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Carcerstrafe, Consilium abeundi, selbst die Relegationen sind zu allen Zeiten unter Studenten als gar nicht schimpflich angesehen worden: in der renommistischen Periode der Universitäten waren sie vielmehr ehrenvoll und ruhmbringend, und wer oft im Carcer saß, galt für einen rechten Burschen. Ich erinnere mich noch eines Gedichts, welches ein gewisser Herr Hild im Jahr 1776 zu Gießen verfertigte, und welches lehren kann, was man damals noch für anständig und empfehlend unter den Studenten gehalten hat. Ich will es hersetzen, es lautet also:
Wer ist ein rechter Bursch? Der, so am Tage schmauset,
Des Nachts herumschwärmt, wetzt, und alle – – –
Der die Philister schwänzt, die Professores prellt
Nicht bezahlt. Doch ist noch eine feine Nüance zwischen prellen und schwänzen. L.,
Und nur zu Burschen sich von seinem Schlag gesellt.
Der stets im Carcer sitzt, einhertritt wie ein Schwein,
Der überall besaut, nur von Blamagen rein,
Und den man mit der Zeit, wenn er gnug renommiret,
Zu seiner höchsten Ehr' zum Teufel relegiret:
Das ist ein rechter Bursch; und wers nicht also macht,
Nicht in den Tag hin lebt, nur seinen Zweck betracht't,
Ins Saufhaus niemals kommt, nur ins Collegium,
Was ist das für ein Kerl? Das ist ein Drasticum.
Diese an sich elenden Verse standen damals in allen Stammbüchern, und zeugen hinlänglich von dem Geschmack der damaligen Studenten, und von ihren Grundsätzen: denn Herr Hild sprach gleichsam im Namen der ganzen Burschenschaft.
Unser Euler verließ das Carcer viel stolzer und aufgeblasener, als er vorher war: nun ging er auf allen Kneipen herum und erzählte sein Abentheuer und sein Carcersitzen. Seine Cameraden applaudirten ihm, und er fing an in vollem Ernste zu glauben, er sey ein rechter Bursch. Kein Kommersch wurde gehalten, bey welchem er nicht gewesen wäre, und bald hatte er eine solche Fertigkeit im Singen der Kommerschlieder, daß er stets Präses würde gewesen seyn, wenn dieß nicht sein Fuchsstand verhindert hätte.
Indessen ward Euler Mitglied eines Ordens und eines Kränzchens zugleich; in beyden war Bruder Martial Senior, und da dieser Eulern allerley zu verdanken hatte, so zeichnete er ihn auch bey jeder Gelegenheit aus. Martial wurde bald inne, daß Freund Euler das Herz nicht so recht da sitzen hatte, wo es nach dem Begriff eines honorigen Burschen seinen Sitz haben muß; aber daran war auch wenig gelegen; Euler hatte Geld, und mit Geld ist man einem Orden immer angenehmer, als mit Courage, welche so leicht durch andre Mittel und Wege ersetzt werden kann.
Als Euler etwan ein Jahr Mitglied des Ordens gewesen war, entstand eine große Revolution auf der Universität, worüber Senior Martial cum infamia, wie man im akademischen Latein zu sagen pflegt, der Subsenior aber bloß in perpetuum, das heißt, bis er die Relegation mit Geld abzukaufen die Kräfte und den Willen hat, relegirt wurden. Der Secretär Durstig ward nun Senior, ein andres Mitglied, Namens Wurst, erhielt die Stelle eines Subseniors, und Freund Euler wurde zum Secretär erwählt, und erhielt zugleich den Auftrag, das Gesetzbuch zu redigiren, welches in der fürchterlichsten Unordnung war.
Ein angenehmeres Geschäft hätte unser Mann gar nicht erhalten können: er bildete sich dabey schon ein, der Legislator in der erhabenen Gesellschaft zu seyn, und redigirte einen Gesetzcodex von 54 Titeln, welche in allem 688 Gesetze enthielten. Schade, daß dieses herrliche Machwerk nicht gedruckt worden ist! Es war des öffentlichen Beyfalls so sehr würdig! Euler las die Gesetze vor, die Mitglieder des Ordens tranken indessen Bier, und rauchten Tabak, und als der vierte Titel, welcher vom Verschiß handelt, verlesen war, schrien alle einmüthig, sie hätten genug gehört, es sey alles ganz vortrefflich, und die Folge des noch zu Lesenden würde gewiß dem Anfang entsprechen, er möge daher nur aufhören. Hierauf unterschrieben alle ihre Namen, und so war die Constitution sanctionirt.
Seit jener Revolution auf der Universität, bey deren Explosionen der Senior und der Subsenior des Ordens geschaßt wurden, hatte das ganze Burschenwesen eine andre Wendung erhalten, und es schien, als wenn ein gesitteterer und besserer Burschenton in Gießen an die Tagesordnung kommen sollte. Die Ordensbrüder erschraken bey der Vorstellung, daß der Ton sich bessern sollte, und gebärdeten sich wie unsinnig darüber, daß die Kommersche weniger besucht, die Dorfkneipen weniger frequentirt wurden, und der Schlägereyen weniger häufig vorfielen.
Besonders ging diese Noth unserm Euler zu Herzen, welcher beschloß, den alten Comment wieder herzustellen, und den jetzigen zu reformiren, es möge auch kosten, was es wolle. Zu dem Ende miethete er sich in eine Kneipe oder Bierschenke ein, welche wegen des ziemlich guten Biers mehr als andre Kneipen der Art besucht wurde. Hierher bestellte er täglich einige fidele Brüder, welche andre Bekannte an sich zogen, und ein honettes Kommerschchen aufführten, wobey Freund Euler stets den Vorsitz hatte.
Das Bier ist in Gießen sehr wohlfeil, wenigstens kostete damals das rheinische Maß zwey Kreuzer oder sechs sächsische Pfennige, dennoch wurde bey den Gelagen so scharf gesoffen, besonders wenn ein Kommersch ihm mit unterlief, daß einer sechs bis acht Groschen bezahlen mußte – und die Herren hatten nicht immer Geld. Euler, welcher Credit im Hause hatte, verschaffte seinen Freunden auch Credit, und machte sich dadurch nicht nur äußerst beliebt, sondern brachte auch zu wege, daß die Kneipe, worin er wohnte, täglich besetzt war, und daß der alte ächte Jenaische Sauf- und Lärmcomment wieder in völligem Flor, wenigstens unter seinen Freunden stand.
Jetzt schrieb Euler eine Abhandlung über den ächten Burschencomment in deutscher Sprache, woraus nachher Freund Martialis Schulk seine lateinische Dissertation zusammen kompilirt hat, ohne seine Quelle zu nennen. Der Verfasser dieser Geschichte hat die Ehre gehabt, den Herrn Schulk zu kennen, und muß gestehen, daß derselbe mit dem Comment, den er beschreibt, bekannt war: daß er aber den Freund Euler gar nicht einmal nennt, dem er doch den wichtigen, schweren Beweis, daß Bursche unter keinen Gesetzen stehen, verdankt, das, sage ich, ist doch nicht schön. Es steht ja frey, abzuschreiben, aber man muß auch die Quellen nennen, aus welchen man schöpft, sonst fällt man in den häßlichen Fehler so manches gelehrten Herrn, welcher seine Bücher und seine den hochgeehrtesten Herren Zuhörern vorzulesenden und vorzukauenden Hefte wörtlich abschreibt, mitunter aber auf seine Autoren brav loszieht, damit Leser und Zuhörer die Bächlein nicht kennen sollen, welche ihm die Weisheit zutragen.
Verschlungen wurde Eulers Schrift; in Jena und in Gießen, und auf andern deutschen Universitäten war sie das Repertorium aller commentartigen Wahrheiten, und wie die Bibel bey den protestantischen, die päbstlichen Bullen aber bey den katholischen Theologen, der einzige Richter bey Streitigkeiten.
Jetzt genoß unser Euler des höchsten Ansehens unter den Studenten zu Gießen, und selbst Jenenser schrieben Adressen an ihn, wie weyland die vom Jacobinismus angesteckten Departements und Districte in Frankreich an den Nationalconvent. Aber alles Ding währt nur eine kurze Zeit, und so gings auch mit unsers Helden glücklicher Existenz in Gießen. Doch ich muß hier ein neues Kapitel anfangen.