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Die Wiedereröffnung der Spielsäle in Dieppe im Jahre 1919 gab, wie manche sich erinnern werden, das Zeichen für ein sehr hohes Spiel, das an vielen Treffpunkten der eleganten Welt einsetzte. Das war einerseits die natürliche Reaktion der allgemeinen Stimmung nach dem strengen Verbot aller Glückspiele während des Krieges. Andererseits hatten viele daran Geschmack gewonnen, die früher die kleinste Lotterie als unmoralisch verurteilten.
Unter den täglichen Besuchern des Kasinos war im August 1919 auch eine sehr hübsche Engländerin zu sehen, die sich fast immer in Begleitung eines großen, nicht gerade feinen Herrn in mittleren Jahren und eines gut aussehenden jungen Mannes von sehr gepflegtem Aeußeren zeigte. Abend für Abend erschien dieses Trio zwischen acht und neun Uhr und saß fast immer an demselben Petits-Chevaux-Tische, bis das Kasino geschlossen wurde.
Was am meisten Aufsehen erregte, war die große Summe, die sie immer wieder setzten und das außerordentliche Glück, das sie zu begünstigen schien. Hin und wieder verließen sie das Kasino um viele hundert, zuweilen um einige tausend Pfund reicher, als sie es betreten hatten, und gewöhnlich erwartete sie am Eingang ein »agent de police,« der sie bis in ihr Hotel begleitete, um jede Möglichkeit einer Beraubung auszuschließen.
Dieppe war damals einer der wenigen französischen Seehäfen, die ohne weitere Formalitäten von Engländern besucht werden konnten, so daß Tausende von ihnen dort zusammenkamen. Es war daher nicht zu verwundern, daß Jessica und ihre Freunde nach einer oder zwei Wochen im Kasino mit Captain Preston und Yootha Hagerston zusammentrafen.
Jessica streckte ihnen sogleich ihre Hand entgegen.
»Ich will nicht sagen, daß ich erstaunt bin, Sie hier zu sehen,« rief sie aus und schüttelte Yootha die Hand, »denn man tut hier nichts anderes, als Freunde aus England zu begrüßen, aber ich habe nicht erwartet, Sie hier zu treffen, weil ich hörte, daß Sie auf dem Lande wären.«
»Wir sind gestern abend aus Monmouthshire hier angekommen,« antwortete Yootha schnell. »Ist das nicht ein reizender Ort? Ich bin noch niemals hier gewesen.«
»Ist jemand mit Ihnen gekommen?« fragte Jessica.
»Eine Tante von mir sollte mit uns reisen, aber im letzten Augenblick ist sie erkrankt.«
Obgleich ihr dieses Zusammentreffen nach allem, was geschehen, höchst peinlich war, hielt sie es doch für weiser, dieser Frau nicht aus dem Weg zu gehen, wie sie im Herzen wünschte.
Jessica dagegen schien sich über das Zusammentreffen aufrichtig zu freuen, fragte, wo sie abgestiegen wären und lud sie am Schluß der Unterhaltung zum Essen ein, was sie natürlich nicht ablehnen konnten.
Von den zahlreichen feingekleideten Gästen des »Royal Hotel« gingen nach dem Essen viele in das Kasino hinüber, und unter ihnen befand sich auch Jessica mit ihren Freunden und ihren beiden Gästen.
»Ich habe in der letzten Zeit viel Glück im Spiel gehabt,« sagte Jessica, als sie eintraten. »Ich möchte Sie nicht in irgendeiner Weise beeinflussen, aber wenn Sie und Captain Preston mit mir spielen wollen, so werden Sie, glaube ich, gewinnen. Ich spiele seit zwei Wochen und habe nur dreimal verloren – und nur unbedeutend, so daß ich mit drei- bis viertausend Pfund im Gewinn bin, und meine Freunde haben auch gewonnen. Und doch hat keiner von uns ein besonderes System. Es ist reines Glück.
»Ich glaube nicht, daß Yootha spielen wird,« sagte Preston, der Jessicas Worte gehört hatte.
»Ach, Charlie, warum denn nicht?« rief Yootha enttäuscht aus. »Ich habe mich so darauf gefreut. Ich werde doch niemals eine Spielerin werden!«
Jessica lachte, und in ihrem Lachen lag ein Ton verächtlichen Mitleids.
»Natürlich, wenn Captain Preston Ihnen das Spiel verbietet, so werden Sie nicht spielen,« sagte sie leichthin.
»Sie sind wirklich im Irrtum, Jessica,« sagte Yootha pikiert. Dann wandte sie sich an Preston.
»Ich will spielen, Charlie,« sagte sie, »und du wirst sehen, daß ich gewinnen werde.«
»Das ist die rechte Stimmung,« rief Jessica lachend. »Aber wenn Sie verlieren, werden Sie mir hoffentlich keine Vorwürfe machen.«
Preston biß sich auf die Lippen, sagte aber kein Wort mehr. Sobald er geäußert hatte, daß Yootha nicht spielen würde, war ihm eingefallen, wie ungeschickt das war. Keine Frau verträgt es, daß ihr entgegengetreten wird, am wenigsten, wenn es vor anderen und von seiten des Mannes geschieht, den sie heiraten will. Er war überzeugt, daß sie, wenn er geschwiegen hatte, von sich aus erwidert hätte, daß sie nicht spielen wollte.
Er zündete sich eine Zigarre an und beobachtete stehend das Spiel, während Jessica sich an den Tisch setzte und Yootha den leeren Platz neben ihr anbot. Stapleton und La Planta stellten sich dicht hinter sie.
»Geben Sie mir Ihr Geld,« sagte Jessica leise zu dem jungen Mädchen. »Ich will es zu meinem eigenen legen, und dann wollen wir auf die gleichen Pferde setzen, und wenn ich Glück habe, wird es auch Ihres sein.«
Mit wachsender Erregung zog Yootha aus ihrer Handtasche einen Packen Scheine hervor, zählte sie sorgfältig durch und übergab sie ihrer Nachbarin.
»Mehr kann ich nicht aufbringen,« flüsterte sie. »Sie werden damit machen, was Sie können, nicht wahr? Ich möchte so gerne gewinnen.«
»Oh, das ist eine ganze Menge,« antwortete Jessica, nahm die Scheine, zählte sie und legte sie obenauf, zu ihrem eigenen Packen.
Dann betrachtete sie einige Minuten lang aufmerksam das Spiel.
»Jetzt fang' ich an,« sagte sie plötzlich und schob einen Haufen Papiergeld auf einen der Pferdenamen.
Die Pferdchen schossen im Kreis herum, aneinander vorbei; die einen blieben zurück, die anderen kamen voran. Dann folgte das eintönige »Rien n'va plus« des Croupiers; die Schnelligkeit der Pferdchen ließ nach, sie bewegten sich langsamer und immer langsamer – und blieben stehen.
Jessica hatte verloren.
»Diesmal doppeln wir,« sagte sie leise zu Yootha und schob mehr Geld auf den Namen, von dem ihr erster Einsatz gerade fortgefegt worden war. Wieder flogen die Pferdchen im Kreise; wieder ertönte der Ruf des Croupiers Und wieder verlangsamten sie ihren Lauf und – standen still.
Jessica hatte wieder verloren.
»Sollen wir weiter setzen?« fragte Yootha besorgt. »Oder ein anderes Pferd versuchen?«
»Unsinn,« antwortete Jessica in ungeduldigem Ton, »Sie haben nur eine Kleinigkeit verloren und ich – fünfzig Pfund. Passen Sie jetzt auf.«
Sie setzte wieder auf dasselbe Pferd, und diesmal war der Haufen Scheine viel größer. Das Rennen begann. Eine Minute lang waren die Pferdchen in Bewegung und blieben schließlich stehen.
Yootha konnte einen Freudenschrei nicht unterdrücken. Jessicas Pferd hatte gewonnen!
Ein Haufen Geld, der dem jungen Mädchen sehr groß erschien, wurde vom Croupier Jessica zugeschoben und gleich reichte sie ihr einen Teil davon.
Jetzt setzte Jessica eine noch größere Summe – und gewann. Sie setzte wieder und gewann wieder und immer wieder. Die Menge, die sich um den Tisch versammelt hatte, begann zu murmeln und geriet in Aufregung, als Jessica, die jetzt auf mehrere Pferde setzte, dreimal nach der Reihe gewann. Yootha stockte der Atem vor Erregung. Ihre Brust hob und senkte sich, ihre Augen leuchteten vor Eifer, ihre Wangen glühten. Und ihre Nachbarin fuhr fort zu setzen. Wenn sie einmal verlor, gewann sie zweimal. Verlor sie zweimal, so gewann sie gleich darauf drei- oder viermal. Yootha, deren Gewinne sich vor ihr auftürmten, wollte eben mit Jessica sprechen, als sie Preston in die Augen sah. Er stand an der gegenüberliegenden Seite des Tisches und rauchte ruhig seine Zigarre. Sein Gesicht ließ weder Billigung noch Tadel sehen. Er sah sie nur scharf an, ohne zu lächeln.
»Bitten Sie doch Captain Preston, sich zu uns zu setzen,« sagte Jessica zu Yootha. »Er steht dort so traurig und verlassen. Spielt er nie? Hat er denn überhaupt keine Fehler? Hören Sie auf meinen Rat, Yootha – überlegen Sie es sich zweimal, bevor Sie einen Mann heiraten, der sich rühmt, keine Fehler zu haben!«
»Aber er denkt ja gar nicht daran – er rühmt sich überhaupt nicht,« antwortete Yootha gereizt; denn Jessicas Ton verstimmte sie wieder. Sie sah Preston wieder in die Augen und machte ihm ein Zeichen; über er schüttelte nur den Kopf und lächelte kühl.
»Sie müssen ihn spielen lehren, wenn Sie verheiratet sind,« sagte Jessica. »Er hat übrigens gespielt, ich weiß es,« fügte sie mit seltsamem Lächeln hinzu. »Sehen Sie, was für eine Summe Sie heute abend auf meinem Rat hin zusammengebracht haben! Jetzt setze ich noch viermal und dann machen wir Schluß, ob wir gewinnen oder verlieren.«
Sie setzte hoch und verlor; dann setzte sie wieder und gewann dreimal nach der Reihe.
Sie erhob sich, Yootha tat dasselbe, und sofort nahmen andere Spieler ihre Plätze ein.
Yootha war außer sich vor Freude. Wenn auch die Summe, die sie gewonnen hatte, im Vergleich mit Jessicas Gewinn gering war, so erschien sie ihr doch gewaltig, vielleicht weil sie noch nie gespielt hatte.
In ihrem Eifer schien sie ihre Abneigung gegen Mrs. Mervyn-Robertson ganz vergessen zu haben. Sie dachte nicht einmal an ihren Verlobten, der jetzt auf sie zukam.
»Hab' ich nicht recht gehabt, deinen Rat nicht zu befolgen?« rief sie fröhlich. »Du hättest auch spielen sollen. Charlie! Du hast keine Ahnung, was das für einen Spaß macht!«
»Ich wünschte, ich hätte keine Ahnung davon,« erwiderte er ernst. »Ich wäre jetzt ein reicher Mann.«
»Ja,« fiel Jessica mit eigentümlichem Lachen ein, »Ich habe gehört, daß Captain Preston vor Jahren bei Wetten und Kartenspiel Tausende verloren hat.«
Yootha sah, daß Preston ein ärgerliches Gesicht machte, und brachte das Gespräch schnell auf etwas anderes.
Beim Souper im Kasino, das sie mit Jessica und ihren, Freunden einnahmen, fiel Yoothas Blick auf einen Herrn, der mit Bekannten am Nebentische saß.
»Ich muß den Mann gesehen haben,« bemerkte sie leise zu Preston. sind wir ihm nicht zusammen irgendwo begegnet?«
Preston blickte in die angegebene Richtung. Der Mann hatte ein glattes, wohlgenährtes Gesicht, schwarzes, leicht gekräuseltes Haar und einen sorgfältig gewichsten Schnurrbart. Ja, er hatte ihn auch schon gesehen – aber wo?
Dann fiel es ihm plötzlich ein: er hatte sein Porträt gesehen. Das große Bild hing in Stotherts Bureau im Hause mit dem Bronzegesicht.
Er sagte es Yootha.
»Ja, das stimmt!« rief sie aus. »Ich erinnere mich genaue des Gesichts. Wer kann es sein?«
»Nach wem fragen Sie?« sagte Jessica, die nur die letzten Worte gehört hatte.
»Der schwarze Mann dort am Nebentisch,« sagte Yootha leise und deutete mit den Augen hin.
»Das ist Monsieur Alphonse Michaud,« erwiderte Jessica sofort. »Ein hervorragender Mensch, nach allem, was man hört. Er ist der Leiter und, wie ich glaube, auch der Eigentümer der Londoner Geheimagentur.«
»Dieser Mann? Ich dachte, Mr. Stothert und seine Kollegin Camille Lenoir, wären die Leiter der Agentur.«
Jessica lachte.
»Nein,« sagte sie und bot Yootha noch etwas Hummer an. »Stothert und die Lenoir sind nur gewöhnliche Angestellte. Wann sind Sie in der Agentur gewesen?«
»Nach dieser schrecklichen Affäre auf dem Ball in der Alberthalle. Ich kann noch jetzt nicht daran denken. Es ist wie ein böser Traum.«
»Natürlich – ich hatte es ganz vergessen. Uebrigens wurde die Sache mit dem Halsband aufgeklärt?«
»Ich glaube nicht. Das Ganze war so unbegreiflich.«
»Hat die Geheimagentur nichts ermitteln können? Sie sind im allgemeinen so geschickt.«
»Nichts von Bedeutung,« sagte Yootha schnell.
»Ja, das ist der Mann!« wiederholte sie und blickte auf den schwarzhaarigen Fremden, der sich gerade mit seinen Bekannten, drei auffallend gekleideten Damen, erhob. »Es kann kein Irrtum sein. Die Aehnlichkeit ist unverkennbar.«
Als Yootha und Preston wieder allein waren, kehrte das junge Mädchen zur Frage des Spiels zurück.
»Es ist so aufregend, Charlie,« rief sie aus. »Ich muß morgen wieder mein Glück versuchen, unbedingt! In mancher Hinsicht ist Jessica eine herrliche Frau! Sie sagt mir, daß sie fast immer gewinnt. Ich brauche also nur dasselbe zu tun wie sie und –
»Du scheinst plötzlich eine Schwäche für die Frau zu haben,« unterbrach sie Preston. »Das hätte ich nie für möglich gehalten.«
»Auch ich nicht, Charlie,« erwiderte sie gleich.
»Aber ich habe gar keine Schwäche für sie. Ich denke nur – nun ja, ich denke, daß wir sie bis zu einem gewissen Grade falsch beurteilt haben.«
»Nach dem, was sie über Cora gesagt hat?«
»Ich weiß nicht, ob sie es tatsächlich gesagt hat; denn ich habe es nicht selbst gehört. Schließlich hat man es uns nur erzählt, und du weißt, wie die Leute übertreiben.«
Preston schwieg.
»Ich wünschte, du spieltest nicht wieder, Schatz,« rief er plötzlich sehr ernst aus. »Du weißt nicht, wie die Spielwut einen gefangen nehmen kann. Ich hoffte heute abend von Herzen, daß du verlieren würdest.«
»Du hofftest, daß ich verlieren würde!«
»Ja, dann hättest du nie wieder Lust zu spielen. Das Spiel wäre dir verhaßt geworden, bevor es noch über dich Herr werden konnte.«
»Ach, jetzt verstehe ich!« rief sie aus, und ihr Gesicht hellte sich auf. »Jessica sagte, du hättest vor Jahren viel Geld verloren. Kein Wunder, wenn du jetzt das Spiel haßt. Wieviel hast du verloren. Charlie? Und warum hast du mir nie davon erzählt? Wer hat es Jessica gesagt?«
»Ich habe fast meinen letzten Schilling verloren,« antwortete Preston leise. »Die Spielwut packte mich zuerst, als ich mit meinen Freunden in Port Said war, und ich hatte großes Glück. Sie wuchs und wuchs, obgleich ich mehr und mehr verlor, bis ich nichts mehr besaß. Ich glaube, es ist das Schlimmste, was einem Menschen widerfahren kann. Und weil ich es überwand, als es zu spät war, möchte ich, daß du es überwindest, bevor es so weit ist.«
Yootha sah ihm in die Augen und streichelte seine Wange.
»Charlie,« sagte sie, »ich will morgen spielen – nur morgen. Ich habe es Jessica versprochen. Und jetzt verspreche ich dir, nie wieder zu spielen, wenn ich morgen verliere. Bist du damit zufrieden? Du weißt, ich halte immer, was ich verspreche.«
»Ich werde mich wohl damit zufrieden geben müssen,« sagte ihr Verlobter und küßte sie. »Aber ich kann dir nicht sagen, wie mir deine Freundschaft mit Mrs. Mervyn-Robertson zuwider ist. Das ist nicht die rechte Gefährtin für dich.«
»Sei ruhig,« erwiderte Yootha lächelnd. »Ich kann schon für mich selbst sorgen.«