Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Kapitel VII.
Jessica.

Jessica Mervyn-Robertson war eine bemerkenswerte Frau. Ihre wundervolle, hohe Gestalt erschien durch ihre Haltung noch größer. Ihr braunes Haar, das einen kupferroten Schimmer zeigte, leuchtete in der Sonne oder bei künstlichem Licht, wie feuriges Gold. Die blasse Gesichtsfarbe stand in eigentümlichen Gegensatz zu den von Natur tiefroten Lippen, und in ihren tiefliegenden Augen lag ein Ausdruck dem wenige Menschen widerstehen konnten. Am meisten aber fiel allen der eigenartige Ton ihrer Stimme auf, die kein Mann und keine Frau jemals vergessen konnte. Als Sängerin hätte sie eine tiefe Altstimme gehabt.

Sie war vor einigen Jahren zum erstenmal in London erschienen und hatte sich in wenigen Monaten unzählige Freunde gemacht. Zu jener Zeit bewohnte sie eine Flucht von Gemächern im Claridgehotel und führte ein verschwenderisches Dasein. Obgleich keiner wußte, woher sie und ihr Reichtum kam, strömte alles, was Rang und Stellung in der Welt besaß, bei ihr zusammen. Es hieß, daß sie verheiratet war, aber keiner hatte jemals ihren Mann gesehen, und keiner schien sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wo und wer er wäre. Alle Welt war froh, die anziehende Frau zu kennen, und wer sie nicht kannte, zählte bald nicht mehr mit.

Aloysius Stapleton hatte, wie man erzählt, ein halbes Jahr nach ihrer Ankunft in London, bei einem Rennen in Ascot ihre Bekanntschaft gemacht. Er besaß eine luxuriös eingerichtete Junggesellenwohnung in der Stadt und ein kleines Gut in Sussex. Das Leben zu genießen schien sein einziger Beruf zu sein. In der eleganten Welt war der tadellos gekleidete, liebenswürdige Louie Stapleton überall bekannt und gern gesehen, da er immer bereit war seine Freunde zum Lunch oder Diner oder zum Wochenende auf sein »Nest« in Sussex einzuladen.

Wenige Tage, nachdem sich Lord Froissart, Captain Preston, Yootha und Cora Hartsilver in dem Hause der letzteren zusammengefunden hatten, saß Jessica Mervyn-Robertson in Gesellschaft von Stapleton, Archie La Planta und einigen anderen Freunden in einer Loge der Alhambra, wo das »Russische Ballett« alle Welt in Entzücken versetzte.

Es war die erste Aufführung von »Scheherezade« und das Theater war brechend voll. Schöne Frauen in kostbaren Gewändern und Herren in tadellosem Dreß füllten Parkett und Logen, Ueberall funkelten Diamanten und andere Edelsteine, und als das Orchester die herrliche Ouvertüre begann, verstummte die rauschende Unterhaltung, um gleich nach dem Ende des Balletts von neuem einzusetzen. Die furchtbaren Szenen von Wollust und Gemetzel hatten die Zuschauer in so große Aufregung versetzt, daß man mehrere Frauen hysterisch lachen hörte. Ein älterer Herr in einer Loge, die nicht weit von Jessicas Loge entfernt war, schien sehr erregt: er war offenbar aus der Provinz gekommen und sah zum erstenmal das »Russische Ballett«. Man hörte ihn in einem nordischen Akzent heftig dagegen wettern, »daß solche Aufführungen in einem zivilisierten Lande gestattet würden.«

»Und sieh, wie sie angezogen oder vielmehr nicht angezogen sind!« wandte er sich zu einer ältlichen Dame, die offenbar seine Ehehälfte war. »Das Gesetz sollte solche Aufführungen verbieten. Wenn ich sowas geahnt hätte, wäre ich nicht mit dir hergekommen, Liebling. Wo bleibt die Zensur, wenn so ein Ballett erlaubt ist?«

Andere Zuschauer verlangten Ruhe, und in den benachbarten Logen hörte man leises Kichern. Aber trotz seiner Proteste blieb er im Theater, und das folgende Ballett fand offenbar seine Billigung.

In Mrs. Robertsons Loge klopfte es an die Tür, und La Planta erhob sich, um hinauszusehen. Nachdem er mit der Logenschließerin geflüstert hatte, ging er hinaus und schloss die Tür.

Als das zweite Ballett zu Ende war, und er noch nicht zurückkam, wurde Jessica unruhig.

»Was ist aus Archie geworden?« wandte sie sich an Stapleton, der neben ihr saß. »Weißt du, wer ihn sehen wollte?«

»Nein. Ich will auf einen Augenblick hinausgehen, und die Logenschließerin fragen.«

Aber die Logenschließerin erklärte, daß man nach Mrs. Mervyn-Robertson gefragt hatte, und daß der Herr, dem sie das mitteilte in das Foyer hinausgegangen war, um die Angelegenheit selbst zu erledigen.

»Hat er seinen Hut mitgenommen?« fragte Stapleton.

»Nein, er ist ohne Hut hinausgegangen.«

»Dann kann er das Theater nicht verlassen haben. Sagen Sie ihm bitte, wenn Sie ihn sehen sollten, daß ich ins Foyer gegangen bin, um ihn zu suchen.«

Aber La Planta war nicht im Foyer und offenbar nicht mehr im Theater. Kein Mensch hatte ihn gesehen.

Als Stapleton in die Loge zurückkehrte, war La Planta noch nicht da und zeigte sich auch nicht wieder. Als Jessica von Stapleton erfuhr, daß die Nachfrage ihr gegolten hatte, warf sie ihm nur einen eigentümlichen Blick zu, ohne etwas zu bemerken.

Wie gewöhnlich hatte Mrs. Mervyn-Robertson – oder wie alle ihre Freunde sie zu nennen pflegten, Jessica – ihre Logengäste nach der Vorstellung in ihr Haus eingeladen. Sie und Stapleton hofften, La Planta dort wiederzusehen, aber er erschien nicht.

Es war eine große Abendgesellschaft: bis nach ein Uhr hörte man die Wagen herbeirollen, und an den Kartentischen waren bald über dreißig Menschen versammelt.

»Was kann mit ihm passiert sein?« sagte Jessica leise zu Stapleton, den sie beiseite gezogen hatte. »Und ohne Hut! Ich kann mir gar nicht denken, wo er hingegangen ist, oder wer nach mir gefragt hat. Archie hätte es mir sagen sollen!«

»Ich habe zweimal in seine Wohnung telephoniert, aber keine Antwort erhalten.«

»Versuch es noch einmal, Louie. Ich bin sehr besorgt.«

Diesmal hatte Stapleton mehr Erfolg, denn er erhielt endlich Anschluß, und eine schläfrige, ziemlich ärgerliche Stimme fragte in heiserem Ton:

»Hallo! Hallo! Wer spricht dort?«

»Mr. Stapleton, James. Es tut mir leid, Sie aufzuwecken, aber könnten Sie mir sagen, ob Mr. La Planta nach Hause gekommen ist?«

»Einen Augenblick, Sir,« erwiderte die Stimme in verändertem Ton. »Ich sehe nach und teile es ihnen gleich mit.«

Einige Minuten wartete Stapleton mit dem Hörer am Ohr. Er dachte schon der Mann wäre wieder zu Bett gegangen, als er ihn plötzlich kommen hörte. Es klang, als käme er gelaufen.

»Sind Sie da Sir?«

»Ja.«

»Mr. La Planta liegt auf seinem Sofa, Sir, und schläft fest. Ich habe ihn gerufen und geschüttelt, aber er will nicht aufwachen. Sein Zimmer war hell erleuchtet. Er muß ein Schlafmittel oder so etwas bekommen haben. Er atmet sehr schwer. Ich will den Arzt kommen lassen, Sir.«

»Nein, tun Sie das nicht. Ich komme gleich hin und will nach ihm sehen; vielleicht brauchen wir den Arzt nicht. Sorgen Sie dafür, daß ich gleich eingelassen werde.«

Als Jessica ihn kommen sah, erhob sie sich von einem der Kartentische, an denen reges Treiben herrschte, und ging ihm entgegen.

»Komm in die Hall,« sagte er leise und teilte ihr in wenigen Worten mit, was geschehen war.

»Mach dir keine Sorgen,« schloß er. »Ich will gleich hinfahrn und telephoniere dir, was ich erfahre.«

Eine der Autodroschken, die auf den Cavendish Square hielten, brachte ihn in wenigen Minuten in das Albanyviertel.

La Planta lag mit todblassem Gesicht und leicht geöffneten Lippen da und schien schwer zu atmen. Stapleton hob eines der halbgeschlossenen Augenlider empor, ohne daß der Schläfer erwachte.

»Offenbar betäubt,« sagte er zu James.

Er beugte sich dicht über seinen Freund.

»Und ich weiß, womit,« fügte er in Gedanken hinzu. »Sie haben keine Ahnung. James, wie lange er schon hier ist?«

»Keine Ahnung, Sir.«

»Ein Arzt ist nicht nötig,« sagte Stapleton und richtete sich wieder auf. »Gefahr ist nicht vorhanden. Der Puls ist kräftig, und er wird schlafen, bis die Wirkung des Mittels vorüber ist. Uebrigens, hat jemand heute abend, während er fort war, nach ihm gefragt oder ihn angerufen?«

»Es war kein Besuch da, Sir, aber eine Dame hat ihn angerufen.«

»Eine Dame? Um welche Zeit?«

Der Diener besann sich einen Augenblick.

»Es muß etwa um 9 Uhr gewesen sein.«

»War es eine Bekannte? Nannte sie ihren Namen?«

»Nein, Sir. Ich kannte die Stimme nicht.«

»Sollten Sie was ausrichten?«

»Nein, Sir. Sie fragte nur, wo Mr. La Planta wäre, und ich sagte ihr: im Alhambratheater. Dann fragte sie noch, wer mit ihm zusammen wäre, und ich antwortete: Sie, Mrs. Mervyn-Robertson und wohl noch einige andere Herrschaften. Sie dankte und hing ab.«

Plötzlich kam Stapleton ein Gedanke, und er fuhr mit der Hand in die Taschen seines Freundes. Aber offenbar fehlte ihm nichts. Er zog aus dem Rock eine Brieftasche mit Banknoten hervor, und im Beinkleid war noch eine Handvoll Silbergeld vorhanden.

Er ging ans Telephon und ließ sich mit Mrs. Mervyn-Robertson verbinden. Aber es war nicht ihre Stimme, die ihm antwortete.

»Bitten Sie Mrs. Mervyn-Robertson, ans Telephon zu kommen,« sagte er.

»Ist dort Mr. Stapleton?«

»Ja.«

»Hier spricht der Diener John, Sir. Ich fürchte, sie kann eben nicht kommen. Sir. Sie ist plötzlich erkrankt.«

»Kaum fünf Minuten, nachdem Sie fort waren, Sir, fiel sie in eine tiefe Ohnmacht.«

Stapleton schwieg einen Augenblick. Plötzlich fuhr ihm etwas durch den Sinn.

»John!«

»Sir?«

»Ist jemand in der Nähe des Apparats? Kann jemand Sie sprechen hören?«

»Einen Augenblick, Sir.«

Stapleton hörte, wie eine Tür leise geschlossen wurde.

»Jetzt kann mich niemand hören, Sir.

»Dann sagen Sie mir – sprechen Sie leise –, hat Mrs. Mervyn-Robertson etwas zu sich genommen, ich meine, etwas gegessen oder getrunken, nachdem ich fortgefahren war?«

Nach einer kurzen Pause kam die Antwort: »Ja, Sir, sie hat am Buffet ein Glas Champagner getrunken.«

»War jemand bei ihr? In ihrer Nähe? Hat jemand sie gefragt, ob sie ein Glas Wein haben wollte?«

»Ja, Sir, ein Herr fragte sie – ich stand zufällig dabei. Und ich bemerkte eine Dame in ihrer Nähe, als sie das Glas austrank. Jeder von ihnen trank ein Glas Wein.«

»Kennen Sie den Herrn und die Dame?«

»Dem Aussehen nach; aber ich weiß nicht, wie sie heißen. Sie sind schon ein- oder zweimal zum Souper dagewesen, aber sie kommen nicht oft her.«

»Kommen sie zusammen?«

»Ich glaube wohl, Sir.«

»Und Sie könnten mir ihr Aeußeres beschreiben?«

»Ja, sicher, Sir.«

»Danke, John. Sagen Sie keinem Menschen ein Wort. Verstehen Sie?«

»Sie können sich darauf verlassen, Sir.«

»Gut, in einer Stunde bin ich wieder auf dem Cavendish Square und will Sie dann sprechen.«


 << zurück weiter >>