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Euler kam eben von der Bibliothek, wo er sich den Koran von Maraccius geholt hatte – denn ob er gleich kaum sechs oder acht arabische Buchstaben kannte, so holte er sich doch stets arabische Bücher, weil er sich gern für einen großen Araber gehalten wissen wollte – und fand Mamsell Minchen im Hof. Ich will nur mein Buch ablegen, und dann wollen wir in den Garten gehen.
Minchen. Nein, Herr Euler, ich gehe nicht mit.
Euler. Warum das, Mamsell?
Minchen. Ich soll nicht mehr mit Ihnen allein seyn. Indem sie dieß sagte, lief sie auf ihr Zimmer: denn sie bemerkte ihre Mutter am Fenster. Euler stand ganz verblüfft da, machte ein Gesicht, wie ein durchgefallener Kandidat, und schlich langsam auf seine Stube. Es ward ihm ganz enge um die Brust, und nun fühlte er erst, wie nöthig ihm Minchens Gegenwart unter vier Augen war. Aber zu schüchtern, um etwas von seinen Empfindungen sichtbar werden zu lassen, würde er durchaus geschwiegen, und lieber sich heimlich abgehärmt haben, wäre Madam Greiff nicht auf seine Stube gekommen, und hätte ihn also angeredet: Lieber Herr Euler, ich muß Sie sehr bitten, mit meiner Tochter weiterhin keinen Umgang mehr zu haben. Ich weiß zwar, daß Sie ein rechtschaffener Mann sind, der die Ehre eines Mädchens zu schätzen weiß, aber man muß auch den Schein meiden, und zwar besonders bey der Lage, worin sich Minchen befindet.
Euler ( stotternd). Aber mein Gott, liebe Madame, welche Ursache –
Mad. Greiff. Ich muß mit Ihnen aufrichtig reden: ich bestimme Minchen dem Sohn eines guten Freundes zur Frau, und heute habe ich Briefe bekommen, daß wir nach der Residenz reisen sollen. Vielleicht kann bald aus der Sache was werden.
Euler. Minchen – heirathen? – Nimmermehr!
Mad. Greiff. Ha, ha. Sie thun ja so ängstlich, wie ein Liebhaber, dem man seine Geliebte rauben will! Und doch weiß ich, daß Minchen Ihnen ganz gleichgültig ist.
Euler. Minchen mir gleichgültig? Sie ist ja meine beste Freundin!
Mad. Greiff. Das soll und wird sie auch bleiben, wenn sie einen Mann hat.
Euler ( hastig). Sie soll aber keinen Mann nehmen!
Mad. Greiff ( ironisch). Soll sie denn etwan ins Kloster ziehen? ( Euler steht ganz verdutzt da.) Sie macht zwar kein großes Glück: indeß ein armes Mädchen kann auch auf kein großes Glück Anspruch machen. Was ist Ihnen Herr Euler? Beynahe sollte ich glauben, Sie lieben Minchen!
Euler. O Madam, mehr als mein Leben.
Mad. Greiff. Das ist was anders. Hören Sie, wenn Sie meine Tochter lieben, so erklären Sie sich in Beysein meines Schwagers, und dann werden wir ja sehen.
Was weiter geschah, versteht sich von selbst: Euler erklärte sich, und nach einigen Tagen wurde das Verlöbniß des Herrn Candidaten Euler mit Mamsell Minchen Greiff allen vornehmen Schildaern durch Karten, und dem deutschen Publikum durch ein Aviso in dem Hamburger Korrespondenten kund gethan.
Als Student oder als Candidat wollte aber doch Herr Euler seine Braut nicht heimführen, und längst hatte er auf die Stelle eines Pastors loci Verzicht gethan: denn nach seiner Meynung besaß er professormäßige Kenntnisse, also wollte er auch Professor werden. Der erste Grad zum Professor ist aber der Magister: daher wollte er magistriren, Minchen heirathen, und beym Collegienlesen die Professur geduldig abwarten.
Er ließ sich deßhalben einen derben Wechsel schicken – denn die akademischen Würden sind, wie der deutsche Reichsadel, für Geld zu haben – meldete sich bey der philosophischen Facultät, und diese examinirte ihn, ließ sich bezahlen, und trug ihm auf, eine Dissertation zu schreiben, und zu promoviren.
Euler hatte längst an ein Thema gedacht; nämlich über die Abschaffung des Soldatenstandes in einem wohlgeordneten Staate. Er schrieb eine Abhandlung in deutscher Sprache und theilte dieselbe in drey Kapitel. Das erste handelte von der Unnützlichkeit der Soldaten, das zweyte von ihrer Schädlichkeit, und das dritte von der Nothwendigkeit, sie abzuschaffen. Euler hatte in Gießen, pro more jener Zeiten, nur Küchenlatein, und zwar auch dieses in sehr geringem Grade gelernt: daher wendete er sich an einen armen aber gelehrten Teufel, welcher für einige Thaler das Machwerk ins Latein übersetzte. Nun disputirte Euler, antwortete quid pro quo, und ward Magister.
Noch ehe Euler examinirt wurde, das heißt gleich nach seiner Verlobung mit Minchen, genoß er die Freyheit, vertraut mit seinem Minchen umzugehen, und fühlte nun selbst, daß es abgeschmackt ist, mit einem Frauenzimmer von Bruchbändern und von den Büchern der alten Deutschen zu reden. Er hatte aber leider keine Kenntnisse gesammelt, die auch im gesellschaftlichen Leben gelten, und war daher in großer Verlegenheit, als ihn Minchen um ein Buch bat, womit sie die Stunden, welche sie ohne ihn zubringen mußte, sich verkürzen könnte. Doch besann er sich, daß ein Antiquar in Schilda wohnte, welcher einen großen Vorrath recht hübscher Lesebücher hatte. Er lief hin und fand was er suchte, auch nahm er gleich drey Stücke mit, nämlich den gehörnten Siegfried, den Claus Narren und den Kyau. Minchen verschlang diese Bücher: denn bisher hatte sie noch nichts interessanteres gelesen, als die biblischen Historien von Johann Hübner und die Historia von der grausamen Zerstörung der Stadt Jerusalem. Euler las ihr vor, und fand selbst so viel Geschmack an dieser Lectüre, daß er gar nicht aufhören konnte, wenn er angefangen hatte. Mitunter lachten sie beyde über die lustigen Schnurren des Kyau und des Claus, weinten aber auch bey den traurigen Schicksalen der Flavigunda. Als diese herrlichen Products des menschlichen Geistes geendigt waren, ging Euler wieder zum Antiquar, und fand da unter andern ein Buch: der im Irrgarten der Liebe herumtaumelnde Cavalier, oder Begebenheiten des Herrn von Elbenstein. Der Antiquar versicherte ihm, dieses Buch würde fleißig gelesen, besonders wären die Damen zu Schilda ganz rasend darauf versessen. Ha, dachte er, das muß ja ein köstliches Buch seyn, und nahm es mit.
Gegen Abend ging Euler mit Minchen in den Garten, und las ihr in einer Laube dieses zotologische Werk vor. Die schlüpfrigen Scenen, welche da beschrieben und recht à la Althing dargestellt waren, machten gewaltigen Eindruck auf beyde Liebende: sie rückten einander näher, Euler ließ das Buch fallen, und umarmte Minchen: seine Hände verirrten sich. Minchen widerstand nur schwach, und – doch was soll ich da weiter beschreiben: man versteht mich ja doch.
Als sie sich wieder erhoben halten, sahen sie sich beschämt an, und Euler, um der Verwirrung ein Ende zu machen, nahm das Buch wieder zur Hand und setzte die Lectüre fort: aber kaum waren einige Seiten gelesen, so rückten sie sich noch einmal näher, das Buch fiel wieder und –
Zum dritten Mal wurde das Buch zur Hand genommen: dießmal aber konnte das Lesen ununterbrochen fortgesetzt werden, und würde gewiß noch lange gedauert haben, wäre nicht Herr Simon gekommen und hätte ihnen gesagt, sich fertig zu machen, um nach der Comödie zu gehen; diesen Abend würde entweder Doctor Faust, oder Holbergs Bramarbas gegeben.
Ob die Gartenhausscene nachher öfters wiederholt worden ist, weiß ich nicht, doch vermuthe ich es, weil Euler Minchen und Minchen Eulern immer aufsuchte, wenn sie allein seyn konnten.
Indessen disputirte Euler, ward Magister, und bereitete sich, seine Hochzeit zu vollziehen.
Er ließ sich mit Minchen trauen, und schwamm an der Seite seiner lieben Gattin in einem Meer von Seligkeiten.
Aber was war nun anzufangen? Euler war Magister, und folglich konnte er Collegia lesen. Er schickte auch wirklich einen Zettel an den Pedell, um ihn an das schwarze Brett zu heften; auf dem Zettel stand folgendes:
Johann Heinrich Euler, der Philosophie Doctor, und der freyen Künste Magister, bietet folgende Lehrstunden an: von 8-9 früh, die Hebammenkunst, v. 9-10, die Kirchengeschichte, von 1-2, das Criminalrecht, von 2-3, die Kunst, Verse zu machen.
Der Pedell trug den Zettel zum Prorector, und dieser lachte aus vollem Halse über die schnakische Zusammenstellung der Lectionen. Sagen Sie nur dem Magister Euler, sagte er zum Pedellen, die Magister der alten Curation gälten bey uns nichts mehr: er könne keine Collegia lesen.
Mit diesem Bescheid kam der Pedell zu unserm Euler, und brachte ihm seinen Zettel zurück.
Euler erschrak, doch faßte er sich: denn es fiel ihm ein, daß er ja in Gießen auch Collegia lesen könnte. Er schrieb daher an den Herrn Quodammodarius, Superintendenten und Professor Primarius, folgenden Brief.
Magnifice,
Hochwürdiger, in Gott Andächtiger, Hochzuverehrender Herr Doctor und Superintendent!
Als ich hier in Schilda magnificirte, und mit großem Pomp und Herrlichkeit promovirt wurde, glaubte ich, die reine Lehre, und die alte Ordnung würde hier unangetastet bleiben. Aber seit jener Zeit haben sich die Dinge gar sehr verändert: der neue Fürst Moritz verfolgt die reine Lehre, giebt allen Ketzern Freyheit, und hat alle rechtschaffne Lehrer geschaßt; statt dieser alten Lehrer sind nun bloß Neulinge, Neologen, Freygeister, Epicuräer und Egoisten angestellt, welche die Welt verkehren. Ich selbst habe mir vorgenommen, auszugehen aus Sodoma, und mich auf eine Universität zu begeben, wo die reine Lehre florirt.
Ob ich nun gleich in Gießen bin relegirt worden, so geht doch die Relegation bloß auf zwey Jahre, welche längst verflossen sind; und dann war ja auch das Subjectum der Relegation eine sehr geringe Sache. Ich habe daher das feste Vertrauen auf die Güte Ihrer Magnificenz Hochwürden, daß Hochdieselbe, als gegenwärtiger Rector Magnificus der lieben Universität Gießen, mir die Erlaubniß ertheilen werden, nicht nur wieder nach Gießen zurück zu kommen, sondern auch daselbst mit meinen erworbenen Talentis zu wuchern, das heißt, Lehrstunden über alle Theile der Gelehrsamkeit zu halten. Ich habe mich, ohne mich zu rühmen, in omni scibili, das heißt, in allen Fächern der Wissenschaften rühmlichst umgesehen, und kann Ew. Hochwürden Magnificenz versichern, daß, wenn ich sollte in Gießen dociren, gewiß der lieben dasigen Universität ein nicht geringer Vortheil zuwachsen dürfte.
Da Ew. Magnificenz vielleicht einige Auslagen meinetwegen haben dürften, so lege ich hier zehn Carolins zur Bestreitung derselben bey.
Ich hoffe auf baldige geneigteste Antwort, und bin mit wahrer Hochachtung
Ew. Hochwürden Magnificenz,
ganz gehorsamst unterthäniger
M. Joh. Henr. Euler.
Schilda den 13. August 17–
Herr Quodammodarius schmunzelte bey dem Anblik der zehn Carolins, besorgte den Auftrag bey der philosophischen Facultät, und diese hatte gar nichts dagegen, daß ein Mann, welcher solche Briefe schrieb, wie der angeführte ist, auf den Catheder treten sollte: denn die Herren hofften, daß er ihnen wenigstens gar nicht viel Abbruch thun würde.