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Ich war grade dreißig Jahre geworden, erster Monteur, jung verheiratet, wohnte in Ratingen, war aber viel auf Montage im Ausland. Ich kam von Finnland, als der erste Eisentransport an die Brücke ging. Grad, daß die Pfeiler standen, da fingen wir schon von rechts und links an, die beiden Seitenbogen vom Land zum Pfeiler zu legen. Der Märzsturm fegte uns Schnee und Wasser um die Ohren. Ich hatte Bremer Zimmerleute, Hamburger Kesselschmiede, Dortmunder Brückenbauer, Kerle wie die Teufel. Es mußte fix gehn, drum hieben wir schon die Seiten fertig, während in der Fabrik noch das Mittelstück gemacht wurde. Der Mittelbogen sollte eingeschwommen werden, also am Ufer auf mächtigen Kähnen aufgebaut, fix und fertig genietet; die Kähne waren mit Wasser gefüllt und lagen bis an den Rand im Wasser, grad, daß sie die Brücke schwimmend hielten. Im Juni waren wir fast gleichzeitig fertig. Nun wurde für einen Tag die Durchfahrt gesperrt. Die Schlepper standen unter Dampf. Der Oberingenieur fuhr auf einem Motorboot dreimal rund um die Kähne, überzeugte sich immer wieder, ob auch alle seine Befehle ausgeführt waren, dann erst kam der große Signalpfiff.
Es war das erstemal, das wir in Deutschland dieses Einschwimmen machten, in Dänemark und Schweden war es uns geglückt. Unendlich langsam zogen die Schlepper an, man merkte es kaum, wie sie vom Land loskamen; als sie mit der Strömung abwärts zu treiben schienen, gaben sie Volldampf; langsam gegen den Strom schwamm der kolossale Bau, langsam schob er sich vor, bis er genau vor den Seitenteilen stand. Nun wurden die Pumpen angesetzt. Das Wasser wirkte wie Ballast. So, wie es ausgeworfen wurde, stiegen die Bräme und hoben zugleich die Brücke mit in die Höhe.
Die Pumpen liefen; die Kollegen auf den Schiffen starrten zur Brücke hinauf, die Brückenbauer sahen hinunter. Als die Oberkante der steigenden Mitte an die Unterteile der Seitenkanten anstießen, da erzitterte für einen Augenblick das ganze Eisengebäude: da die Gleitplatten gut mit schwarzer Seife und dickem Öl beschmiert waren, genügte ein gewaltiger Hebeldruck von zehn Mann am Knippbaum, und die ungeheure Last der vielen tausend Tonnen glitt in die vorgeschriebene Bahn, aufwärts, langsam steigend. Mit dem linken Arm in die Träger eingekrallt, bogen die Kollegen sich tiefweit vor, um ja den ersten Augenblick des Näherkommens nicht zu verpassen. Auf einmal mußten sie den Arm vor die Augen pressen, Staub und Rost fegte von den Trägern. Da erst merkten sie, daß ein Wind aufgekommen war.
Der Wind fegte in heulenden Stößen um uns hin, immer wieder flog der Dreck von den Trägern in unsere weitaufgerissenen Augen, die auf die mit Rotmennig und Bleiweiß kenntlich gemachten, weithin leuchtenden Verbindungslöcher starrten. Den Stahlpinn in der rechten Faust, mit dem linken Arm in die Winkel festgeklammert, erwarteten sie das Aufkommen der Löcher.
Was nützte es nun, daß alles so klar ausgedacht und berechnet, alles vorher erklärt und besprochen worden war. Jetzt kam der Wind, mit dem hatte man nicht kalkuliert, und dieser unsichtbare Feind versuchte die harten Hände und die noch härteren Geister zu verwirren. Wir sahen die Brücke höher und höher steigen, fühlten schon das Schwanken und schoben dem Wind die Schuld zu. Wir durften keinen Augenblick die Löcher aus den Augen lassen, aber wir konnten nicht anders, – einen Blick mußten wir auf das Wasser und die Schiffe tun, um zu sehen, ob der Rhein schon in Wellen zu schlagen begann.
Ich war oben auf den Brückenbogen kommandiert, saß auf der höchsten Spitze, fünfzehn, zwanzig Meter über dem Wasser. Ich hatte nach rechts zu sehn und nach links, nach vorn und hinten, auf die Träger, auf die Leute, auf die Schiffe und die Taue. Die Augen überall – hatte ich doch die meiste Arbeit mit den Schleppern, die ungleichmäßig zogen. Ich gab die Signalpfiffe, die Schlepper tuteten Antwort, das Schwanken mußte aufhören – oder – es lag nicht an den Schleppern, es lag an dem verdammten Sturm: eine hundert Meter lange Brücke, zwanzig Meter breit und ich schlug mich mit ein paar Zoll herum, lächerliche Kleinigkeiten.
Mensch, war das eine unerträgliche Spannung, ich vergaß mich selber, war hingerissen von der grausigen Situation, in die ich hineingetrudelt war. Ich machte dies großartige Abenteuer ja schon zum drittenmal, aber diesmal war es anders wegen dem Sturm. Eine Viertelstunde noch, was konnte da alles geschehn!
Eine Viertelstunde noch, dann würde die Brücke auf gleicher Höhe stehen, dann konnten die Hilfsträger untergeschoben werden, die Schrauben ins Loch gesteckt, dann mochte kommen, was wollte, Erdbeben und Weltuntergang, – die Brücke, sie würde stehen.
Oder – sie stürzte, riß alle Mann, auf den Kähnen und Trägern, mit hinunter in den Strom. Da war keine Rettung und kein Halten, – was nicht erschlagen wurde, das ersoff, Mann und Meister, Techniker und Ingenieur, rettungslos war Werk und Mensch miteinander verbunden. Das Schicksal der Brücke war auch unser Schicksal.
Mehr als hundert Mann wurden in diesen Minuten der Spannung zu einem einzigen Menschenblock, der nur noch zusammen dachte, zusammen handelte. Da glühten die Gedanken aus den Hirnen in brennender Stichflamme von einem zum andern, sich selber unbewußt:
Die Brücke, die Brücke!
Noch eine Viertelstunde, noch zehn Minuten!
Ich saß auf dem höchsten Bogen der Brücke, hing, spähend wie ein Raubvogel, mit gerecktem Hals, pfiff wie ein Adler, so gewöhnt des Sturmes daß ich ihn gar nicht spürte.
Nun konnte ich aber auch gar nichts mehr tun als warten, warten, sehen, ob alles gut ging. Unten pufften die Dampfmaschinen der Pumpen, die Wasserströme klatschten, von allen Seiten Geräusche: die Eisenträger rieben aneinander, sie scheuerten mit kreischendem Schreien, dann rubberte dumpf sprungweise weiß der Teufel was, dann knallte und schrammte ein Stahlseil, ich rotzte vor Wut auf die Pumpen hinunter, weil die nicht schneller machten. Brücke, verdammte Brücke! Mensch, in solchen Minuten bist du nicht für deine Gedanken verantwortlich, in solchen Minuten bist du von einem unbekannten Geist gepackt. Wie in einer Fieberphantasie sah ich auf einmal hinter dieser Brücke unsere Dortmunder Fabrik, sah ich die große Montagehalle, wo die hundert Helfer schleiften, fuhren, schraubten, bohrten, nieteten. Sah die Ingenieure rumlaufen, die Techniker, sah hoch am Dach die Kräne fahren – und mit einem Hieb schmeißen alle die Hände voraus und schreien: »Da, die Brücke!«
Sie zeigen mit den Fingern auf uns, reißen Maul und Augen auf: »Die Brücke!« Der Ernst Weilbach sagt: »Donnerschlag, heut fahren sie ja die Stücke zusammen, ob es klappen wird? Es muß doch klappen, niemand hat gemurkst, niemand was versaut!«
Bums, lange hatte sich der Träger geklemmt, jetzt macht er wieder einen Hups nach oben – ich spanne wieder auf die Pumpen, auf die Kollegen, auf die Locher, unerträglich langsam geht das. Warten, warten, warten.
Da sehe ich aber hunderte von schwarzen Fäusten um mich, das sind die Fäuste unserer Kameraden, sie helfen, sie schieben, sie drücken – da, auch die Hände meiner Frau, viele Frauenhände, als wären es die Hände der Frauen und Mütter unserer Kollegen. Der Wind saust, der Dreck fliegt, ich muß die Augen zukneifen. Gleich spüre ich wieder die unsichtbaren Helfer, alle kämpfen sie mit gegen den Wind: die Kameradschaft der Kollegen, das Bewußtsein der Techniker, der Wille der Ingenieure. Noch zehn Minuten, noch fünf Minuten.
Kein Mensch weiß, was solche Minuten sind! Nichts wären sie, wenn der Wind nicht gekommen wäre! Jeder verfluchte in Wut, verstöhnte in Angst, verwünschte in Not den Wind.
Warten, warten hier oben auf dem Träger, warten Minute um Minute. Ich mußte tun als fühle ich den Wind nicht. Ich sah diese Brücke wie ein Schlachtfeld, auf dem gesiegt oder gestorben wurde. Hier bewährte sich das Werk oder ward zum Gespött: hier entschied nicht mehr Kunst und Können derer, die hier an der Arbeit waren. Der Sieg war schon vorher entschieden, in den Ingenieurbüros, in den Direktorzimmern, in der Fabrik selbst. Wenn das Material Ia war, bei der Berechnung nicht an Mehrgewinn und Profit gedacht, in der Konstruktion nicht spekuliert, – hier an Organisation und Leuten nicht geknausert, wenn alles, alles Qualität war, dann konnte auch der Wind nichts machen; dann war die Schlacht gewonnen. Ich saß da, wie ein General, jetzt der General in der Arbeitsschlacht, aber auch ich konnte nichts mehr ändern, ich konnte nur mein Leben, eingesetzt in das Werk, auch mit dem Leben der andern verbinden und mit den Hunderten siegen oder untergehn. Ich fühlte in diesem Augenblick die wunderbare Einheit der Arbeit, die Harmonie aller schaffenden Kräfte. Es war mir, als säße ich gar nicht hier oben auf dem eisernen Träger, es war mir, als schwebe ich, getragen von der Verantwortung und von dem Vertrauen. Gehoben von den Strömen der Kraft stand ich wie auf dem Rücken eines Erzengels und geisterleicht schwebte ich über dem Wasser. Magnetisch gehoben, mit hundert und aberhundert Augen begabt, sah ich alles, was zu sehen nötig war. Als flögen die Verbindungen, gelöst aus Stahl und Eisen, für einen Augenblick zu mir hinauf und fragten mich: »Meister, bin ich so gut?«
Und ich streichelte das Eisen mit Kennerblicken und sagte: »Ja! du gutes Stück, geh wieder an deinen Ort!«
Warten, warten im kreischenden Krachen, stoßen, heben. Indessen war das östliche Zwischenstück an einem Ende hochgekommen; es gab furchtbare Stöße, wenn ein Träger klemmte. Schläge, die die ganze Brücke erschütterten, wenn der steigende Druck mit einem Ruck das Ganze höher stieß. Das westliche Pumpwerk kam nicht recht nach, dort hing die Brücke tiefer, die östlichen Pumpen mußten zeitweise aussetzen. Ich hörte durch den Wind das Knirschen der Träger, fühlte das Vibrieren des rutschenden Eisens. Jetzt glaubte ich zu sehen wie ein Schlepper nachließ, – ich sah die Brücke aus der Richtung zurückgehen, wieder vorwärtsschwanken, sah die Nieter verzweifelt mit den Pinnen nach den Löchern fuchteln, hörte Flüche, Kommandogebrüll; mit schrillem Geschrei ratterten die Kranwinden ab, die den letzten Ausgleich mit Anziehen und Loslassen geben mußten. Noch ein paar Minuten, dann mußte die gleiche Höhe hergestellt sein, dann mußten die Mitten vollkommen parallel stehen; ich sah, wie die Nieter am unteren Träger die Löcher gepackt hatten, wie sie mit den großen Dornen stießen. Noch ein paar Sekunden, dann würden die Winden oben anziehen und die paar Zoll herüberholen, die noch an der Senkrechte fehlten.
Warten, Minuten, Sekunden!
Da! Krachen! Brechen! Die Brücke wurde von einem Stoß erschüttert, Pfiffe von unten durch die heulenden Windwirbel, leise knirschendes Poltern, das zum donnernden Tosen anwuchs. Ein zweiter Stoß nun, dann Ruhe ... eine Sekunde, zwei, – dann noch ein fürchterlicher Schlag: nun mußte sie aufsitzen. Über mir klangen die Stahltrossen, heulten wie geschlagen auf, die Kranwinden zogen an. Sie schafften es; Zoll um Zoll zogen sie die Mitte herüber, ins Senkrechte, daß Loch auf Loch stand, da – mit ungeheurem Sausen zersprang eine Stahltrosse und klatschte in die Konstruktion; wie ein Schuß sauste die zweite hin, wie ein zischender Granatsplitter fegte die dritte über mich her. Rrangg! Da krachte die Hilfskonstruktion, um die die Trossen geschlungen waren, die Trägerversteifung bog sich zu mir herunter, sie kam auf mich zu. Ein Blick nach unten – die Bahn lag grade, ich sah nach oben in die Träger, da bogen die Gerüstträger sich nieder, Schrauben sprangen, die Verbindung riß ab. Ich wollte nach rückwärts, da fühlte ich Widerstand, ich wollte nach vorn, da sank der Querträger. Ich wollte meine Beine fortziehen, aber das eine saß schon festgeklemmt; ich riß verzweifelt, – es schmerzte stechend bis in den Kopf, da schwankten Trossen, Kloben, Balken. Die Brücke – wahrhaftig sie tat einen Sprung, sie hopste hoch, fiel und saß mit einem gewaltigen Schlag auf, –
Sie stand! Da war kein Irrtum, stand! Eine Sekunde, zwei, drei, vier! Saust sie jetzt nicht noch ab? Entweder, oder! fünf, sechs, sieben – ich hielt mit Zählen ein, zählte weiter, – zwanzig Sekunden, dreißig!
Sie steht! Sie steht! Sie stürzt nicht weiter! Sie sitzt auf! Ich sah unter mir die Kolonne hantieren, abgelaufene Rollen, Taue, Balken polterten ab, ich sah die Holzkreuzlager auf dem Wasser treiben, die Schlepper vorandampfen: Die Brücke steht!
In den paar Sekunden der höchsten Spannung hatte ich das Bein vergessen. »Warum schmerzt das nun nicht mehr?« fragte ich mich selbst, »warum schmerzt das nicht?« Ich sah doch genau: der obere Träger lag auf dem unteren, dazwischen das Bein, – es mußte durchgequetscht sein! Ich fühlte den Unterschenkel in der Luft hängen, obgleich ich ihn, hinter dem Träger, gar nicht sehen konnte. Ich hatte das Gefühl, als liefe der Schuh voll Blut. »Das kann doch nicht sein«, sagte ich laut, »denn der Fuß ist im Schuh«. Aber ich fühlte es so. Jetzt hörte auch das auf. Ich tastete voll Angst nach dem Bein: glatt am Knie beginnt der Träger, – da muß es ab sein! »Warum schmerzt das nun nicht?« dachte ich. »Das muß doch weh tun! Das ist doch alles zerquetscht und zermalmt!«
»Verdammt!« schrie ich und schlug mit der Faust auf das Bein. »Warum tut das nicht weh?«
Der Wind heulte.
Die Brücke hatte ich vergessen, hatte alles vergessen. Ganz langsam dachte es in meinem Gehirn: Wo keine Schmerzen sind, da ist auch kein Leben mehr!
»Dann bist du ja schon tot!« schrie ich mir selber zu. Ich biß auf die Lippen, klammerte die Hände um den Hals, kniff mir in die Backen, – ich fühlte nichts. »Ich muß verblutet sein!« sagte ich mir. »Das sind doch fünf Minuten her? Was? Fünf Minuten? Fünf Stunden? Unsinn! Da klingt eine fremde Stimme in meine Ohren; »Du bist schon gestorben, du schwebst nur noch als Geist um die Brücke, weil du eben von der Brücke und den Kollegen nicht loskommen kannst.« Moment: Tod?? Sterben?
Den Tod hatte ich mir anders vorgestellt. Mit viel Krampf and Quälerei. Da: Hammerschläge Signalpfiffe, Schleppertuten. Ich biß auf die Zähne, spürte die Signalpfeife zwischen den Zähnen. Ich pfiff, hörte den Pfiff. Nun der Fuß, jetzt ist er wie eingeschlafen, unerträglich. Doch ich mußte lachen: »Ich habe Schmerzen! Wer Schmerzen hat, lebt noch! Ich lebe!«
Ich überlegte: Soll ich Alarm pfeifen? Daß sie mich holen? Ich war doch verwundet und mußte hinunter.
Nein, ich pfiff nicht. Die Kollegen sollen sich nicht aus der Fassung bringen lassen, sie vertrauen mir ja, ihrem Monteur. Solange sie mir vertrauen, ist es gut. Sie müssen wühlen, schuften, sie müssen Träger schieben, Trossen schlingen, Schrauben einziehen, Bolzen einstecken, damit es keinen zweiten Stock geben kann. Ich weiß, alle die hundert Mann an der Brücke, sie denken nicht an sich, sie denken an die Brücke, – sie sollen auch nicht an den Monteur denken. Und sie denken an die Brücke, das spürte ich. Ich bin eins mit ihnen, mit allen. Jeder Schlag, den sie aufs Eisen tun, geht wie ein elektrischer Strom durch die Brücke. Das klingt durch die Brücke, sie klingt selbst, die Brücke.
Nie hatte ich solchen Klang vernommen. Vielleicht, dachte ich, das sind schon Sphärenklänge. Das Wort hatte ich, wer weiß wann, einmal gehört und wieder vergessen. Sphärenklänge? das sind himmlische Klänge. Unsinn! Hier ist die Brücke! Hier ist die Arbeit! Die Töne klingen weiter, immerfort: sie kommen nicht von unten her, sie kommen aus der Ferne. Da, wie ich so sitze, mich nicht bewegen kann, immer gradaussehn muß, da auf einmal seh ich wieder die Fabrik, mitten in Deutschland. Weit auf die Tore, die Kollegen setzen für einen Augenblick die Maschinen still. Sie wenden ihre Gesichter nach Westen hin: Sie schauen auf die Brücke, sie legen alle die Hände auf das Eisen, auf die Maschine. Überall in Deutschland, in allen Eisenwerken schwenken sie die Kappen, Kollegen, sie sehn zur Brücke, zu mir hinauf: »Treue um Treue. Die Brücke steht!«
Sie klingt nicht mehr. Mein Bein schmerzt. Ich bin wie betrunken, müd, die Augen fallen zu. Da höre ich Stimmen: »Nix zu machen, wie ich das Bein anpackte, fiel es mir in die Hand. Muß wohl grad noch an der Sehne gehangen haben.«
»Ja, wenn wir den losmachen, – der verblutet uns!« sagte der andere. »Jetzt haben die Träger noch die Adern zugequetscht. Da müssen wir erst einen Doktor hinaufholen. Der muß das Bein abbinden. Überhaupt! Das stimmt nicht mit ihm. Ein Doktor muß vor allem da sein!«
»Kollegen, Kollegen, wo seid ihr?«
Stille. – Verschwunden.
»Kollegen, Kollegen! Helft mir doch!«
Ich zweifelte an meinem Verstand. »Und sie waren doch hier!« sagte ich mir selbst zum Trost. »Ich habe sie doch reden hören, hier, neben mir.« – »Kollegen, Kollegen!«
Das Brausen des Windes riß mir die Worte aus dem Mund. Die Wolken ziehen sich zusammen, eingehüllt von Dünsten ist die Brücke.
Es blitzt. Krachender Donner haut ineinander mit zischenden Blitzen. Die Träger haben glühende Ränder, der Blitz läuft am Eisen vorbei; ich schwebe wie in Wolken, die Erde ist verschwunden.
Die Brücke? Die Brücke wo? sie war fort.
Ich wurde müde, das Bein so schwer, als hinge die ganze Brücke daran. Die Wolken hängen ganz dicht um mich.
Lange horchte ich auf Hammerschläge, auf Kommandopfiffe, nichts regte sich. Die Brücke steht, aber mich haben sie vergessen. Wie lange sitze ich schon hier? Fünf Minuten? Zehn Minuten? Ich horche in die Finsternis, kein Laut. Ich rufe, schreie. Höre den Schall des Echos, aber keine Antwort. Allein, vergessen, verloren im Schlachtfeld der Arbeit. Da fängt es in mir zu reden an. Eine leise Kinderstimme spricht. Ich höre einen geheimnisvollen Spruch, den ich als Kind gelernt und als Mann vergessen habe, jetzt fällt er mir wieder ein: »Kein Auge hat es gesehen, kein Ohr hat es gehört, in keines Menschen Herz ist es gedrungen, was ich ... was Gott ... was wir...«
Da, das Bein. Ach ja, das Bein. Was ist das mit dem Bein? Neben mir, verschwindend im Dunst, die zwei Kollegen. Der eine hat einen Stahlpinn unter den Schenkel gesteckt. Der andere schiebt einen Riemen hinterher. Den Riemen schlingen sie um das Bein und schnüren ihn mit dem Stahlpinn zu. Das schmerzt, ich schreie. Nun binden sie den Stahlpinn mit einem andern Riemen fest, ziehen mit Gewalt das Bein von dem Träger fort. Der andere nimmt ein Seil; ein Ende wird um meine Brust geschlungen, umgewickelt, eingehakt, »Ho – Ruck!«
Sie lassen mich ab. Wie ich nun in der Luft hänge, überfällt mich die Angst. Ich greife nach den Trägern, will mich halten. Sie zerren meine packenden Hände von dem Träger fort, ich schreie: »Seid ihr verrückt? Bin ich ein T-Träger, was fällt euch ein?« Ich schlage mit den Händen um mich, pendele hin und her. Die Kollegen sprechen: »Das gibt sich.« »Laß ihn nur austoben!«
Nun sinke ich, sinke, ich wehre mich, rase wie besessen, stoße mir den Kopf an Trägern und Balken, sehe keinen der Kollegen mehr, sehe überhaupt nichts, sinke ins Bodenlose, meine Kraft ist in das kaputte Bein gesunken und brennt da wie Feuer und Salzsäure. Da: jetzt greifen viele Hände nach mir, heben mich, lösen das Seil und tragen mich fort.
Ich erwache, zehn Mann um mich herum, ich will fort, sie drücken mich nieder. »Morphium einspritzen«, sagt jemand. Das geht mich an: »Nein!« schrei ich. »Was soll dieser Apothekerschnee! Gebt mir einen Schnaps! Verdammt! Ich verdurste! Es hat mich jemand gestochen.« Ich trinke den Schnaps. Ich höre jedes Wort: »Was? Was Bruch? So! Ja! Den Beinbruch, den hab ich fort, ausgerechnet ich, der doch immer gesagt hat: »Jungs, nehmt eure Knochen in Acht!« Nicht nen kleinen Finger ist die ganze Scheißbrücke wert! Wieviel weniger einen Beinbruch! Da gebt mir doch einen Schnaps, eine Zigarette! Was? Bein ab? Kollegen, wo ist das Bein? Wer hat es? Her damit! Es ist doch mein Bein! Das geht doch nicht, daß ich mit einem Bein auf Arbeit gehen soll! Habt ihr schon einmal einen Monteur mit Stock und Krücke über die Träger laufen sehen? Ihr lacht! Helft! Kollegen! Helft! – Was steht ihr so steif herum? Helft! Scheiße! Da! Ich mach das nicht mehr mit! Tuts Maul auf, Saubande. Nicht? Gut, dann schlaf ich was!«
Das sagte ich schon halb im Dusel. Ich soll den ganzen Weg geflucht und gemault haben, das war doch sonst nicht meine Art. Ich wußte nichts mehr. Aber auf dem Operationstisch, da wurde ich wach: ich hatte einen fürchterlichen Haß auf den Doktor im Leib, ich hätt ihn kaputtgemacht, aber ich war doch schlapp. Sonst hätten sie mich nicht festgekriegt. Nachher hab ich immer an die Seite getastet, da fehlte auf einmal was. Mir fehlt seitdem überhaupt viel, ich suche voll Unruhe, bin immer auf Sprung nach was Neuem. Zuerst konnte ich keine Zeitung aufschlagen ohne mit den Fingern zu zittern aus lauter Aufregung: ich meinte, es müsse drinstehn, heute, das Neue!«
Er legte den Ellbogen auf die Knie, den Kopf in die Hände und stierte vor sich hin.
»Was in der Zeitung stehn?« fragte ich, »das mit deinem Bein?«
Der Kollege stand auf, ging im Zimmer umher und schüttelte mich im Vorübergehn an der Schulter: »Kerl, denk doch ein wenig weiter wie deine eigne Nase! Nicht um mein Bein allein handelt es sich! Sondern um unser aller Beine, Leiber! Weiber, Kinder! Um unsre Zukunft. – Nein, das verstehst du noch nicht! Trinken kann's der Bursche auch nicht! Was verstehst du denn eigentlich?«
»Ich? Ich kann Gedichte schreiben!« trumpfte ich auf.
»Nun bin ich platt!« Der Kollege setzte sich auf seinen Stuhl.
»Ja, ich habe schon das ganze Anschreibebuch vollgeschrieben, und ich werde noch mehr schreiben. Einen Roman von den Kesselschmieden, den Wäldern, den Landstraßen, vom Fressen und Saufen! Von Gefängnissen und Werkstätten. Von Menschen und von Bäumen! Auch von den Hochöfen.«
»Da müssen wir einen drauf trinken!« sagte er und holte den Krug, goß die Gläser voll und prostete mir zu: »Ein Sohn des Volkes will ich sein und bleiben! Das ist auch ein Gedicht vom Arbeiter. So was mußt du schreiben, sauf, dann fällt dir was ein!«
»Es muß auch ohne Saufen gehn!« wehrte ich ab, trank aber doch.
»Unsinn! Sauf! Was dir im nüchternen Kopf nicht einfällt, das lehrt dich der heilige Geist aus der Flasche. Wenn ich nüchtern bin, denk ich immer nur an mich. Wenn ich aber Schlagseite habe, dann schlägt mirs Gewissen ... Dann denk ich an die Kameraden und den Klassenkampf. Trink, damit der Krug leer und das Herz voll wird.«
Ich trank mit, wurde lustig, trank weiter, bis ich müde wurde. Wenn ich den Kollegen sah, dachte ich an seine Tochter Liebeke; das Mädchen wurde zu Rosa, der toten Freundin; in meinem Dusel phantasierte ich, sie sei aus ihrem Grab gekrochen, zum Rhein gelaufen, nach Holland hinabgeschwommen und erwarte mich hier. Nun lag Rosa oben im Bett, groß gewachsen, blond, gesund, schön. Das machte mich so heiter, daß ich wie gekitzelt kicherte, mit dem Kopf auf den Armen über den Tisch lag, lachte, daß der Tisch erschütterte und das Grogglas umfiel. Als ich mich aufrichtete, konnte ich nicht stehn, ich fiel auf die breite Bank und wälzte mich wie in einem Lachkrampf. Der Kollege sang: »Ein Sohn des Volkes will ich sein und bleiben!« Ich lallte nur noch in derselben Melodie: »Ein Sohn des Volkes liebt des Volkes Tochter!«
Da klopfte es an der Tür, eine angstvolle Stimme sagte: »Vater seid still, Mieken ist wach und weint!«
Der Kollege ging an die Tür, da stand Liebeke und sah mich groß an. Sie ging, der Kollege kam zurück und wollte mich ins Bett bringen. Die kleine Kammer lag am Ende des Ganges. Ich aber wollte in das große Zimmer, in das ich Liebeke hatte verschwinden sehn. Auch der Kollege konnte nicht wie er wollte. Wenn er stehn blieb, flutschte ich ihm aus den Fingern. Ich stand an einer offenen Schlafzimmertür, machte dem Kollegen, der immerzu »Still, still« sagte, Zeichen. Als er mich beim Arm nahm, stieß ich ihn fort, daß er taumelte: »Dummer Kerl, merkst du denn nicht, daß ich mit meiner Rosa spazierengehn will, der Mond leuchtet so schön, du hast ja keine Ahnung, ich will es einfach jetzt!« Dann wurde es mir übel, ich weiß nicht, wie ich vor die Tür kam. Als ich erwachte, hatte ich den Rock voll Erbrochenem, lag mit den Füßen im Wasser des Straßengrabens und fror, daß mir die Arme am Leib flatterten. Ich stand auf, stolperte über meinen Rucksack, tastete nach dem Bozenermantel, der obenaufgeschnallt war, wickelte mich hinein und setzte mit der letzten Energie meines Hirns die schlotternden Beine in Trab. Im Laufen griff ich nach meinem Kopf; er wackelte, als ob eine Beule von den Augen bis zum Nacken mit Wasser gefüllt, kluckernd auf den Schultern balanciere.