Joseph von Lauff
Sinter Klaas
Joseph von Lauff

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21

Cornelis Höfkens und Kosman, noch voller Feier und Gottseligkeit, noch ganz benommen von dem, was ihnen die Stunde gebracht hatte, gerüttelt wie Bäume in der Winternacht, freudig erregt und doch gepackt bis in die innersten Nieren, hatten lautlos das Zimmer verlassen, waren über den Flur gegangen und dann ins Freie getreten.

Die scharfe Kälte tat ihnen nichts. Sie empfanden sie vielmehr als ein angenehmes Wehen und Säuseln, das ihre Herzen erfrischte. Gottes Odem umschauerte sie, Gottes Allmacht war bei ihnen und machte sie staunen. Die Ängste und Nöte des soeben Durchlebten begannen sich zu verflüchtigen, das Freudenreiche aber blieb bestehen und entfaltete sich immer reiner und schöner.

»Herrgott!« sagte Kosman, »ich glaube, ein unheiliges Ding wurde heute mit einem Messer durchstoßen, und etwas Heiliges will in die Mühle hinein.«

Cornelis drückte ihm stumm die Hand. Er konnte nicht sprechen.

Beide horchten auf das Gepolter des Schlittens, der sich immer weiter entfernte.

Wie er dahinsauste!

Jetzt hatte er die nächste Ecke passiert, jetzt war er am Kesseltor, jetzt mußte er zum Paternosterdeich einlenken . . . Wie ein silbernes Stimmchen klingelte das Glöckchen herüber.

Wohin irrte es jetzt? Über ein unermeßliches Leilach, in den Sankt Nikolaus-Abend hinein, durch schneeblaue Wiesen, bis dorthin, wo das große, einsame Haus lag . . . und was wird es bringen? Die Sühne? Ein endliches Finden? Das Glück zweier Menschen, die sich schieden wie Feuer und Wasser und doch so nahe beisammen waren wie zwei Blüten am Baum, die sich wechselseitig mit ihren zarten Kelchen berührten? Oder aber wird es dahingehen in eine ewige Ungewißheit, um dort zu verzittern wie der Ruf eines abgetriebenen Vogels?

War seine Stimme das leise Wispern des Todes oder der kaum wahrnehmbare Schrei des erwachenden Lebens unter einem schweren und warmen Mairegen?

Wortlos standen die beiden, und beide hatten ihr scheues und verwundertes Sinnen. Sie horchten auf das ferne Gerumpel, das langsam verebbte, auf das feine Geklingel, das allmählich verdämmerte, und sie konnten sich nicht losreißen von dem, was ihre Herzen bewegte.

Das Schneetreiben hatte langsam nachgelassen und dann gänzlich aufgehört. Nur einzelne Flöckchen rieselten von den Zweigen herunter. Das Gegenständliche ließ sich besser erkennen, rückte näher heran, entkleidete sich seiner Nebelgewänder und Schleier. Der Abend war klarer und freier geworden. Dort, wo die kleine Stadt lag, breitete sich ein verwaschener Schein aus. Vereinzelte Fenster blinkten auf. Auch in der Ferne, nach Grieth und Emmerich zu, standen lichtschwache Pünktchen.

Die beiden sahen in das weißgepuderte Land und bemerkten, daß sich die Wolken langsam zerteilten, ein mächtiges Stück des grauen Himmels bloßgelegt wurde und fröstelnde Sternchen mit blanken Füßen über den Teppich des Paradieses trippelten – und sie hörten es nicht, wie weiche Schritte die Straße heraufkamen, kurz darauf einbogen und sich heimlich dem Lichtkegel näherten, der aus der erhellten Stube über den Schnee fiel.

Zwei von der Tafelrunde waren im Anmarsch: Trumpfsieben und Grünober.

Jetzt sah sie Cornelis.

»Gott's den Donner, so spät noch?!«

»Es geht erst auf acht,« sagte Pitt Lörksen, »und da bin ich mit Dores auf den Einfall gekommen: wollen doch unsern Kollegen und Stammtischgenossen so'n bißchen zum Sinter Klaas invitieren. Erst 'ne kleine Feier zu Hause, die wir bereits hinter uns haben, und dann 'ne solche dito im ›Dicken Tommes‹ gemeinsam. Das ist doch früher allzeit Mode gewesen. Immer leschär, meine Herren! Also los dafür! Selbstverständlich auch Kosman.«

»Um die Wahrheit zu sagen,« ergänzte Grünober, »die Bouteillen sind bereits in Bestellung gegeben. Auch Herr Lamers will mittun. Aber ich bitte, Cornelis – nur im bloßen Hausrock bei diesem eiskalten Minus?! Das hat seine Raupen. Bei so was kann man sich ja bis aufs offenbare Sterben verkühlen.«

»Hat nichts auf sich,« versetzte der Alte. »Wir stehen hier in 'ner gläubigen Hoffnung, und was so 'ne Hoffnung bedeutet, die ist so schön wie die Wasserverwandlung bei der Hochzeit zu Kana. Dores, da friert einem nicht, da wird man nicht krank, da denkt einer nur daran: wie ist diese gläubige und stille Hoffnung zu einem glücklichen Ende zu bringen?«

»Was gibt's denn?!« riefen die beiden.

»Das ist augenblicklich nicht auf den richtigen Apropos zu setzen,« meinte Cornelis, »aber das sage ich euch: mir ist so warm unterm Kittel, als hatte ich fünfzehn Malter Korn auf die Mühle getragen, und wenn ich so alles bedenke« – und seine Stimme verzehrte sich vor innigem Wohlbehagen – »wenn ich darüber nachsimuliere . . . Drüben liegt Op gen Oort und hier auf meinem Erbteil, hier zwischen meinen vier Pfählen . . . Jesus Christus!« – und er schlug die Hände zusammen – »ich glaube, zwei Kinder des himmlischen Vaters wollen sich gut sein.«

»Herr Jeses!« fiel Dores dazwischen, »was für Kinder, um die Wahrheit zu sagen?«

»Und wann?« fragte Pitt. »Wir sind über den nämlichen Leisten gezogen und haben auch ein gewisses Interesse. Also, Cornelis?«

»Darüber kann noch 'ne Stunde vergehen und mehr noch als das. Doch ist es so weit, dann sind wir, ich und Kosman, im ›Dicken Tommes‹ zu haben. Kinder« – und er drückte beiden die Hände – »kann das ein Sinter Klaas - Abend werden, ein Abend sage ich euch . . .! Aber nu geht man! Jetzt wartet nicht länger! Ihr könnt beide nichts helfen. Bis später, sonst können wir die stille und gläubige Hoffnung nicht finden.«

»Also gondeln wir los!« sagte Trumpfsieben und schob seinen Arm in den seines Kollegen. »Immer leschär, meine Herren! und ich lasse mich fressen, wenn nicht unser neues Mitglied, unser braver Kalviner . . . Schwamm drüber! aber, Cornelis, Ihr kommt doch?« rief er beim Abgehen.

»Ich komme.«

»Punkt neun oder zehn! und 'ne Absage gilt nicht!«

»Auf Parol! und wenn ich einfrieren sollte.«

»A la bonnör!« jubelte Pitt Lörksen, »und das will ich festgelegt haben: Hans Harkort zu Ehren – nur die feinsten Lafitts, Bouteillen mit dreizölligen ›Proppens‹ – dreizöllige ›Proppens‹ – dreizöllige ›Proppens‹ . . .!« und noch von der Wegkreuzung her knatterten die ›dreizölligen Proppens‹ wie laute Knallerbsen und muntere Frösche herüber. Erst jenseits davon verloren sie sich, sanken sie nieder, piano, pianissimo, und betteten sich in den glitzernden Schnee, der die weite, kalte Erde wie mit einer silberigen und flaumigen Spreite bedeckte.

»Prächtige Kerle!« sagte der Alte und wischte sich eine Träne herunter. »Die haben auch ihre Hoffnung, wenn auch bloß 'ne Hoffnung mit ›dreizölligen Proppens‹, aber auch so was kann man im Leben gebrauchen, und wenn Malthus noch unter uns wäre, leibhaftig und wirklich, gerade und aufrecht, wenn auch mit 'nem kranken Zug um die Nase, und wenn er sähe, wie wir, die letzten von's Ganze . . . Kosman, ich glaube, Malthus wäre nicht koppheister gegangen. Und wenn er dann merkte, wie wir um sein Kind sorgten und bangten, wenn er das alles vernähme und ausspekulierte . . .«

Er fuhr sich mit dem Rücken seiner Hand über die Augen: »Aber auch jetzt, wo er das Zeitliche segnete und von uns ging, weil er sich sagte: Ich kann meine eingebildete Schuld nicht mehr tragen – auch jetzt: er fühlt das alles, und er wird unter uns sein, wenn Andreas Lobbers zurückkommt und unsere gläubige Hoffnung das geworden ist, was wir von ihr in liebevoller Einfalt erwarten. Das wäre es, was ich zu sagen hätte. So! und jetzt, bitte: Angtree!« und als sie wieder in den warmen Hausflur traten, stießen sie auf Apollonia Korthals.

»Mynheer,« sagte sie wispernd und unter dem sanften Rauschen ihrer Bänderfladuse, »sie ist ruhig geworden, ganz ruhig, und sitzt nun da, als wenn sie in die Ewigkeit guckte. Es ist schon besser, wenn sie allein bleibt. Ich glaube, sie hat noch mit ihrem Heiland zu sprechen,« und da gingen die beiden mit der Mamsell in die Küche, steckten sich ein frisches Pfeifchen an, schlugen die Beine übereinander und hörten auf das Rucksen der Uhr im Nebenzimmer, auf ihr gleichmäßiges Ticken und Tacken, und hörten dann, wie sie zum Schlagen ausholte und ihre laute, anheimelnde Stimme vernehmen ließ.

»Acht Uhr!« sagte Kosman. »Jetzt muß er bald kommen.«

Und schon waren sie draußen, voller Sinnen und Unruhe, um das weiße Land abzusuchen und den Klingklang des ersehnten Glöckchens aufzuspüren. Aber in der weiten Umgebung regte sich nichts; nur auf dem Weg zur Holländer Kat jammerte ein einzelner Baum, dem die Kälte das Kamisol auseinander sprengte, unbarmherzig und mit den Pranken eines gierigen Tieres. Im übrigen lag eine endlose Stille unter dem Himmel, der jetzt so rein war wie ein eherner Spiegel.

Gleich darauf saßen sie wieder am traulichen Herdfeuer, zählten die einzelnen Sekunden und verknüpften mit diesem Zählen ihre schwersten und geheimsten Gedanken; und sie erhoben sich nochmals, fahrig und von einer inneren Hast getrieben, deren sie nicht mehr Herr werden konnten. Und als sie zum dritten Male die Küche verließen und in den Abend hinaussahen, da glänzten die Sterne wie kleine Sonnen herunter, eine Heerschar von Welten, die um den Ewigen kreiste, in voller Glorie, heilig und freudig, als seien sie gewillt, den Abgesandten des Herrn, der jetzt von Haus zu Haus pilgerte und an die Türen der Menschen klopfte, den irdischen Pfad zu vergolden . . . und weit dahinten, bei den Wassermühlen, durch die verschneiten Gärten und Hecken – da blitzte es auf. Dann kam es getrappelt. Dazwischen war Schellengeläut und das Prusten eines emsigen Gaules. Das Gefährt kam näher, um gleich darauf sacht und geräuschlos über eine ebene Fläche zu gleiten.

Noch fünf Minuten, noch drei . . . und mit neuem Antrieb, im Dunst und Nebel des dampfenden Pferdes bog der Schlitten ein und hielt vor der Haustür.

»Gelobt sei Jesus Christus!« kam es von den Lippen Kosmans.

»In Ewigkeit, Amen!« sagte Cornelis.

Ihm war die Brust zum Zerspringen, denn er suchte nach dem jungen Kaplan, der versprochen hatte, den Segen und die Freude unter seine Sparren zu tragen, und nun war er nicht da, denn statt seiner erhob sich eine dunkle Gestalt im Schlitten, eine Frauengestalt, einer Seherin ähnlich, mit strengen Zügen, einen unbarmherzigen, zerrissenen Schmerz um die Lippen und so, wie die Künstler sie nötig haben, um nach ihrem Ebenbild das unerbittliche Geschick zu verkörpern.

Der grelle, aufdringliche Schein der Laterne beirrte sie nicht. Die fremde Umgebung störte sie nicht. Sie hatte kein Empfinden für das, was über ihr mit goldenen Zeichen dahinwandelte. Sie schien nicht zu frieren. Ohne Hilfe entstieg sie der niedrigen Kufe.

Cornelis trat auf sie zu.

Sacht berührte er ihren Arm.

»Kommen Sie, Frau Harkort!« sagte er gepreßt, »ich weiß, was Sie suchen.«

»Das ist die Stimme von Cornelis Höfkens,« versetzte sie in ihrer kirchenstillen Gemessenheit, indem sie ihre Blicke voll auf ihn richtete. »Wir sind uns lange nicht mehr im Leben begegnet, obgleich wir nicht allzufern voneinander wohnen. Op gen Oort ist nicht weit. Aber die Verhältnisse brachten das mit sich. Wohl am Beerdigungstag meines seligen Mannes, da war es, als wir uns das letzte Mal sahen. Das heißt, Sie mich; zu mir waren ja schon die grauen Stunden gekommen, aber noch heute danke ich Ihnen, daß Sie ihm die letzte Ehre erwiesen. Seitdem hat sich manches ereignet. Gutes und Böses. Das Schlimmste wohl heute. Ein solcher Gang ist kaum einer Mutter geworden. Andreas ist bei ihm. Sonst geht ihm das Herz auseinander. Ich will dieses Herz nicht verlieren. Drum bin ich hier, und wenn ich nicht ungelegen erscheine, dann möchte ich zu ihr.«

Wortlos traten sie ein. Im Flur legte sie Mantel und Tuch ab. Als sie die Küche passierte, stand Apollonia Korthals im Türrahmen und führte einen Zipfel ihrer Schürze gegen die Augen.

Die blinde Frau blieb für einen Augenblick stehen. Sie schien die Nähe der Mamsell zu fühlen und nickte ihr zu. Dann nahm sie wieder ihren früheren Schritt auf. Laut ging ihr Stock über die Fliesen.

Von Cornelis und Kosman begleitet, betrat sie das Zimmer.

Zwei Frauen standen sich hart gegenüber, eine in der Fülle der Jugend, mit vergrämten Zügen und wie am Marterholz lehnend; die andere: eine Blutzeugin, eine Mutter der Schmerzen, als wäre ein siebenfältiges Schwert durch ihre Seele gestoßen, und doch ein ehernes Standbild, unbeweglich, ähnlich den hoheitsvollen Dulderinnen, die alles hinter sich lassen und nur den einzigen Wunsch noch haben, ihr Kind zu erretten.

Für einen Hauch von wenigen Herzschlägen war es wie in einer verwunschenen Kammer. Die Lampe schien trüber zu brennen, das Heimchen hinter dem Ofen verstummte, und das Gangwerk der alten Kastenuhr rührte sich kaum. Es war so, als hätten Geisterhände Perpendikel und Bleilot angehalten.

Dann aber . . . ein verhaltener Schrei von weißen Lippen: »Frau Harkort . . .

»Die bin ich,« sagte die Blinde mit einer bitteren Herbe, als wäre das Wort aus einem steinernen Munde gekommen, »und die da rief – ich sehe sie nicht, aber ich weiß, wer sie ist. Ich kannte sie früher. Ich sah sie als Kind, als sie noch auf den Wiesen unter Blumen spielte; ich sah sie als Mädchen, als sie im schlichten Kleid zum Tische des Herrn ging; ich sah sie später . . .« Mit einem kurzen Laut brach sie ab. »Nein,« fuhr sie kopfschüttelnd fort, »da sah ich sie nicht mehr, denn um diese Zeit mußte ich schon die schwarze Binde erdulden, die alles verhüllte, was dem Auge lieblich und der Seele angenehm war. Keiner trägt Schuld daran, niemand hat etwas versäumt, keinem ist dieserhalb ein Verfehlen vorzuwerfen. Es lag eben in Gottes Ratschluß, war in seiner Allweisheit und Güte begründet, und ich nahm es hin, wie man etwas Unabweisbares, eine ewige Fügung hinnimmt, einem gesetzt, das Dasein zu läutern, um ungefährdet und leichter über die Schwelle seiner Herrschaft zu treten. Ich dachte mir, du bist nur ein Sandkorn in seiner gewaltigen Ackerscholle, ein Tropfen in seinem unendlichen Meer, ein Wölkchen in seinem unermeßlichen Luftreich – warum da sich auflehnen gegen die Vorsehung und den Willen des Höchsten? Es ist nicht wohlgetan und bringt den Menschen nicht weiter, hemmt ihn vielmehr und macht ihn verstockt gegen Gerechte und solche, die sich bemühen, einem das Leben erträglich und die Schatten weniger dunkel zu machen. Das überdachte ich alles und fügte mich willig, wenn es auch schwer war. Es war ein Kampf, lange Jahre hindurch, zwischen dir und mir, zwischen meinem Sohne und mir. Schließlich gab ich den Kampf auf, denn es ist besser und gottwohlgefälliger in Eintracht und Frieden zu leben, als am Starren zu halten und es an die Kette zu legen. Auch meinem verstorbenen Mann gegenüber konnte ich diese Ansicht vertreten. Du aber – du kamst nicht. Wir rückten immer mehr auseinander. Wir begegneten uns nicht mehr – nicht in der Kirche, nicht auf Op gen Oort, nicht sonstwo. Du gingst deine eigenen Wege und ließest uns in der Einsamkeit sitzen, und du kamst nicht, Franziska. Da dachte ich mir, die Zeit bringt Vergessen, die Zeit wird trösten und das aufgewühlte Stauwasser über die Dämme zurücktreiben. Aber die Zeit war anderen Sinnes und machte es schlimmer. Mit dem muß ich rechnen, sonst wird ›Soll und Haben‹ verworfen,« und ihre Stimme fröstelte, als sie dann sagte: »Drum kommt die Mutter zu der, die einst die Braut ihres armen Sohnes gewesen.«

Das junge Weib hob langsam das Antlitz. Große Tränen standen in ihren Augen.

»Wollen Sie mir denn alles nehmen, Frau Harkort, aber auch alles?«

»Das will ich nicht,« sagte die Blinde, »und es wäre ungerecht und verfehlt, wenn ich es täte, Franziska. Aber es gibt unselige Stunden, die tragen Sterbekränze im Haar, und Partikelchen von Rauschgold haften an ihren leblosen Fingern. Eine solche Stunde ist bei mir. Und dennoch: ich weise sie von mir, diese bittere Stunde, denn ich habe den heiligen Vorsatz, mir das Herz nicht noch mehr zu beschweren. Es hängen Blutstropfen genug daran, solche um dich und solche um meines lieben Kindes willen. Wir wollen uns gegenseitig keine Vorwürfe machen. Was sollte es auch weiter bezwecken? Wir würden nur hoffnungsloses Tagwerk verrichten. Traurig genug, daß das Unglück geschehen ist. Weshalb es noch trauriger machen und es weiter vertiefen? Es ist nicht gut, ein verzweifeltes Tier aus seiner Ruhe zu peitschen. Darüber sind wir beide hinaus. Es würde uns nur um den Verstand bringen, und das wollen wir nicht. Wir beiden sind durch eine harte Leidensschule gegangen. Sie führte mit keiner Spur über die sonnige Straße des Lebens. Im Gegenteil, diese Straße war dornig und steinig, und unsere Füße hinterließen deutliche Male. Ich weiß auch: du hast übermenschlich gelitten, aber ich als Mutter habe schwerer geduldet. Eine Mutter erträgt um ihres Kindes willen, ohne einen Laut der Klage zu finden, eine Mutter bietet ihren Nacken als Schemel und läßt sich zertreten für ihr Fleisch und Blut, eine Mutter vergißt nicht. Was man ihrem Sohne antut, das tut man ihr selber an. Ich kann nicht vergessen und will nicht vergessen. Mein Sohn wurde zum Mann, und ein Mann leidet unsäglich, wenn er am Weibe krankt. Kannst du mir folgen, Franziska?« fragte sie tonlos.

»Ja, ich folge, Frau Harkort.«

»Gut, daß du es tust,« fuhr die Blinde heftiger fort, »sonst müßte ich an der ewigen Vorsehung und an Gottes Güte verzweifeln.«

In ihren toten Blicken begann es phosphorisch zu leuchten. Gebieterisch streckte sie ihre wächserne Hand aus.

»Da drüben – auf Op gen Oort,« sprach sie weiter, »dort auf der Scholle seiner Väter sitzt einer, der ist krank nach dem Weibe. Wer dieses Weib ist, brauche ich keinem zu sagen. Auch dir nicht. Jeder weiß es. Es wäre töricht, ihren Namen zu nennen. Und dieses Weib wagte es, meinem Sohn ein unbarmherziges Wort in die Seele zu brennen, obgleich seine Neigung so tief und rein war wie ein kristallklarer Brunnen. Und was folgert daraus? Du scheinst es nicht zu wissen oder willst es nicht wissen. So höre denn; ich will es dir sagen. Hinter ihm steht der Vernichter des Lebens. Das harte Wort eines geliebten Weibes genügt, einen Mann zu verderben und ihn an den Abgrund zu stoßen. Das tatest du . . . oder hast du das harte Wort nicht gesprochen – zu ihm – zu meinem Sohn – an der Roten Schleuse da drüben?«

»Ich tat es.«

Da warf die Alte ihr Haupt zurück, flammte auf, um gleich darauf wieder in ihre vorige Starre zu fallen. Plötzlich fuhr sie zusammen. Cornelis und Kosman rangen nach Luft. Mit bangen Gesichtern sahen sie auf die Frau von Op gen Oort, die nicht mehr sie selbst war, der alles Blut zum Herzen zurücktrat, die aussah, als müßten von ihren Lippen die Worte fallen: »Kommt alle zu mir, die ihr noch Liebe und Mitleid um mich tragt, und reicht mir die Hände. Sputet euch, mir diese Gunst zu erweisen, denn ich habe nicht mehr lange zu leben. Es duftet um mich nach Firnis und Weihrauch. Das soll euch gesagt sein.«

Das Schweigen hielt an.

Endlich zerteilte es sich.

»Du sollst vernehmen, Franziska: Andreas sandte mich – und ich finde dich so. Verstockt und abgekehrt wie an der Roten Schleuse dahinten. Es war nicht anders zu erwarten, und ich hätte mir das sagen müssen; denn wer so viele Totenblumen pflückte wie ich, der greift umsonst nach heiteren Sträußen. Aber Andreas gebot mir: Gehe hin – und ich bin zu dir gegangen . . . und nun muß ich sehen: ich bin vergebens gekommen. Unterbrich mich nicht« – und ihr Kopf senkte sich wieder – »denn ich bin älter als du – und Mutter – und kämpfe um das Leben meines einzigen Kindes. Ich bin durch Nacht und bittere Kälte erschienen, um den höchsten Einsatz in die Schale zu werfen – ich, die Blinde, die Leidtragende, die alte Frau vom weißen Hause da drüben. Alles, was um mich blühte und grünte, ist welk geworden und falb und unansehnlich, und das, was meine Tage erfreute, fiel von mir, als wäre es dürres Laub und Spreuicht gewesen. Ich erweckte Reue und Buße, aber Reue und Buße halfen mir nicht. Ich betete zu Gott, mir mein Geschick erträglich zu machen, aber Gott erhörte mich nicht. Er war wie der Gott der Juden, unbarmherzig und unerbittlich mir gegenüber. Er war kein christlicher Gott mehr. Er sprach wie aus einem feurigen Ofen und warf meinen Mann vorzeitig auf die tännernen Bretter . . . und ich sagte: Der Herr hat es gewollt. Mit einer geschäftsmäßigen Sachlichkeit stieß er meinen Ältesten in die Maschine hinein und senste ihn wie einen Armvoll Garben von der Parzelle herunter . . . und ich sagte in meinem wilden Schmerz: Füge dich, denn es ist eine Schickung des Himmels gewesen. Jetzt aber« – und die Alte nahm ihren Stock und stieß ihn auf und stellte ihn vor sich und legte ihre Hände über die Krücke – »jetzt aber sandte er das Weib, das mir helfen und beistehen sollte, und dieses Weib tritt wider mich auf, und dieses Weib ist schön wie der Tag und dunkel in ihren Worten und Werken und geheimnisvoll wie ein drohendes Wetter, und dieses Weib . . .«

Sie trat näher heran.

»Wer bist du, der du gekommen bist, einer Mutter Steine zu bieten, als sie das Brot des Lebens erflehte? Wer bist du, der du meinen Sohn mit Liebe getränkt hast, um ihn nun verdursten zu lassen? Was veranlaßt dich, mir ruhig und ohne jede Erregung ins Antlitz zu sagen: Ich tat es – an der Roten Schleuse habe ich ihm das Urteil gesprochen? Wo nimmst du die Stirn her? Wie kommst du dazu? – und Andreas Lobbers sagte mir doch: Gehe hin – und ich bin zu dir gegangen . . . und muß nun sehen: es ist alles geprahlt und töricht gewesen. Du – soll mein einziges Kind sich an seiner Wunde verzehren? Soll der, der unter meinem Herzen gelegen, am Weibe ersticken? Wer bist du, der du dich auflehnst gegen Natur und Seligkeit, der du nicht wahr haben willst, was deine Arme verhießen und deine Lippen gestammelt? Einmal schon hast du ihm das Dasein zerfleischt. Soll er zum zweiten Male sterben? Wer bist du? Wer bist du . . .?!«

Ein wilder Schrei flog gegen sie an.

»Jetzt habe ich zu sprechen, Frau Harkort,« und sie, Franziska, die bisher der Blinden gefolgt war, die ihr jedes Wort von den Lippen gelesen und alles willenlos über sich hatte ergehen lassen, eine Gequälte, eine Heimgesuchte, ein Weib mit dunkeln Ringen um die aufgerissenen Augen, eine bleiche und stolze Frau reckte sich auf, daß ihr junger Leib sich straffte, sie war die Duldende nicht mehr, war wie eine Herzogin im Schmuck der Schönheit, und als solche kam es von ihrem Munde herunter: »Jetzt habe ich zu sprechen, Frau Harkort, und niemand soll das Wort mir verbieten. Niemand – auch Sie nicht. Es wäre schon besser, ein andrer spräche für mich, nähme dieses schwere Amt als das seine an. Aber wo den richtigen Sachwalter finden? So muß ich es selbst tun, mich selber vertreten, denn dieser Augenblick entscheidet über unser gemeinsames Leben – über seines und meines. Was an der Roten Schleuse passiert ist – wer will darüber rechten und richten? Keiner war bei uns. Nur Gott allein – und er zählte meine Worte und wog meine Worte. Ich tat, was ich mußte, was das Gewissen mir vorschrieb; denn hätte ich anders gehandelt . . . Glauben Sie denn, mein Herz wäre mit einem eisernen Gürtel umschmiedet, wäre hart wie ein Feldstein? Glauben Sie denn, ich wäre nicht verurteilt gewesen, wie ein Bettelweib am Straßengraben zu sitzen und mein Gesicht zu verhüllen? Die Schuld eines Vaters vererbt sich, geht auf die Kinder und Kindeskinder über und verbietet einem, über eine reine Schwelle zu treten. Sollte ich trotzdem es tun? Sollte ich Op gen Oort entweihen, den geliebten Mann mit geschändeten Armen erwürgen und mein Geschick mit dem seinen verknüpfen? Ich wäre eine Dirne gewesen!« und ernst und gelassen wies sie der Blinden die Pfade und geleitete sie in das dunkle Reich ihrer Trübsal, ihres Leidens und Duldens, ihrer Nöte und Gewissensqualen. Genau wie vorhin, als sie die Schwurzeugen anrief: nichts verschwieg sie, nichts beschönigte sie. Ihr Bekenntnis war wie eine lautere Quelle. Sie zeigte ihr die vergrämten Tage, die Nächte, die ihr die Stunden zu dornigen machten. Sie führte sie auf die Wassermühlen, zum Aukamp. Sie beschwor ihren Vater, Simonis, den entsetzlichen Jan van den Birgel. Mit selbstquälerischer Hingebung und Entsagung legte sie Zeile um Zeile ihres traurigen Lebensbuches sacht auseinander, um schließlich mit einem ergreifenden Lächeln zu stammeln: »Dies meine Beichte, und diese meine Beichte wird Ihnen Andreas, der junge Kaplan . . .«

»Er sagte mir alles.«

»Dann muß er Ihnen auch gesagt haben . . .« und ihre Stimme flog auf wie der Ton einer Glocke . . . »jetzt, wo ich sehend wurde . . . jetzt, wo ich rein bin . . .

»Ich ließ ihm nicht Zeit.«

»Mutter, Mutter! – aber jetzt weißt du's von mir, und wenn ich noch darf . . .?!« und zwei Arme streckten sich sehnend.

»Ob du noch darfst?! – O du mein Alles! – Kommen sollst du mit mir. – Dein ganzes Menschentum sollst du nehmen und es zu ihm tragen. – Deine Hände sollst du ihm auflegen, wie der Priester einem Kranken die Hände auflegt, um ihm die Stunde leichter zu machen. – Das sollst du. – Sein Weib sollst du werden, damit er gesundet.«

»Mutter, Mutter . . .

»Franziska, mein Kind . . .!« und ein junges, genesendes Weib lag an der Brust einer Greisin, und in die Augen der Blinden fiel ein Glanz und eine Freude, die nicht von dieser Erde stammten. Gott hatte sie aus dem Himmel gesendet. Und die Alte sprach beglückt vor sich hin: »Hans, ich habe sie wiedergefunden,« und sie wandte den Kopf und sagte: »Cornelis, kommen Sie näher, auch Sie, mein lieber Herr Kosman. Nehmt meinen Dank, ihr Getreuen! Nehmt meinen Segen! Ich glaube, er wird da droben gewertet.«

Arm in Arm und Brust an Brust verließ sie mit Franziska das trauliche Zimmer, das so viel des Schmerzes, aber auch so viel des Heiles gesehen.

Cornelis und Kosman folgten.

Draußen stand die Mamsell und schluchzte. Sie nahm den Kleidersaum der Blinden und küßte ihn innig.

Gleich darauf trabte der Braune wieder durch die flimmernde Landschaft.

Die beiden sahen ihm nach.

»Kosman,« sagte Cornelis, und ein helles Wasser lief ihm über die Backen, »Sinter Klaas . . .! Nu komm' man! Im ›Dicken Tommes‹ warten die anderen.«

* * *


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