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Kein Meer mit sandgelber Küste hat jene süße Pracht eines Prairie-Sumpfes. Sanft gekräuselt und blau, mit langem Gras bis an den Rand, ein Flecken tanzenden Lichtes, inmitten meilenweiter Felder rauschenden Weizens, bewahrt er auch im Juli noch, an Nachmittagen voll blendenden Glanzes und frech zirpender Grillen, die Frische eines Frühlingsmorgens. Claire fuhr an tausenden solcher Sümpfe vorbei, an hunderten von Seen, umschlossen von wogender Gerste oder den klingenden Glöckchen des Flachses. Sie hatte die verstreut auftretenden kleinen Hügel von Eichen, Pappeln und Silberbirken hinter sich gelassen und war hinausgekommen auf die baumlosen, unabsehbaren »Großen Ebenen«. Sie hatte gelernt, die Sümpfe »Mauslöcher« zu nennen und im Zwielicht nach Wildenten auszuschauen. Sie hatte gelernt, daß um die Mauslöcher beständig ein Chor rotgeflügelter Amseln schwebte; daß die häßlichen braunen Vögel, die auf den Zaunstangen hockten, die himmlisch singenden Feldlerchen waren; daß sich unter den bescheidenen Viehstaren, den Bewohnern des Weidelandes, auch oft eine purpurfarbene Prachtmeise oder eine Goldamsel bläht; und daß kein Rosengarten von so seltsamer und herber Schönheit ist wie das braunrote Buschwerk und das orangegelbe Milchkraut in dem stacheligen, halbversengten Gras zwischen Straße und Eisenbahnstrecke.
Sie hatte gelernt, in dem Benehmen von Garageleuten und Hotelbediensteten, das sie einfach für Grobheit gehalten hatte, oft nur ein gekränktes Reagieren auf ihre Haltung zu erkennen, mit der sie ausdrückte, daß sie sich selbstverständlich einer Rasse überlegen fühle, die sie als »gewöhnliche Leute« zu bezeichnen gewöhnt worden war. Sprach sie frei und offen, so behandelten sie die Menschen als ihresgleichen und man half ihr gern und freundschaftlich.
Zwei Tage lang fuhr sie im Sonnenschein und trocknenden Kot auf einer Straße, die geradewegs durch flaches Weizenland führte, und sich dann zwischen niedrigen Hügeln hinaufdrehte. Oft gab es keine Zäune; sie war eingeschlossen im dichten, hohen Getreide, so daß die Kotflügel des Wagens die Weizenhalme streiften und sie nicht mehr eine Fremde sondern ein Teil dieses unermeßlichen Landes wurde. Sie vergaß, daß sie lenkte, während sie den Wagen weiter hinstreichen ließ und sich selbst entrückt fühlte in ein Meer von Wolken, Prairie-Wolken, wogende Fetzen übereinandergeschichteten Rauches, wie geschieferter Meeressand oder Berge von Haufenwolken, die in goldglitzernde, schneebedeckte Spitzen ausliefen.
Die Anmut der tragenden Erde gab Claire ein Gefühl der Ruhe, das der vorbeiziehenden Stunden nicht achtete. Sogar ihr Vater, der ernste, nur in seiner Welt lebende Geschäftsmann, nickte schmutzigen Leuten auf der Straße zu; einem freundlichen alten Mann, der wohlbeleibt, durchgerüttelt und hin- und hergeworfen in seinem winzigen, rhythmisch kreischenden Wägelchen saß, und den Frauen in all den kleinen, plötzlich auftauchenden Örtchen mit den riesigen, roten Getreideaufzügen und den langen, flachdachigen Magazinen.
Claire hatte Amerika entdeckt und sie fühlte sich stark, und über allen ihren Tagen lag heller Sonnenschein. Sie hatte auch entdeckt, daß sie Abenteuer zu genießen verstand. Sie wurde nicht mehr von Befürchtungen geplagt, wie zu der Zeit, als sie Minneapolis verlassen hatte. Sie kannte nun die aufblitzende Freude – als riefe man ein vorüberziehendes Schiff an – wenn sie einen Illinois-Wagen im Vorbeisausen begrüßte, auf dessen mit Staubkrusten bedeckter Rückwand die Flagge war »Chicago zum Yellowstone-Park«. Und oft, wenn die Eisenbahnstrecken meilenweit neben der Fahrstraße liefen, lernte sie ein neues Gefühl allgemeiner Menschenliebe kennen, wenn der Lokomotivführer eines Lastzuges ihr mit der Hand zuwinkte und zum Zeichen des Grußes pfeifend Dampf ausließ.
Ihr Vater ermüdete leicht und schlummerte meist die frühen Stunden des Nachmittags hindurch, wenn ein nicht allzuleicht verdauliches Kleinstadt-Mittagessen wie Blei in seinem Magen lag. Trotz der Schönheit des Landes und der Freude des Vorwärtskommens hatten die Beiden mancherlei zu ertragen.
Nach dem Mittagessen wachzubleiben, war für Claire oft ein Kampf auf Tod und Leben. Die Augen waren ihr vom Essen trübe und schmerzten sie vom grellen Sonnenlicht. In der lautlos stillen Luft, wenn die Morgenbrise ausgebrannt worden war, quälte sie die Hitze des Motors an Füßen und Beinen bis zur Unerträglichkeit; und wenn ein anderer Wagen vorne war, sickerte die Staubsäule in ihren Hals hinein. Wenn kein starker Verkehr war, der sie wach hielt, nickte sie am Volant ein; sie wurde zu dem bloßen Bestandteil einer Maschine, die weiterlief, ohne anscheinend irgendwelchen Eindruck auf die Endlosigkeit der Prairie zu machen. Immer und immer wieder waren dieselben Handgriffe zu machen. Langsam fahren, wenn es bergab ging; sich in acht nehmen vor sandigen Stellen unten; den Wagen sanft auslaufen lassen auf ebener Strecke; einer einsamen Bauersfrau zuwinken in irgendeinem kleinen, verlassenen Vorhof; langsam fahren, um an einem Heuwagen vorbeizukommen; Gas geben, um die nächste Steigung hinaufzufahren und das Ganze von Anfang an wieder und immer wieder. Doch bis gegen Mittag war sie vergnügt, und vom halben Nachmittag an kam neue Kraft über sie, die, sobald die Röte über den goldenen Nebeldunst hinaufzukriechen begann, in ruhig-heitere Betrachtungen überging.
Auch fand sie das eine große Geheimnis des richtigen Tourenfahrens heraus, nämlich: fahren; immer nur in Einheiten von fünfzig Meilen zu denken, nicht in zehn Meilen-Abständen, und sich über nichts zu ärgern oder zu beunruhigen. Sie schien begeistert; hatte sie einen Pneudefekt – nun, so nahm sie eben das Reserverad. Ging ihr das Benzin aus – nun, so würde ihr wohl jeder vorbeikommende Fahrer ein paar Liter borgen. Nichts konnte, wie es schien, ihren gleichmäßigen Flug über das ungeheure Land aufhalten.
Sie verirrte sich nur selten. Die freundlichen Wegweiser, jene großen, roten R's und L's auf Zaunpflöcken und Telegraphenstangen, die wie Zaubersprüche den Weg wiesen, vom Mississippi bis zum Stillen Ozean, halfen ihr. Ihr Vater bewahrte sie durch kleine, gelegentliche Betrachtungen und Gespräche vor dem Gefühl der Einsamkeit. Er war der richtige Gefährte für weite Touren. Automobilreisen sind nicht die beste Gelegenheit für Epigramme und Satiren. Solches Geschwätz auf Autofahrten führte unabwendlich zu dem geheimnisvollen Auffinden der am Straßenrand verborgenen Leiche eines unbekannten, gutgekleideten Mannes. Claire und ihr Vater murmelten: »Gutes Bauernhaus – Ziegelbau,« oder: »Hübsche Aussicht«, und lächelten und waren für Meilen wieder so schweigsam wie der Himmel.
Sie dachte an die Leute, die sie kannte, insbesondere an Jeff Saxton. Doch sie konnte sich seines schmalen, ernsten Gesichtes nicht mehr recht entsinnen. Zwischen ihr und Jeff lagen viele sonnige, alles verwischende Meilen. Aber sie sehnte sich nicht nach ihm. Sicherlich sehnte sie sich nicht nach einem jungen Mann mit einem Regenmantel, einer Katze und einigem lnteresse für Japan. Ein Sänger kann nach seinem ersten Konzert nicht stolzer sein als Claire es war, nachdem sie die erste Staatengrenzlinie passiert hatte, polternd über eine Brücke fuhr, die über den Red River nach Nord Dakota führte. Überall Wagennummern aus Dakota zu sehen statt aus Minnesota, kam der Sensation gleich, fremdsprachige Straßentafeln zu sehen. Und als sie in Fargo ein wirkliches Bad bekam, hatte sie das Gefühl, daß sie sich das Recht auf diesen Genuß wohl verdient habe.
Herr Boltwood wurde von ihrer Begeisterung angesteckt. Das Abendessen war ein Fest und mit eisgekühltem Tee tranken die beiden friedlichen Conquistadoren auf das Wohl der neuen spanischen Herrschaft; und nachher gingen sie, Arm in Arm, vergnügt plaudernd ins Kino. Vor dem Royal-Palast-Kino, 4 große Vorstellungen 4, stand grasend ein fliegenähnlicher, blechbedeckter Wagen. »Vater! Schau! Ich glaube – ja, natürlich, da ist der Reisekorb – das ist der Wagen von diesem netten Burschen – erinnerst du dich nicht? – der uns aus dem Kot herausgezogen hat bei – ich weiß nicht mehr wie der Ort hieß. Anscheinend fährt er wirklich noch weiter. Ich erinnere mich, er wollte auch nach Seattle. Wir wollen uns im Saal drinnen nach ihm umsehen. Oh, wie lieb, da ist die Katze! Was hat er ihr nur für einen komischen Namen gegeben – Marquise Montmorency oder so ähnlich?«
Lady Vere de Vere, ein wenig mißtrauisch gegen Fargo und Kinobesucher, doch wohlgeborgen in ihrem Reise-Schloß, dem Karren, lag in Milt Daggetts Ulster zusammengerollt am Boden des Wagens. Sie zwinkerte Claire mit den Barthaaren zu und schnurrte unter ihrer streichelnden Hand.
Mit der Aufregung eines Menschen, der in einem fremden Land die Adresse eines Freundes ausfindig zu machen sucht, übersah Claire den Zuschauerraum, als vor Beginn des neuen Stückes die Lichter angezündet wurden. In der zweiten Reihe entdeckte sie Milt's borstiges, flachsgelbes Haar – erstaunlich glattgebürstet über einem überraschend reinen, neuen drappfarbenen Hemd aus merzerisierter Seide.
Er lachte wütend über die alten Scherze: Schwiegermutter-Geschichten, Käse-Geschichten und die Frau, welche die Taschen ihres Ehegatten plündert.
»Unser junger Freund scheint ja ein beneidenswert jugendliches Gemüt zu haben«, bemerkte Herr Boltwood. »Bitte keine Überlegenheit! Wahrscheinlich war er noch nie in einem richtigen Varieté. Wäre es nicht lustig, mit ihm zum ersten Mal in den ›Wintergarten‹ oder zu den ›Folies‹ zu gehen? … Statt sich von Jeff Saxton hinführen zu lassen, der einem die Witze, oh! so kunstvoll kommentiert!«
Das Kino war aus; Claire hatte den Film, unter zehn oder zwölf verschiedenen Titeln, schon gesehen, obwohl die Bewohner von Brooklyn Heights nicht die Gewohnheit hatten, ihre Samstag-Abende dem Kino zu widmen. Claire hatte diese Verulkung jenes Teiles der Vereinigten Staaten, der westlich vom 101 Längengrad liegt, schon allzuoft gesehen; diese Typen des bösen Mannes, des Richters – ein ältlicher Herr mit Backenbart und hohen Stiefeln – der Räuber, die traurigen Augen der Tochter des Richters – auch eine ältliche Darstellerin aber mit einem Sonnenhut und dem teuersten rouge – die Bekehrung des Missetäters und seine spätere unerschütterliche Anhänglichkeit an Gesetz und Ordnung. Claire schleppte ihren Vater wieder ins Hotel zurück, schickte ihn schlafen und fand, als sie ihr Zimmer betrat, ein Telegramm auf dem Schreibtisch.
Sie hatte ihren Freunden eine Liste aller Orte geschickt, in denen sie sich voraussichtlich aufhalten würden. Die Nachricht war von Jeff Saxton, Brooklyn. Sie rief in Claire wieder die Erinnerung wach, an jenen ruhigen Glanz seiner Augengläser – der teuersten Augengläser, mit den allerbest geschliffenen Linsen; das Telegramm lautete:
»erhielt brief bezueglich reiseroute fuerchte zu ermuedend fuer sie prairiestrassen schlecht fuer vater bergstrassen gefaehrlich rate dringendst nur kurze strecke weiterfahren dann eisenbahn nehmen
Sie hielt das Telegramm in der Hand und überlegte. Sie erinnerte sich, wie die weite Welt über die Motorhaube des Gomez her ihr den ganzen Tag über entgegengeströmt war. Sie schrieb als Antwort:
»strasse voll entsetzlicher gefahren zwei pneu defekte geschwindigkeit unbegrenzt fruehstuecks eier nicht einwandfrei aber werde mich weiter durchkaempfen«
Ehe sie das Telegramm abschickte, hielt sie mit ihrem Vater Rat. Sie saß am Fußende seines Bettes und bemühte sich, wie eine folgsame Tochter zu reden. »Ich will nichts tun, was für dich schlecht ist, Väterchen. Aber findest du nicht, daß es dich vom Geschäft ablenkt?«
»Ja-a, ich glaub schon. Jedenfalls wollen wir es noch ein paar Tage lang versuchen.«
»Ich mein, wir können den Gefahren trotzen. Ich glaub, wir könnten einen von diesen großen Bauersleuten bitten, uns zu Hilfe zu kommen, falls uns ein Walroß oder ein Krokodil in den Weizenfeldern begegnen sollte. Auch hab ich das Gefühl, daß, sollten wir wirklich einmal stecken bleiben, unser Freund im Teal-Karren uns helfen würde.«
»Werden ihn wahrscheinlich nie wieder sehen. Der behält seinen Vorsprung.«
»Natürlich, wir haben ihn ja auf der ganzen Strecke nicht einen Augenblick lang gesehen. Er muß lange vor uns in Fargo gewesen sein. Na, morgen denk ich –«