen können.

Ich wurde auch aus dem Krankenhaus geschickt und stürzte sofort zur Gestapo zurück. Staatsanwalt Dr. Conrady, der jetzt die Verwaltung der Lager unter sich hatte, empfing mich. Er war ein großer, gut aussehender Mann, den nationalsozialistischen Schönheitsbegriffen entsprechend, mit einem harten, eiskalten Blick. Seine Augen wurden grün, wenn er sich ärgerte. Er wollte mich anscheinend einschüchtern und starrte mich durchdringend an, als ich mich ihm an seinem Schreibtisch gegenübersetzte, so etwa, wie der Detektiv in den Groschen-Schmökern sein zu entlarvendes Opfer anstarrt. Ich starrte ebenso zurück, um ihm zu zeigen, daß ich mich mit solchen Mätzchen nicht einschüchtern lasse. Margot saß etwas abseits. Die Situation wurde lächerlich, da keiner den Rückzug antreten wollte.

Schließlich sagte er: »Also, was wünschen Sie?«

Ich erklärte ihm, ich müsse gegen diese ganze Angelegenheit protestieren, worauf er sagte, er wisse überhaupt gar nicht, um was es sich handle.

Ich: »Es ist doch unmöglich, daß Sie in Ihrer Stellung nicht wissen, worum es sich handelt. Sie müssen doch den Brief meines Sohnes an die Gestapo gelesen haben.«

Conrady: »Nein, den habe ich nicht gelesen.«

Ich: »Es ist doch ausgeschlossen, daß ein Brief, der so wichtige Tatsachen enthält, nicht in Ihre Hände kommt!«

Conrady: »Ach, sehen Sie sich mal an, was für einen Stapel von Sachen ich zu erledigen habe. Ich bin einfach noch nicht so weit.«

Ich: »Ich kann mir kaum vorstellen, daß ein so wichtiger Fall Ihnen nicht vor allen anderen vorgelegt wird.« (Selbstverständlich kannte Conrady den Fall ganz genau, sonst hätte er mich auch nicht angenommen. Er wollte eben einfach hören, was ich ihm über diese Angelegenheit berichten würde.) Er sagte dann auch: »Dann erzählen Sie mir mal, um was es sich handelt.«

Ich schilderte ihm kurz den Tatbestand und sagte: »Als erstes protestiere ich dagegen, daß der Kriminalkommissar Marowski diese Untersuchung führt. Er hat (darüber hatte ich mich inzwischen bei Margot informiert) sehr schlecht mit meinem Sohn gestanden, wie er mir selber bereits erzählt hat. Ich weiß, daß mein Sohn früher einen Artikel über seine üblen Methoden, die Angeklagten zu verhören, in der Presse veröffentlicht hat. Es ist doch ganz klar, daß dieser Mann, der sich bereits vor der Machtergreifung so brutal benommen hat, jetzt seine Wut an meinem Sohn ausläßt.«

Conrady: »Dagegen können Sie nicht protestieren.«

Ich: »Man hat doch auch das Recht, einen Richter abzulehnen, den man für befangen hält.«

Conrady: »Bei einem Richter ist das etwas anderes. Gegen einen Kriminalkommissar können Sie sich nicht wehren.«

Ich: »Zweitens protestiere ich gegen diese Art des Verhörs überhaupt.«

Conrady lächelte nur und würdigte diesen lächerlichen Protest keiner Antwort. Er erklärte: »Ihr Sohn wird weiter verhört werden, bis wir die wahre Aussage von ihm haben.«

Ich: »Die Wahrheit wissen Sie ja nun.«

Er: »Nein, ich bin davon überzeugt, daß seine ersten Aussagen wahr waren. Der Widerruf ist gelogen.«

Ich: »Wie können Sie wagen, das zu behaupten! Wenn das Geständnis meines Sohnes der Wahrheit entsprochen hätte, hätte er ja absolut keinen Grund gehabt, zu widerrufen und sich das Leben zu nehmen.«

Als Conrady weiter darauf herumritt, daß er an die Wahrheit der ersten Aussage glaube, sagte ich: »Mein Sohn ist ein religiöser Mensch. Es ist doch sehr unwahrscheinlich, daß er mit einer Lüge aus der Welt gehen würde, die er nachher vor Gott zu verantworten hätte. Ein Mensch, der an Gott glaubt, kann das nicht annehmen.«

Conrady, zynisch: »Sie scheinen anzunehmen, daß ich nicht an Gott glaube. Ich glaube an Gott.«

Worauf ich mich nicht enthalten konnte zu sagen: »Dann bin ich sehr erstaunt über Ihr Benehmen. Und ich kann Ihnen nur sagen, ich freue mich auf den Moment, wo wir beim Jüngsten Gericht einander gegenüberstehen werden. Dann werden unsere Rollen vertauscht sein – wenn es einen Gott gibt.«

Conrady: »Ich glaube ja überhaupt gar nicht, daß der Selbstmordversuch Ihres Sohnes ernst gemeint war. Das ist ja alles Theater, was er macht.«

Ich: »Eine solche Behauptung ist doch einfach lächerlich. Glauben Sie wirklich, daß ein Mensch das so genau abpassen kann? Man hielt ihn doch für tot, als er gefunden wurde.«

Conrady: »Na ja, darauf hat er es ruhig ankommen lassen. Er wäre auch bereit zu sterben, wenn er uns damit Unannehmlichkeiten machen könnte. Ich habe doch den Felsenecke -Prozeß mit angehört, ich kenne ihn doch.« Seine Augen waren grün vor Haß.

Ich verlangte, daß er in den Zeitungen eine Berichtigung des vorigen Artikels, einen Bericht über den Widerruf und den Selbstmordversuch meines Sohnes bringen sollte. Mit diesem Ansinnen löste ich nur einen Heiterkeitsausbruch aus.

Nach längeren Vorwürfen von meiner Seite über diese Art des Verhörs erklärte er mir schließlich: »Das ist ja alles Unsinn, was Sie da annehmen. Meinetwegen können Sie sich persönlich davon überzeugen, wie ein solches Verhör vor sich geht. Sie können dem Verhör morgen beiwohnen.«

Übrigens ergab das Gespräch mit Conrady, daß er ganz genau über unsere Familie Bescheid wußte. Die politische Tätigkeit meines Mannes (der Mitglied der Deutschen Volkspartei gewesen, mit Zeitungsartikeln politisch hervorgetreten war und sich lebhaft am Wahlkampf beteiligt hatte), die künstlerisch-politische Einstellung von Heinz, nur von der Existenz des Jüngsten hatte er keine Ahnung, denn der hatte sich noch nicht mißliebig gemacht. Er sagte auch wegwerfend: »Ihr Mann hält sich in der Tschechoslowakei auf, und Sie sind auch eben dort gewesen.«

Ich antwortete: »Sie meinen Sudetendeutschland!«

Er: »Nun, ist das nicht die Tschechoslowakei?«

Ich: »Wissen Sie denn nicht, daß gute Deutsche es sich zur Pflicht machen, ihre Ferien im deutschsprachigen Ausland zuzubringen? Wir wollen dadurch unsern Volksgenossen zeigen, daß wir zusammengehören. Von Ostpreußen aus gingen wir ins Memelgebiet, von Berlin aus gehen wir zu den Sudetendeutschen.«

Da war er still, aber seine Augen wurden wieder grün. Er schien die Ironie meiner Bemerkung begriffen zu haben.

Als ich am andern Morgen zur festgesetzten Stunde bei Marowski erschien, erklärte er, es fiele ihm gar nicht ein, mich zu diesem Verhör zuzulassen, auch wenn es mir Dr. Conrady erlaubt hätte. Außerdem fände das Verhör erst einige Tage später statt. Er habe noch Material zu sammeln.

Ich versuchte nun, bei Dr. Conrady meine Anwesenheit bei dem Verhör durchzusetzen. Ich hielt zwar ein solches Verhör in meiner Gegenwart für eine reine Farce und war fest davon überzeugt, daß gleich hinterher noch ein Verhör in einer anderen Form stattfinden würde, es war mir aber doch sehr wichtig, auf diese Weise Einblicke zu bekommen. Conrady erklärte, er könne selbstverständlich Marowski nicht zwingen, mich an dem Verhör teilnehmen zu lassen. Sein Versprechen wäre doch natürlich unter der Voraussetzung von Marowskis Einverständnis gegeben worden.

Als ich dann wenigstens einen Besuch bei meinem Sohn machen wollte, erklärte er, von einem Besuch sei nie die Rede gewesen, sondern nur von einer Teilnahme an dem Verhör. Nun verlegte ich mich auf liebenswürdiges Bitten und erklärte ihm, eine solche Scheußlichkeit traue ich ihm denn doch nicht zu, daß er mir den Besuch bei meinem noch immer mit dem Tode ringenden Sohne nicht gestatte.

Conrady: »Ich bin ja kein Unmensch. Meinetwegen gehen Sie heute noch einmal hin. Aber das sage ich Ihnen, den nächsten Besuch dürfen Sie dann erst nach einem Vierteljahr machen, wie es den Bestimmungen entspricht.«

Ich: »Ich glaubte, Sie wären in einer so hohen Stellung, daß Sie das selbst bestimmen können.«

Er, etwas geschmeichelt: »Selbstverständlich kann ich das. Aber gerade deshalb darf ich das nicht ausnützen.«

Ich: »Dann weiß ich aber, daß ich heute in acht Tagen einen Besuch machen darf.«

Er: »Das ist ganz ausgeschlossen.«

Ich: »Werden Sie es wirklich übers Herz bringen, mir an meinem Geburtstag einen Besuch bei meinem Sohn zu verweigern?«

Er sah mich zweifelnd an.

Ich: »Ach so, nun glauben Sie, daß ich lüge. Ich werde Ihnen, wenn ich mir die Besuchserlaubnis abhole, meinen Geburtsschein mitbringen.«

Er: »Also meinetwegen, dann können Sie in acht Tagen wieder gehen, aber das ist dann bestimmt das letztemal.«

Als ich in acht Tagen wieder bei ihm erschien, überreichte ich ihm sofort wortlos meinen Geburtsschein. Er meinte etwas verlegen: »Das war aber wirklich nicht nötig.« Und nach einer Pause: »Wir sind sehr empört über Ihren Sohn. Er befindet sich doch, weiß Gott, in einer schauderhaften Situation, die brauchte er sich wirklich nicht noch zu verschlimmern.«

Ich: »Um Gottes willen, was hat er denn getan?«

Conrady: »Er lügt uns dauernd die Hucke voll. Er leugnet ständig. Uns wird die Geduld reißen!«

Ich: »Sie gehen immer von der vorgefaßten Meinung aus, daß sein Geständnis richtig war. Sie täuschen sich, mein Sohn sagt jetzt die Wahrheit.«

Conrady: »Ach was, wir kennen das. Ihr Sohn lügt andauernd. Dafür haben wir Beweise.«

Ich: »Beweise können doch auch täuschen. Ich habe vor zwei Monaten einen Zeitungsbericht gelesen, daß man nun endlich den Mann herausgefunden habe, der in der Felsenecke-Schlacht den SA-Mann Schwartz erschossen hat. Er habe es im Lager gestanden. Das war ein ganz anderer Name als der, um den es sich jetzt handelt. Ich kann doch unmöglich annehmen, daß Sie etwas Derartiges in allen Zeitungen veröffentlicht haben würden, wenn Sie nicht geglaubt hätten, Beweise dafür zu haben.«

Conrady: »Das können Sie als Laie nicht beurteilen. Wir haben nur ein Interesse daran, die Wahrheit zu erfahren. Was sollte uns daran liegen, ein falsches Geständnis aus ihm herauszuholen?«

Ich: »Darüber habe ich auch nachgedacht. Ich vermute, Sie halten einen bestimmten Mann, nämlich Ackert, für den Mörder, können ihn aber zu keinem Geständnis bewegen. Nun ist es doch ein Schönheitsfehler, wenn man einen Menschen ohne Geständnis verurteilt. Dies glauben Sie aber, erhalten zu können, wenn mein Sohn zugibt, von seinem Mandanten bereits ein Geständnis erhalten zu haben.«

Conrady: »Wir wünschen die Wahrheit zu wissen und« (in sehr drohendem Tone) »wir werden Ihren Sohn solange verhören, bis wir die Wahrheit aus ihm herausgeholt haben.«

Ich: »Würden Sie mir gestatten, meinem Sohn über unsere Unterhaltung zu berichten? Vielleicht erfahre ich, wie es sich in Wirklichkeit verhält.«

Conrady, lebhaft: »Jawohl, tun Sie das.«

Ich sagte dem Krankenwärter, daß ich meinem Sohn eine Bestellung von Dr. Conrady zu machen habe. So konnte ich erzählen, ohne unterbrochen zu werden. Ich redete Hans leidenschaftlich zu, einfach zu sagen, was die Leute wissen wollten, er könne den Mann ja doch nicht retten, und er sehe ja, was sein Verhalten für Folgen hätte. Man würde ihn bestimmt weiter mißhandeln, bis er das gewünschte Geständnis abgelegt habe.

Doch Hans sagte: »Was ich sage, ist die Wahrheit. Mein Klient hat mir niemals gestanden, daß er Schwartz erschossen hat. Ich bin davon überzeugt, daß er es nicht getan hat. Es hat keinen Sinn, etwas Falsches zu sagen. Du siehst ja, was für Folgen es das erstemal gehabt hat, als ich mich durch Martern dazu bewegen ließ, ein falsches Geständnis abzulegen. Ein zweites Mal wird das nicht geschehen. Im übrigen wäre es auch dumm von mir. Wenn ich einmal mit Lügen anfange, werde ich mich in Widersprüche verwickeln, und dann wird man mir die Lüge leicht nachweisen können. Übrigens ist es schrecklich, was sie alles von mir wissen wollen. Kennst du Rechtsanwalt Sack?«

Ich: »Das ist doch der Mann, der Torgler im Reichstagsbrandprozeß verteidigt?«

Hans: »Jawohl. Geh doch zu ihm und frage ihn, was er über mich weiß. Ich bin auch in die Sache verwickelt.«

Hier unterbrach uns der Krankenwärter und sagte: »Darüber dürfen Sie nicht sprechen.« Ich versprach Hans, sofort zu Sack zu gehen, und damit war der Besuch beendet.

Ich rief Conrady an und fragte ihn, ob ich ihm über das, was ich aus meinem Sohn herausgefragt hätte, berichten dürfe. Zum ersten Male schien er erfreut über einen Besuch von mir und ließ mich sofort kommen. Offenbar erwartete er, daß ich Hans zu einem neuen Geständnis gebracht hätte. Als ich ihm unsere Unterhaltung genau schilderte, verlor er etwas die Fassung und schrie mich an: »Wie können Sie es wagen, Ihrem Sohn zum Lügen zuzureden? In was für eine Situation bringen Sie mich denn, wenn Sie ihm erklären, ich schickte Sie, und ihm dann zum Lügen zureden?«

Ich: »Wie können Sie mir denn deswegen einen Vorwurf machen? Das haben Sie doch von mir haben wollen?«

Er: »Nein, damit ist mir absolut nicht gedient. Ich brauche die reine Wahrheit. Ich bin sehr erstaunt, daß Sie solche Sachen machen. Dann kann ich Sie ja gar nicht wieder zu ihrem Sohn gehen lassen!«

Ich: »Ich gebe zu, daß ich mich falsch benommen habe. Aber aus einem ganz anderen Grunde. Einem Menschen wie meinem Sohn soll man nicht zu solchen unmoralischen Aussagen zureden. Aber während der ganzen Unterredung mit ihm hatte ich vor meinen Augen in flammenden Buchstaben Ihre Drohung: ›Wir werden die Geduld verlieren!‹ Was das bei der Gestapo bedeutet, kann ich mir vorstellen.«

Er schimpfte dann noch eine Weile, und ich sagte ihm, es wäre zweifelsfrei zum Ausdruck gekommen, daß ein erneutes falsches Geständnis mein Wunsch sei, aber ich wolle noch einmal eindeutig klarstellen, daß dieser Wunsch nicht von ihm, Dr. Conrady, ausgegangen sei. Natürlich müsse ich zu diesem Zweck noch einmal Besuchserlaubnis bekommen. Aber er blieb wütend und ließ sich nicht darauf ein.

Ich schrieb nun meinem Sohn einen Brief, in dem ich auseinandersetzte, ich hätte eingesehen, daß mein Zureden zu einem falschen Geständnis ein großer Fehler gewesen sei, und ich bäte ihn, sich so zu benehmen, wie er es vor seinem Gewissen verantworten könne. Ich hörte dann wochenlang nichts von Hans, obwohl wir, solange er im Krankenhaus war, jede Woche einmal miteinander korrespondieren durften.

Als ich mich mit einer Beschwerde an Dr. Conrady wendete, bemerkte ich, daß unsere ganze Korrespondenz über die Gestapo geleitet und von ihm persönlich kontrolliert wurde. Auch mein Sohn erhielt keinen Brief von mir in dieser Zeit.

Ich suchte Dr. Sack auf, trug ihm die Unterhaltung mit meinem Sohn vor, und er erklärte, das müsse einfach ein Mißverständnis sein, er hätte die gesamten Reichstagsbrandakten durchgearbeitet, und niemals sei der Name meines Sohnes oder irgendeine Bemerkung, die auf ihn hinziele, gefallen.

Ich fragte, ob er meinen Sohn, wenn eine Anklage gegen ihn erhoben würde, verteidigen wolle. Sack sagte: »Jawohl; aber nur unter der Bedingung, daß er beweisen kann, daß er unschuldig ist.«

Herr Sack machte den Eindruck eines liebenswürdigen und selbstgefälligen Herrn, dessen Praxis blendend ging und mit dem man kaum reden konnte, weil das Gespräch dauernd von langen telefonischen Verhandlungen unterbrochen wurde.

Anscheinend bekam die Verteidigung Torglers seiner Praxis ausgezeichnet.

*

Als Hans von Spandau weggeschafft worden war, waren seine Bücher und Schriftlichkeiten beschlagnahmt und auf die Gestapo geschafft worden. Ich hatte bei einem Besuch mit Entsetzen festgestellt, daß Hans keinen unserer Briefe vernichtet hatte. Und diese Briefe enthielten allerlei Nachrichten, zum Beispiel über die Besorgung des Giftes, in dem leicht entzifferbaren Kode. Das war für uns vor allen Dingen deshalb unangenehm, weil wir diesen Kode nun nicht mehr zu benutzen wagten. Es war aber unbedingt nötig, daß wir ihm einen neuen Kode mitteilten, da man aus den streng kontrollierten Briefen sonst absolut nichts ersehen konnte.

Der neue Kode mußte schwer entzifferbar sein. Er mußte aber auch der Situation im Lager Rechnung tragen. Dort hatte man oft sehr wenig Zeit zum Lesen und Schreiben der Briefe, war beobachtet und konnte keine Aufzeichnungen oder gar schriftliche Tabellen zur Hand nehmen. Wir entschlossen uns, den alten Kode im Prinzip beizubehalten, das heißt: die Anfangsbuchstaben des jeweils vierten Wortes eines jeden Satzes sollten zur Übermittlung der Botschaft dienen. Die Buchstabenfolge der Botschaft wurde mit Hilfe eines Schlüsselwortes vorher umgewandelt. Als Schlüsselwort wählten wir das Wort »Denkmalsfigur«. Die Chiffrierung vollzog sich so, daß jeder Buchstabe der Botschaft durch den Buchstaben ersetzt wurde, der im Worte »Denkmalsfigur« darauf folgte. Kam ein Buchstabe im Schlüsselwort nicht vor, so blieb der Originalbuchstabe in Gültigkeit. Also: »D« wurde zu E, »E« zu N, »N« zu K usw., bis »U« zu R. Der letzte Buchstabe »R« wurde durch den ersten, »D«, ersetzt.

Sollte zum Beispiel das Wort »GIFT« im Kode mitgeteilt werden, so lautete die mit Hilfe des Schlüsselwortes gefundene Übertragung »UGIT«. Nun mußten die vier Buchstaben des Wortes UGIT als Anfangsbuchstaben des jeweils vierten Wortes der ersten vier Sätze des Briefes gewählt werden. Der Brief mußte also zum Beispiel folgendermaßen beginnen: »Gestern waren Walter und Werner bei mir. Walter wollte die Gedichte von Rilke haben. Ich freue mich immer, daß er so bildungsdurstig ist. Werner läßt dich tausendmal grüßen.«

Die Beschreibung dieses Kode wurde auf ein kleines dünnes Zettelchen stenografiert, und ich sollte es Hans bei der Begrüßung heimlich zustecken. Diese schwierige und gefährliche Aufgabe machte mich sehr nervös. Ich fühlte mich beobachtet, glaubte auch den Kriminalkommissar Marowski eine Haltestelle vor mir aussteigen zu sehen. Mit mir zusammen stieg eine Frau aus, die mich während der Fahrt sehr interessiert gemustert hatte, und verschwand im Untersuchungsgefängnis.

Ich mußte vor dem Portal eine Stunde warten, ehe man mich zu Hans führte. Ich dachte nach: Wurde das Zustecken des Zettels bemerkt, so war es für Hans katastrophal und mit unserer Verbindung ein für allemal aus. Aber selbst, wenn es glückte, so mußte Hans nachher den Zettel entziffern. Dabei konnte ihn der Gefangene, der in der gleichen Zelle lag, beobachten. Und dieser Mann sah mir nicht vertrauenswürdig aus.

Je länger ich dort stand, um so wahnsinniger fand ich den ganzen Plan. Ich bekam sogar plötzlich Angst, diesen Zettel bei mir zu führen. Aber auch zum Zerreißen und Wegwerfen fand ich nicht den Mut. Ich schob ihn in den Mund und war verzweifelt, wie lange ich daran zu kauen hatte, bis ich ihn hinunterschlucken konnte. Zu so etwas gehörte anscheinend auch eine besondere Technik, die man üben mußte.

Endlich war der Zettel im sicheren Magen angelangt. Aber was nun? Hans mußte einen Kode haben, und ich wagte mich nicht nach Hause, ohne ihm diesen Kode übermittelt zu haben. Und er war so schwierig, Heinz und Margot hatten lange daran herumgeknobelt. Ich fand es schon entsetzlich schwierig, den Kode in aller Ruhe zu erklären, wie sollte ich es in einer Tarnung fertigbringen. Mein Gehirn brannte vor Anstrengung. Mir war absolut nichts eingefallen, als ich zu Hans geführt wurde.

Aber die Not macht den Menschen erfinderischer und intelligenter, als er von Natur ist. Ich beugte mich zu Hans hinab, der noch immer sehr schwach zu Bett lag, und als ich ihm den üblichen Begrüßungskuß gab, murmelte ich in sein Ohr: »D = E, E = N, N = K«. Er sah mich an, als ob ich verrückt geworden wäre, und ich wußte selber noch nicht, wie es weitergehen sollte. Ich setzte mich neben sein Bett und streichelte seine Hand. Dagegen hatte der nette Wärter nie etwas einzuwenden gehabt. Ich machte allerdings immer vorher eine ganz offizielle Bewegung mit beiden Händen, die zeigte, daß ich nichts darin verborgen hielt, und legte diesmal sogar meine Handtasche weit von mir. Der Wärter hatte mir nämlich bei meinem ersten Besuch erklärt: »Versuchen Sie nie, Ihrem Sohn etwas zuzustecken. Ich muß es dann melden, und dann sehen Sie Ihren Sohn nie wieder.« Also ich machte ihn jedesmal durch diese Handbewegung darauf aufmerksam, daß ich seinen Rat nicht vergessen hatte. Ich fing an: »Heute muß ich dir etwas Komisches erzählen, was dich amüsieren wird. Unser gemeinsamer Freund Kurt schreibt ein Buch über die ›Denkmalsfigur‹.«

Hans: »Nanu, ist er verrückt geworden?«

Ich: »Ja, das habe ich ihn auch gefragt und habe ihm gesagt, daß ich den Titel ›Denkmalsfigur‹ und das ganze Thema für eine Konjunkturarbeit halte und das einem so wissenschaftlichen Menschen übelnehme. Er behauptet aber, der Titel ›Denkmalsfigur‹ sei ein absolut sachlicher, kunstgeschichtlicher Titel, und die Arbeit gehöre in sein engstes Gebiet.«

Jedesmal, wenn ich das Wort »Denkmalsfigur« gebrauchte, wurde das Streicheln meiner Hand zu einem Druck, und bei der zweiten Erwähnung dieses Wortes hatte Hans bereits begriffen, daß ich ihm etwas Wichtiges mitzuteilen hätte. Sein Gesicht zeigte einen angestrengt arbeitenden Ausdruck.

»Kurt behauptet«, fuhr ich fort, »daß diese Arbeit über die Denkmalsfigur rein gotische Probleme behandle, daß eigentlich jedes vierte Wort Gotik wäre.« (Bei »viertes Wort« wieder ein Druck.) Hans war sehr nachdenklich. Er wußte absolut nicht, worauf ich hinauswollte, fing aber von sich aus an, das Thema weiterzuspinnen. »Ich kann mir schon vorstellen, er wird über den Bamberger Reiter und das Magdeburger Reiterdenkmal schreiben.«

Ich: »Ja, er hat vier besonders schöne Reiterfiguren aus dieser Zeit ausgeknobelt (bei »vier« wieder ein Druck) und hat mir auch die vier Fotos für dich versprochen, weil er meinte, du würdest mehr Verständnis für diese Arbeit haben als ich.«

In diesem Augenblick wurde der Wärter an die Tür gerufen, blieb aber im Zimmer. Ich flüsterte fast unhörbar, aber mit deutlicher Mundbewegung: »D = E, E = N, N = K, K = M, M = A.« Bei diesem Buchstaben stand der Wärter schon wieder auf seinem Posten, aber das Gesicht von Hans war entspannt. Er brach in ein helles Lachen aus und sagte: »Grüß doch Kurt schön von mir, sag ihm, ich hätte sehr viel Verständnis für diese Arbeit und würde mich sehr freuen, bald Näheres darüber zu hören.«

Der nächste Brief von Hans enthielt Mitteilungen in dem einwandfrei gehandhabten Kode.


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