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Kapitel XV.
Kreuz- und Querfragen.

In den folgenden acht Tagen standen zwei Zeitungsnachrichten im Vordergrund des Interesses aller Leser. Die eine betraf Levi Schombergs seltsamen Tod. Es wurde über die Ereignisse, die kurz vorhergingen, und über seinen ganzen Lebenslauf berichtet. Die andere bezog sich auf Yootha Hagerston, die unter der Anklage verhaftet worden war, das Perlenhalsband einer gewissen Frau Stringborg gestohlen zu haben, deren Mann, Julius Stringborg, früher Weinhändler in Shanghai war, aber jetzt in London lebte.

Die geheimnisvollen Umstände, unter denen Levi Schomberg gestorben war, machten eine gerichtliche Untersuchung erforderlich, die recht lange Zeit in Anspruch nahm. Der Vorsitzende der Totenschaukommission hielt eine natürliche Todesursache für erwiesen, aber Doktor Johnson trat dieser Ansicht scharf entgegen und suchte sie mit mehreren schwerwiegenden Gründen zu entkräften.

Erstens betonte er den ungewöhnlich frühen Eintritt der Totenstarre; dann die Tatsache, daß alle Organe offenbar gesund waren; ferner den Umstand, daß die Augen bei der ersten Untersuchung nicht den Tod vermuten ließen, und schließlich die Beschaffenheit des Blutes. Er behauptete mit großer Festigkeit, daß das Blut eine ungewöhnliche Färbung zeigte, was umso mehr ins Gewicht fiel, als die Zusammensetzung des Blutes im übrigen normal war.

Sein Gegner war einer jener dickköpfigen Juristen, die, wenn sie einmal eine Ansicht ausgesprochen haben, sie unter keinen Umständen ändern wollen. Jedenfalls war es den Zeugen Preston und Blenkiron, von vornherein klar, daß er Doktor Johnson wenig geneigt war und jede seiner Aeußerungen zu bestreiten suchte.

»Ich gestehe,« entgegnete er dem Arzt in hochfahrendem Ton, »daß mir Ihre Beweisführung vollkommen unverständlich geblieben ist. Wer soll auch irgendein Interesse daran gehabt haben, den Tod eines so achtbaren Staatsbürgers zu beschleunigen, wie es der Verstorbene ungeachtet seines wenig sympathischen Berufes gewesen ist? Der Gedanke, daß sein Tod nicht auf eine natürliche Ursache zurückzuführen ist, scheint mir ganz widersinnig. Hätte er Gift genommen oder wäre er vergiftet worden, so müßten Spuren davon gefunden worden sein. Da das nicht der Fall ist, so muß ich Ihre Vermutungen – gestatten Sie mir offen zu sprechen, Doktor Johnson – für allzu kritisch oder, sagen wir, für verfehlt halten.«

Johnson zuckte die Achseln.

»Dann habe ich nichts weiter zu bemerken,« erwiderte er.

»Um so besser. Es freut mich, das von Ihnen zu hören.«

Johnson wollte noch etwas entgegnen, gab es aber auf, weil er sah, daß eine Diskussion mit dem Beamten zwecklos war.

Und so fällte das Gericht den Wahrspruch, daß der Tod einer natürlichen Ursache zuzuschreiben war, und Doktor Johnson verließ mit Preston und Blenkiron äußerst unbefriedigt das Gerichtsgebäude.

Der zweite Zwischenfall des Balles hatte Prestons Interesse natürlicherweise in ganz anderem Maße in Anspruch genommen: ja, er dachte eigentlich seit jener Nacht an nichts anderes als an Yoothas Verhaftung. Sie war zwar zuletzt freigesprochen worden, hatte aber, während sie sich unter polizeilicher Aufsicht befand, furchtbare Seelenqualen erduldet. Es war natürlich viel geschwatzt worden, und das Gerede war noch nicht verstummt. Besonders für die Frauen war der Fall ein willkommener Gegenstand ihrer Unterhaltung, und bei solchen Unterhaltungen werden die Augenbrauen hochgezogen, es wurde bedeutsam gelächelt, was mehr Schaden anrichtete, als viele Worte.

»Wäre sie ein armes Mädchen und nicht, was wir eine Damen nennen,« – diese abgedroschene Redensart wurde wieder aufgetischt – »so säße sie längst im Gefängnis, meine Liebe.« bemerkte eines Morgens ein verblühtes Geschöpf, das sich immer in reiche Kreise gedrängt hatte, zu Jessica, die in Bond Street Einkäufe, machte.

»Sie sind doch mit Mrs. Stringborg befreundet, nicht wahr?«

Jessica erwiderte, daß sie die Dame seit Jahren kenne.

»Und was denkt sie von der Sache?«

Jessica zog die Augenbrauen hoch. Dann, nach einer kurzen Pause, sagte sie in geheimnisvollem Ton:

»Sie denkt nicht.«

Die verblühte Dame nickte.

»Ich verstehe,« lispelte sie, »sie weiß es.«

Jessica lächelte.

Und so nahmen sie voneinander Abschied, Jessica mit dem Lächeln auf den Lippen, das tödlichen Haß bedeutete, die andere, glücklich, von einer Freundin Marietta Stringborgs, wie sie sagte, die Versicherung erhalten zu haben, daß Yootha zwar freigesprochen, aber doch schuldig wäre.

Und Yootha?

Schon begann sie den Umschwung in der öffentlichen Meinung zu spüren. Viele von ihren Freunden blieben ihr natürlich treu und würdigten das Gerede keiner Widerlegung, aber es gab auch andere ...

Bei ihrer Feinfühligkeit und heftigen Erregung empfand sie die veränderte Stimmung bei jeder Gelegenheit: man warf einen schnellen Blick auf sie und sah gleich wieder weg, man flüsterte, man lächelte. Leute, die sie bisher immer eifrig gegrüßt hatten, zeigten eine gewisse Herablassung; andere, die sie kommen sahen, gingen auf die andere Straßenseite hinüber, um ihr auszuweichen. Das alles verursachte ihr einen heftigen Schmerz.

»Es ist zu schrecklich,« rief sie eines Abends aus, als sie mit ihrer Freundin Cora aus der Oper kam. »Während der ganzen Vorstellung fühlte ich, daß alle mich ansahen und über mich sprachen. Und es war keine Einbildung: ich habe einige Reihen hinter uns meinen Namen flüstern hören. Und hast du Jessica bemerkt? Sie sah mich gleich, als wir ins Theater traten, und drehte sich zu ihren Freundinnen um. Und alle, die in ihrer Loge saßen, steckten die Köpfe zusammen und starrten mich an ... Ich fühlte mich wie ein Verbrecher, Cora. Ich fühle mich noch jetzt so ...«

Sie ließ den Kopf auf Coras Schulter sinken und brach in Tränen aus.

Cora tröstete sie, so gut sie konnte, während ihr eigenes Herz vor Wut brannte. Sie war fest davon überzeugt, daß dieses Unglück nicht zufällig geschehen war, daß das ganze vielmehr ein abgekartetes Spiel war, dessen Urheber niemand anderes sein konnte als Jessica. Und warum hatte Jessica auf Yootha so einen Haß geworfen? Der Grund konnte nicht zweifelhaft sein: weil Yootha ihre Freundin war. Da es ihr nicht gelungen war, den Juwelenraub Cora zuzuschieben, so hatte sie sie in ihrer Freundin getroffen. Bei diesem Gedanken knirschte Cora mit den Zähnen und ihr Entschluß, Jessica Mervyn-Robertson vor aller Welt zu entlarven, wurde um so fester.

»Weine nicht, Liebling,« sagte sie und streichelte Yoothas Haar. »Ich habe heute einen Brief aus dem Haus mit dem Bronzegesicht erhalten. Sie lassen nichts unversucht, um den Dieb zu entlarven. Sie bitten mich, morgen so früh wie möglich mit dir hinzukommen, da sie dir noch einige Fragen stellen wollen. Sie haben dir auch, wie sie schreiben, etwas Wichtiges zu zeigen.«

Am nächsten Morgen begaben sie sich in das Bureau der Londoner Geheimagentur.

Der Raum, in den sie gewiesen wurden, war derselbe, in dem Alix Stothert und Camille Lenoir an jenem Abend gearbeitet hatten, als Lord Froissart so plötzlich erschienen war. Aber in den benachbarten Zimmern waren viele Schreiber an der Arbeit, und von allen Seiten hörte man das Klappern der Schreibmaschinen.

Stothert, der sich allein befand, sah auf, als sie in das Zimmer traten. Dann erhob er sich und legte seinen Augenschirm beiseite.

»Guten Morgen,« sagte er mit feierlicher Miene. »Wollen Sie Platz nehmen?« Er wies auf zwei Stühle.

»Ich habe um Ihren Besuch gebeten,« fuhr er ohne weitere Vorbemerkungen fort, »weil ich Miß Hagerston einige Fragen persönlich vorzulegen habe. Wollen Sie mir sagen,« wandte er sich an Yootha, »wie lange Sie mit Captain Preston verlobt sind?«

Das junge Mädchen fuhr zusammen.

»Wer hat Ihnen gesagt, daß wir verlobt sind?« rief sie errötend aus. »Unsere Verlobung ist noch nicht bekannt gemacht worden.«

»Das weiß ich, aber es gehört zu unserer Profession, die Dinge zu wissen, bevor sie öffentlich bekannt werden. Wie lange ist es her, Miß Hagerston?«

»Zehn Tage. Aber hat das irgendetwas mit dem Perlendiebstahl zu tun?«

»Indirekt – ja. Und Sie haben seine Bekanntschaft am 9. August des vorigen Jahres bei einem Lunch im Ritzhotel gemacht, denk' ich?«

»Ja.«

»Seitdem haben Sie ihn wohl oft gesehen?«

»Nein, nur in der letzten Zeit.«

»Und eine zeitlang sind Sie mit einem jungen Zeitungskorrespondenten, namens Harry Hopford, befreundet gewesen?«

»Ich kann nicht sagen »befreundet«! Wir haben uns hie und da getroffen.«

»Sie und Mrs. Hartsilver sind ferner mit einer vielgenannten Dame der Gesellschaft, Mrs. Mervyn-Robertson, bekannt. Sie sind beide hergekommen, wie Sie sich erinnern, und haben uns gebeten, über Mrs. Mervyn-Robertsons Vergangenheit Nachforschungen anzustellen. Seitdem ist Mr. Hopford mit demselben Auftrag hergekommen, und Captain Preston sowie Mr. George Blenkiron haben es ebenso gemacht. Wir haben gewisse Dinge über diese Dame herausgebracht und jedem von Ihnen separat berichtet. Anderes halten wir im Augenblick für unangebracht, Ihnen mitzuteilen. Wir möchten Sie aber darauf aufmerksam machen, daß die betreffende Dame einflußreiche Freunde hat, und wir erlauben uns, Ihnen den Rat zu geben, weitere Nachforschungen über ihr Privatleben zu unterlassen. Sie ist eine gefährliche – eine sehr gefährliche Frau. Das sage ich Ihnen natürlich in streng vertraulicher Weise.«

»Ich danke Ihnen,« antwortete Yootha. »Und jetzt, können Sie irgendein Licht in das Geheimnis des Perlendiebstahls bringen?«

»Ich komme gleich darauf zu sprechen. Sie haben ohne Zweifel vor einiger Zeit von einem Diebstahl gehört, bei dem aus einem Safe in Mrs. Mervyn-Robertsons eigenem Hause Juwelen und Banknoten abhanden kamen? Die Zeitungen haben allerdings darüber geschwiegen.«

»Ja, eine Zeitlang schienen alle Menschen davon zu wissen.«

»Jeder von den gestohlenen Werten war durch eine besondere Versicherungssumme gedeckt. Nun war auch das Perlenhalsband, dessen Diebstahl man Ihnen fälschlich zur Last legte, besonders versichert, und zwar bei der Gesellschaft, die auch Mrs. Mervyn-Robertsons Juwelen in Versicherung genommen hatte. Frau Marietta Stringborg, die Besitzerin des Perlenhalsbandes, das bei Ihnen gefunden wurde, ist mit Mrs. Mervyn-Robertson befreundet – sie haben sich vor einigen Jahren in Shanghai kennengelernt. Das mag natürlich alles ein zufälliges Zusammentreffen sein –«

Da Yootha keine Antwort gab, sagte Cora:

»Wollen Sie damit zu verstehen gehen, daß hier –«

»Ich will nichts zu verstehen geben,« unterbrach sie Stothert, »aber –«

Er drückte zweimal auf einen elektrischen Knopf auf dem Tisch und beinahe im selben Augenblick trat eine hübsche junge Frau mit semitischen Gesichtszügen in das Zimmer. Es war Camille Lenoir.

»Meine Kollegin,« stellte Mr. Stothert vor. »Camille,« wandte er sich an die Französin, die stehen blieb, »erinnern Sie sich, was Lord Froissart Ihnen das letztemal, als er hier war, sagte – es war am Morgen des Tages an dem er sich das Leben nahm – er sprach von hohen Versicherungssummen für Diamanten in der Gesellschaft, deren Direktor er war?«

»Ja,« erwiderte sie, »er sagte, es gebe Leute, die ihre Juwelen hoch versicherten und dann zum Schein stehlen ließen, nämlich von Personen, die die gestohlenen Werte zurückerstatteten, sobald die Versicherungssumme ausgezahlt wäre.«

»Kurz, ein abgekartetes Spiel,« sagte Cora. »Mr. Stothert will nichts gegen Mrs. Mervyn-Robertson gesagt haben, aber – ja, ich verstehe Ihren Gedankengang.«

»Nein, bitte, bemühen Sie sich hierher.«

Mit diesen Worten schloß Stothert ein Fach des Schreibtisches auf, an dem er saß und zog ein kleines versiegeltes Paket daraus hervor. Er brach die Siegel auf, faltete das Papier auseinander und brachte ein herrliches Perlenhalsband zum Vorschein.

»Das ist Frau Stringborgs Perlenschnur,« sagte er. »Das Halsband, das in Ihrem Besitz gefunden wurde, Miß Hagerston, war eine Nachahmung aus falschen Perlen.«


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