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Kapitel XIII.
Loge 13.

Stapleton hatte mit seiner Prophezeiung recht behalten. Von allen Maskenbällen, die in den letzten zehn oder zwölf Jahren in der Alberthalle gegeben worden waren, konnte sich keiner an Glanz und luxuriöser Ausstattung mit dem Kostümfest vergleichen, das im Juli 1919 stattfand, und, wie in allen Zeitungen zu lesen war, »an verschwenderischer Pracht an die Zeiten der römischen Kaiser gemahnte.«

Das ganze Innere des Riesenbaus war mit Malereien und Dekorationen versehen, die von erlesenem Kunstgeschmack zeugten und bewiesen, daß die Veranstalter keine Kosten gescheut hatten. Ein gewaltiges Panorama zeigte alle Jahreszeiten, deren Darstellung mit den gewagtesten Liebesszenen des klassischen Altertums ausgeschmückt war. Einige Londoner Zeitungen und viele Provinzblätter warfen allerdings die Frage auf, warum so große Ausgaben bei einem Ball nötig waren der »angeblich zu einem wohltätigen Zweck« veranstaltet wurde; aber die Kritiker erhielten keine Antwort. Und auf die Sticheleien eines sozialistischen Parlamentsmitgliedes hatte Stapleton gleichmütig erwidert: »Wenn man darauf ausgeht viel Geld einzunehmen, so soll man den Anfang damit machen, kein Geld zu sparen.« Der Erfolg bewies die Triftigkeit dieses Arguments: die Abrechnung ergab eine Riesensumme, die voll und ganz der Wohltätigkeit zugute kam.

Schon lange vor dem Fest waren alle Karten ausverkauft und der Eintritt auch mit Geld und guten Worten nicht mehr zu erlangen. Um Mitternacht erstrahlte der ungeheure Logenkranz im Licht unzähliger Diamanten, die nicht, wie es gewöhnlich in der Oper der Fall ist, von abgelebten Standeswitwen, sondern zumeist von jungen, ausnehmend schönen Frauen getragen wurden.

Man konnte sagen, daß alles zugegen war, was in London eine Rolle spielte, aber auch der geschickteste Detektiv hätte keine Persönlichkeit feststellen können, da alle Gesichter hinter Masken steckten, die jedermann die ganze Nacht hindurch anbehalten konnte, wenn er wollte.

Captain Preston hatte mit seiner Gesellschaft, zu der außer Cora Hartsilver und Yootha Hagerston, auch Harry Hopford, George Blenkiron und einige andere gehörten, eine Loge eingenommen, die nur sechs Nummern von Mrs. Mervyn-Robertsons Loge entfernt war, wo gleichfalls eine größere Zahl von Gästen Platz genommen hatten.

Jessicas erstes Auftreten rief eine Sensation hervor, die wohl nur wenige von den Anwesenden vergessen werden.

Ihr Kostüm! Zunächst, woraus bestand es? Sicherlich aus wenig genug, aber dieses Wenige –

Eine gefleckte Schlange mit ungeheuren Augen, die im Lichte der elektrischen Beleuchtung wie ein Chamäleon bald eine tiefschwarze, bald eine meergrüne, dann wieder eine goldene oder blutrote Färbung annahmen.

Das war der erste Eindruck, den der Zuschauer empfing wenn Jessica auf ihn zukam.

Das Kostüm war in Wirklichkeit eine gefleckte Haut, die dem Körper wie ein Handschuh angepaßt war, und in einiger Entfernung den Eindruck wirklicher Schuppen machte. Bei näherer Betrachtung sah man, daß die Haut an Brust und Rücken nur ein Stück hinaufreichte und dann in eine Nachahmung überging, die auf das nackte Fleisch mit so viel Geschick gemalt war, daß der Uebergang kaum bemerkt werden konnte. Die schillernden Riesenaugen, die sogleich die Aufmerksamkeit aller Beschauer auf sich zogen, gehörten zur Maske selbst, die das Gesicht vollkommen verdeckte und ganz dem Kopf einer Riesenschlange glich. Jessicas Kostüm, wenn man es noch so nennen konnte, war in der Tat das bizarrste, das in dieser großen Versammlung zu sehen war, wo es an Erzeugnissen eines seltsamen und entarteten Geschmacks nicht fehlte.

»Wer kann diese Frau mit den Riesenaugen im schrecklichen Schlangenkostüm sein?« fragte Yootha und beugte sich aus ihrer Loge vor, um die überraschende Erscheinung durch Opernglas zu betrachten. »Hast du je was Schauderhafteres gesehen, Charlie?«

»Ich finde hier viele Kostüme abscheulich,« antwortete Preston, »und die Männer sehen nicht besser aus, Sieh' dieses Geschöpf, das nur ein weibliches Badekostüm aus Seide anzuhaben scheint. Ich frage mich, was der Kerl während des Krieges gemacht hat?«

»Immer deine alte Leier, Charlie,« sagte Yootha fast ungeduldig. »Der Krieg ist doch nun einmal vorbei, warum sollen sich denn die Leute auf einem Kostümfest nicht anziehen, wie sie wollen, solange ihr Aufzug nicht einfach dekadent und anstößig ist, wie die Schlangenhaut dieser Frau? Sieh' mal, sie kommt auf uns zu.«

Von einigen Männern begleitet, kam die »Schlange« näher. Als sie an Prestons Loge vorbeigingen, verlangsamten sie ihren Schritt und starrten durch ihre Masken hindurch direkt auf seine Gesellschaft. Die Schlangenaugen färbten sich dunkelrot und Yootha fühlte, wie ihr ein leichter Schauder über den Rücken lief.

»Ich muß um jeden Preis herauskriegen, wer das ist,« flüsterte Hopford. »Ich habe schon meinen Verdacht: die Haltung des großen Mannes neben ihr ist mir ganz vertraut.«

»Ach, finden Sie es doch heraus,« rief Yootha aus. »Ich sterbe vor Neugierde. Sie haben diese Loge, nicht weit von uns,« fügte sie hinzu, als Jessica und ihre Begleiter zu ihrer Gesellschaft zurückkehrten. »Der Logenschließer wird Ihnen sicher Auskunft geben können.«

»Der kleine Mann im Hintergrunde ist auf jeden Fall unverkennbar,« sagte Hopford, der die Loge nicht aus den Augen ließ. »Zwanzig Masken könnten ihn nicht verstecken! Das ist Levi Schomberg, der jüdische Wucherer, der den »ersten« Leuten der Gesellschaft, sogar Ministern Geld leiht. Dann kann es nicht schwer sein, die Sache festzustellen.«

Er erhob sich mit einer Entschuldigung und verließ die Loge. Bald fand er den Logenschließer von Nr. 13, ließ ein Geldstück in die Hand des Mannes gleiten und bat ihn, Mr. Levi Schomberg mitzuteilen, daß man ihn zu sprechen wünschte.

»Wen darf ich melden, Sir?« fragte der Schließer und suchte die Augen zu erspähen, die ihn durch die Maske fixierten.

»Sagen Sie ›ein Herr‹ in sehr wichtiger Angelegenheit.«

Nach einer Minute kehrte der Schließer mit dem kleinen Juden zurück, der sich in der Tracht eines Troubadours komischer ausnahm, als er selber glaubte.

»Sie wünschen, mich zu sprechen?« sagte er, als er herauskam. »Wer sind Sie?«

Er hatte seine Maske nicht abgenommen und die kleinen schwarzen Augen dahinter schienen vor Neugier zu brennen.

»Verzeihen Sie die Störung,« sagte Hopford, »aber der »Evening Herald« würde gerne wissen, ob es möglich wäre, ein Blitzlichtbild von Mrs. Mervyn-Robertson in ihrem auffallenden Kostüm von heute abend zu erhalten.«

Schomberg fuhr auf.

»Ich bin sicher,« erwiderte er, »daß Mrs. Mervyn-Robertson sich weder vom »Evening Herold«, noch von einer anderen Zeitung photographieren lassen wird, es wäre also überflüssig, sie danach zu fragen.«

Er wollte Hopford schon den Rücken kehren, besann sich aber.

»Warum haben Sie sich an mich gewandt, statt an Mrs. Mervyn-Robertson?« fragte er in scharfem Ton.

Hopford lachte.

»Die Lösung dieses Rätsels überlasse ich Ihnen,« sagte er. »Guten Abend, Mr. Schomberg!« Und stolz auf seinen Erfolg verließ er den kleinen Wucherer, der hinter seiner Maske ein finsteres Gesicht machte.

Mit der vorgerückten Nachtzeit wuchsen Lärm und Ausgelassenheit. Sicherlich hatte es noch nie in der Alberthalle einen Ball gegeben, der so wenig Zurückhaltung sehen ließ. In schneller Folge wechselten die neuesten und eigenartigsten Tänze. Aber obwohl das Parkett voll schien, gab es doch kein Gedränge.

Blenkiron stand mit seinem Freunde Preston abseits, dessen Beinschuß ihn am Tanzen hinderte.

»Ich würde gern als Kapital die Jahreszinsen der Summe besitzen, die in Diamanten und anderem Schmuck heute nacht hier getragen wird,« sagte er in leichtem Ton. »Das würde manchem von uns fürs ganze Leben genügen!«

»Und da sagt man, daß das Land durch den Krieg verarmt sei!« bemerkte Preston trocken. »Diese Feste sind nicht nach meinem Geschmack, George.«

»Nach meinem ebensowenig. Aber Cora amüsiert sich dabei und Yootha auch ... Schlau von Hopford, das »Schlangenweib« festgestellt zu haben, was? Sie wird wenig erfreut sein, glaub' ich, wenn sie morgen ihren Namen in den Zeitungen liest.

»Glaubst du? Warum?«

»Lieber Freund, würde sich nicht jede Frau, die eine Spur von Selbstachtung besitzt, schämen, wenn es bekannt wird, daß sie sich in so einem Kostüm öffentlich gezeigt hat?«

»Hat Jessica auch nur »eine Spur« von Selbstachtung?«

»Well, uns ist nichts Nachteiliges bekannt« nicht wahr? Wir glauben nur einigen Grund zu der Annahme zu haben, daß sie – nun, nicht ganz das ist, was sie vorstellt. Kommt es dir nicht auch seltsam vor, daß sie diesen jüdischen Wucherer eingeladen hat?«

»Sie wird ihre Gründe haben.«

»Eine Frau mit ihrem Einkommen!«

»Was wissen wir von ihrem Einkommen? Eine Menge Menschen, die gar kein Geld haben, geben Riesensummen aus. Sie kann bis über die Ohren in Schulden stecken, und ihr Freund Stapleton ebenso. Der schlanke Mann, der mit Stapleton spricht, ist wohl La Planta?«

Sie blickten auf zwei maskierte Männer, die in ein ernstes Gespräch vertieft schienen.

»Ich habe meinen Widerwillen gegen diesen jungen Mann noch nicht überwinden können,« sagte Preston. »Alles, was er sagt, klingt falsch. Ah, da kommen Yootha und Harry.«

Yootha hatte wohl nie besser ausgesehen. Ihre Wangen glühten, und ihre Augen leuchteten vor Vergnügen, denn Hopford war ein vortrefflicher Tänzer. Es war beinahe zwei Uhr morgens und die Ausgelassenheit hatte ihren Höhepunkt erreicht.

Plötzlich begann das Orchester den neuesten Jazztanz, ein wildes Durcheinander fast aller Töne, die durch musikalische und unmusikalische Instrumente hervorgebracht werden können, ein tolles Klanggewirr von klingenden, schmetternden Lauten, die von menschlichen Schreien und Posaunengetöse begleitet wurden. Von dieser sogenannten Musik dahingetragen, führten die Tänzer, die sich jetzt dicht aneinander drängten, die seltsamsten Bewegungen aus. Manche Paare, die sich eng umschlungen hielten, schienen alles um sich her vergessen zu haben und nur an ihre eigenen Empfindungen zu denken, während sie sich endlos im Kreise drehten. Andere berührten sich kaum und verdrehten ihren Körper in einer Weise, die an jedem anderen Ort und unter anderen Umständen die Beschauer mit Empörung und Ekel erfüllt oder zum Lachen hingerissen hätte.

Mitten in dieser Feststimmung geschah etwas Merkwürdiges. Als Prestons Blick zufällig auf Jessicas Loge fiel, sah er, daß sie beinahe leer war. Nur zwei Männer waren darin zu sehen. Den einen erkannte er sofort an seinem Kostüm als Levi Schomberg; der andere ...

»George,« wandte er sich an Blenkiron, »dieser Mann, der sich über Levi Schomberg – du weißt, den Troubadour, – beugt, ist das nicht La Planta?«

Blenkiron sah nach der Loge hin.

»Hopford erklärte ihn für La Planta,« sagte er.

»Well, was macht Schomberg – der Mann, der sitzt?«

Blenkiron betrachtete ihn einen Augenblick.

»Ich würde sagen, daß er betrunken ist,« antwortete er.

»Betrunken! Keine Spur. Sieh' wie er sich hält.«

»Es ist wirklich eigentümlich. Ah, La Planta geht weg. Ich sehe Jessica, die vor der Loge auf ihn wartet.«

Der Mann, den sie für La Planta hielten, verschwand eben mit »dem Schlangenweib« im Korridor hinter den Logen.

Levi Schomberg war inzwischen in der Loge sitzen geblieben. Er lehnte sich auf die Samtbalustrade und schien auf die Menge hinabzustarren. Niemand schien ihn zu beachten, außer Preston und Blenkiron, deren Aufmerksamkeit er jetzt ganz gefangen nahm.

»Seltsam,« sagte Blenkiron endlich, »wie regungslos er dasitzt. Er hat sich fünf Minuten lang nicht gerührt.«

Sie beobachteten ihn noch eine Weile. Als er immer noch unbeweglich blieb, faßte Preston seinen Freund am Arm.

»Wollen wir hingehen und sehen, ob er nicht krank ist,« sagte er. »Ich bin sicher, da ist etwas nicht in Ordnung.«

Sie stiegen die Treppe hinauf und gingen durch den Korridor bis zu der Loge, die sie suchten. Die Tür war geschlossen. Nachdem sie wiederholt angeklopft hatten, ohne eine Antwort zu erhalten, machten sie sich auf die Suche nach dem Logenschließer.

»Da ist ein Herr allein in Loge 13«, sagte Preston zu dem Mann, »der krank zu sein scheint. Wir haben wiederholt geklopft, konnten aber keine Antwort erhalten.«

»Ein Freund von Ihnen?« fragte der Logenschließer.

»Wir kennen ihn, ja.«

Der Jazztanz war noch nicht zu Ende, als Preston und sein Freund in Begleitung des Schließers in die Loge traten. Sie riefen Schomberg bei Namen, aber er gab keine Antwort. Dann traten sie an ihn heran und Blenkiron legte die Hand auf seine Schulter.

Er rührte sich nicht. Ganz erschreckt riß Preston Schombergs Maske weg.

Allen war es sofort klar, daß der kleine Jude tot war.


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