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Sie ging zur Tür, öffnete sie und suchte den Gang ab.
Vielleicht war Kosman noch da, harrte auf ein freundliches Wort, um die erregte Szene von eben vergessen zu können.
Aber nichts ließ sich blicken.
Da dachte sie daran, Petronella zu rufen und ihn noch einmal bitten zu lassen. Sie fühlte es selber: sie war zu weit gegangen, hatte ein treues Herz gekränkt und ihm die Einfalt der Tauben und das Wunder aus der Kindheit genommen. Aber auch diese milde Regung verwarf sie. Sie kannte den Alten. Der war kein gefügiges Wachs mehr in ihren Händen. Möglich – er war ihr für immer verloren, denn solche Menschen, so reell sie auch sind, so selbstlos und unterwürfig sie auch ihre Tage verleben und nichts höher bewerten, als die Interessen ihres Herrn zu den ihrigen zu machen – in gewissen Dingen sind sie eigenwillig und scheu wie die Kinder, empfindlich wie das zarte Blatt der Mimosen, das jede, auch die geringste Berührung als etwas Verletzendes erduldet.
Sie richtete sich jäh auf und ließ wieder die Tür ins Schloß fallen. Ihr Blick wurde starr, ihr Denken hart und von einer selbstquälerischen Strenge.
Nein, sie wollte nicht mehr. Mochte er bleiben.
Ihr Herz krampfte zusammen und nahm das Frostige und Ablehnende des weißen Wintertages an, der sich schon abendlich über die Erde legte und das Gegenständliche weiter rückte. Noch war alles sichtig genug, auch das Geringfügigste erkennen zu können. Nur die hohen Pappeln auf dem nahen Deich begannen allmählich ineinander zu fließen und als grauverhängte Gestalten ihr Wesen zu treiben. Ein kaum wahrnehmbares Rauschen tönte herüber.
Sie hörte darauf wie auf das geheimnisvolle Rufen einer fernen Klage um ein verlorenes Glück, das mit einem jähen Ton in Scherben zerklirrte, und dieses Rufen machte die eigenen Saiten ihres Empfindens lauter erklingen, und bei diesem Erklingen durchlebte sie ihr vergangenes Dasein noch einmal, zerlegte es und erduldete es in all seinen Einzelheiten, in all seinen Freuden und Leiden, in seinen Tränen und schlaflosen Nächten . . . aber in einem gewaltsamen Tempo . . . in der jähen Flucht von Sekunden . . . gleichsam als zöge es in den raschen und scharfumrissenen Bildern eines Zauberbuches vorüber.
Aber nichts konnte sie greifen, nichts halten. Die einzelnen Bilder zerrannen, quirlten wirr durcheinander, verloren sich in eine endlose Nacht ohne Andacht und Sternenfeuer . . . und dazwischen tönte ein monotones Klopfen, langsam und feierlich, ohne Aufhören, wie das regelmäßige Fallen großer Wassertropfen in eine Bronzeschale. Immer dasselbe! Die schmerzlichen Laute der Einsamkeit und des Verlassenseins.
Auch das nahm sie hin, wie man etwas Alltägliches hinnimmt.
Sie wollte das Leben hinter sich werfen wie ein nichtiges Gut, nicht mehr denken und grübeln.
Entschlossen trat sie vor. Ihr konnte es recht sein: mochte das regelmäßige Fallen der großen Tropfen in die Bronzeschale für ewig ertönen. In selbstauferlegter Marter gefiel sie sich plötzlich darin, die Einsamkeit und das Verlassensein in ihre Arme zu schließen. Sie befreundete sich damit und war glücklich, sie endlich gefunden zu haben. Die Spiegelungen der Resignation hüllten sie ein und geleiteten sie unauffällig in das Land des Vergessens, wo so viele sitzen, die den Kranz der Freude aus ihren Haaren taten, ihr Feierkleid ablegten, aber auch keine Leiden mehr haben.
Da fiel ihr Blick auf den petschierten Brief, den sie achtlos empfangen und achtlos beiseite gelegt hatte. Sie hatte ihn völlig vergessen; er war durch die heiße Stunde, die sie mit Kosman verlebt hatte, hinweggeschwemmt worden.
»Auch das noch!« sagte sie unwillig. »Immer diese geschäftlichen Dinge! An Frau Simonis, geborene Malthus, und auf der Rückseite der preußische Adler, das Notariatssiegel, der Hort der freiwilligen Gerichtsbarkeit . . . hat Zeit bis morgen . . .« und sie hatte bereits vor, ihn wieder beiseite zu schieben, als sie den Hinweis des instrumentierenden Beamten gewahrte.
»Am ersten Tag im Advent zu bestellen.«
Das hatte ihr schon Herr Hürland ausgerichtet, wenn auch verspätet, aber dringlich und mit aller Bestimmtheit.
Da erbrach sie das Schreiben.
»Mein Gott!« stöhnte sie auf, denn ihr starrten die steilen, ungelenken, aber deutlichen Schriftzüge des Vaters entgegen.
Ihre Hände bebten. In hastiger Weise umgriff sie einzelne Sätze, einzelne Stellen, wahllos und ohne Zusammenhang. Die Buchstaben zerflossen ihr zu einem undurchdringlichen Chaos.
Mit einem kurzen Laut brach sie ab.
»Endlich, endlich!« Ihre Stimme frohlockte, denn so undurchdringlich das Chaos auch war, es mußte sich klären. Eine rücksichtslose Faust stieß hindurch und hielt eine flammende Leuchte – das ersehnte Licht, das sie erträumt hatte mit wildem Verlangen, mit heißem Begehren: das Licht der Erkenntnis. Sie mußte es haben, auch wenn es ein furchtbares Licht war und sie geblendet würde von seinem entsetzlichen Glanze.
»Mein Gott und meine Seele!«
Sie stürmte ans Fenster.
Dann las sie:
»Franziska!
Von Todes wegen. Ein Toter tut den Mund auf und hat dir ein Geständnis zu machen. Lies Zeile für Zeile und Seite für Seite . . . eile nicht vor . . . unterschlage kein Wort, keine Silbe . . . sei wie die, die auf einem abgeernteten Gerstenfeld Nachlese halten, jede Ähre aufraffen und sie sorglich verstauen, sonst sind meine Darlegungen Spreuicht und vergebens gewesen. Was du jetzt liest, das hätte ich nötigen Falles in meiner Schreibkommode aufheben oder durch Kosman aufheben lassen können. Auf diese Weise wäre es dir auch in die Hände gekommen. Aber das wollte ich nicht. Ich mußte unbedingte Sicherheit haben, und die konnte der Notar mir nur geben; denn dieses Geständnis ist wie das eines Mannes, dem bereits die gebieterische Hand der Ewigkeit auf der Schulter lastet, um ihn mit sich zu führen. Du wirst dir ferner die berechtigte Frage vorlegen, warum ich den Termin der Bestellung auf den ersten Adventstag verlegte. Weshalb nicht früher, gleich nach meinem Ableben? Auch das wies ich von mir. Ich müßte weit ausholen und mich verzetteln, um dir meine Gründe verständlich zu machen, und will dir nur sagen: Eine gewisse Zeit mußte hingehen, die bitteren Dinge reifen zu lassen. Alle Geschehnisse aus unmittelbarer Nähe betrachtet sind trügerisch, verwirren die Sinne und geben die Einzelheiten nicht in ihrer ganzen Tragweite und Bedeutung wieder. Eine gewisse Entfernung ist nötig, um das richtige Bild zu gewinnen, seine Entschlüsse zu fassen, das Für und Wider zu erwägen und das endgültige Urteil zu fällen. – Seit deiner Heirat liegt auf mir die furchtbarste Bürde meines Lebens. Immer tiefer drückt sie mich nieder. Nicht lange mehr – und ich röchle im Staube. Ich höre den scheußlichen Knall einer Geißel. So peitscht das Gewissen. Das ist unerträglich geworden . . . und ich hatte nicht den Mut, dir zu bekennen, wie ich meinem Heiland bekannte: Ich armer, sündiger Mensch . . . Jetzt aber, wo die Blätter fallen, das Unheil hinter mir steht und mein Fuß sich bereit macht, den letzten Schritt auf dieser Erde zu tun, wo ich dieses niederlege, hoffe ich in deinem Angedenken und in der Gnade Gottes zu sterben, auf daß ich das finde, was ich vergebens hier suchte – die Blumen des Friedhofes. Meinen Gruß in Jesu Christo zuvor. So höre, Franziska; dann wird mein Leid zu Ende sein und ein liebes Kind um mich weinen.«
Sie ließ das Schreiben herunter. Die Buchstaben tanzten ihr vor den Augen. Sie hörte die Stille atmen, und wieder fielen die großen Tropfen in den gleichen Intervallen in die bronzene Schale. Ihre Nerven versagten. Mit leisem Schluchzen sank sie in die Knie, glättete das Papier mit kalten Händen, und ihr war, als träufelte Wasser und Blut aus den Zeilen, als wären sie mit Blut und Tränen geschrieben. Und abermals begann sie zu lesen:
»Meine Vermögensverhältnisse waren geordnet. Keine Übereilung, keine Spekulationen im geschäftlichen Wirken. Meine Unternehmungen bewegten sich in gesunden und zuverlässigen Bahnen, und wenn ich alljährlich um Martini meinen Überschlag machte, war ich mit dem ›Soll und Haben‹ zufrieden. Die Hand Gottes war bei mir, und in Kosman hatte ich den besten Helfer und Berater gefunden. Rechtlich, wie er war, mir und dir mit allen Masern und Fasern seines Herzens zugetan, selbstlos und nur darauf bedacht, den Mühlen ein immer stolzeres Ansehen zu geben, war er der gute Hausgeist geworden, der meine Sparren bewachte. Mein Weib schlief schon lange unter den Lebensbäumen; aber gute Freunde verstanden es, mir die kleinen täglichen Sorgen von der Stirne zu nehmen; besonders Cornelis. So lauter wie ihn habe ich unter meinen Kollegen keinen gefunden. Unsere Interessen begegneten sich, kein Neid wandelte uns an; selbst der letzte Stein und Ziegel seiner Mühle stand zu meiner Verfügung. Ich hätte den Mann in Gold fassen mögen, so sehr war er in meine Liebe gewachsen, und wenn es mir schwer wird, von dieser Erde zu scheiden, so geschieht es um seinetwegen und um deinetwegen, Franziska. Du weißt aus Erfahrung: ich konnte mich sorglos betten. Keine Schulden sahen in meine Träume hinein, kein Zahlungsbefehl umschlich meinen Besitz, um mir schließlich mit brutaler Faust die Läden einzustoßen und mich anzugrinsen: Hier bin ich. Im Gegenteil: ich verfügte über beträchtliche Außenstände, hatte Darlehen gegeben und konnte mich der schönen Genugtuung erfreuen, auch nicht die geringste Hypothek auf meinem liegenden und beweglichen Eigen zu wissen. Und da eines Tages . . . Ich brauche dir diese grausame Stunde nicht in Worten zu schildern. Aus Brand und Verwüstung sah das Grauen und verzehrte alles: Haus und Speicher, andermanns Korn und andermanns Güter, die zum Mahlen zugebracht waren, und trotz allem großen Elend, das Schlimmste kam nach, hinkte aus Asche und verkohlten Balken heraus, streckte die welke und blutleere Zunge und begann damit, ungeheuerliche Gerüchte über mich und meine bürgerliche Ehre unter die Leute zu tragen. Das Gesäme ging auf; aber so wahr mir Gott helfe! ich wäre ein Tor gewesen, ein Gottesnarr, ein Verblendeter, hätte ich im Leben etwas getan, was der Entstehung dieser Gerüchte auch nur den geringsten Vorschub geben konnte. Warum auch? Meine Hände waren rein wie die eines Kindes, wenn es sie faltet, um für Vater und Mutter zu beten . . . und wenn da irgendeine Schuld meinerseits war, so wäre sie lediglich darin zu suchen, daß ich mein Anwesen zu gering bewertet, zu wenig überschlagen und daher zu niedrig versichert hatte. Bis zu diesem Absatz meines Bekenntnisses bin ich erhobenen Hauptes durch meine Tage gegangen, freien Auges und mit der harmlosen Ruhe eines glücklichen Menschen. Dann aber, Franziska . . .«
Ein Schluchzen unterbrach sie.
»Das bist du, das bist du!« weinte sie still in sich hinein und beugte sich nieder und küßte die Stelle, die diese Worte enthielten, und suchte dann wieder die steilen und lieben Zeichen ihres Vaters zu lesen.
»Dann aber, Franziska . . . Der heimliche, schleichende Geist ist stärker als alle verfügbaren Kräfte. Er ist wie Gift und eine heiße Zinntraufe, die einem ins Blut rinnt. Und dennoch sagte ich mir: Es geht nichts verloren in der Welt, nicht Mühe und Arbeit, und begann aufs neue zu schaffen, obgleich ich mir eingestehen mußte: in deinem Hab und Gut beginnt es leise zu knistern. Die Zeiten waren ernster geworden und die Außenstände und Darlehen nicht ohne weiteres flüssig zu machen. Die Baukosten wuchsen, das vernichtete Korn mußte eingelöst werden, und so blieb mir nichts anders übrig: ich mußte Wechsel ausstellen und mich ihrer bedienen, hatte aber in meinem verblendeten Ehrgeiz das nächste und beste von mir gewiesen, mich an Cornelis Höfkens zu wenden, wenn auch der Bau gedieh und bald unter Dach kam. Hoch vom Giebel ragte der Maibaum . . . immer frische Zufuhren kamen . . . die Wehre brausten auf . . . und die Steine drehten sich wieder. Ein zuversichtliches Behagen durchströmte mir Geist und Körper. Die Welt erschien mir aufs neue in lichteren Farben, und ich atmete freier, wenn auch meine Verpflichtungen noch immer bestanden. Ich vertraute auf Gott, auf meine eigene Kraft und ein gutes Gedeihen. Allein die Wechsel wurden allmählich fällig . . . und seltsamer Weise: unversehens und in stiller Art wurden die Mühlen heimgesucht von ungebetenen Gästen, die Jahre hindurch zu den rarsten Vögeln gehörten. Jan van den Birgel kam mehr als gewöhnlich. Meist unter nichtigen Vorwänden. Auch Simonis erschien, und bei diesen Gelegenheiten kamen Dinge zur Sprache, die sich mit meinen jeweiligen Schwierigkeiten befaßten. Sie redeten mir Mut zu und vertrösteten mich auf eine bessere Zukunft. Ich war ihnen dankbar, zumal da sie sich den Anschein gaben, als verstünden sie es, die Monatsziele zu verlängern oder nötigen Falles die laufenden Wechsel überschreiben zu lassen. Simonis und Jan van den Birgel! Zwei sonderbare Menschen! Ich ahnte noch nicht, daß irgendwelche geheime Machenschaften und wechselseitige Verpflichtungen zwischen ihnen bestanden. Erst später erfuhr ich davon, hörte dieses und jenes, war aber nicht mehr imstande, sie mir vom Leibe zu streifen. Damals jedoch wähnte ich, ehrliche Hände zu fassen und mit lauteren Männern diese meine Drangsal und Unruhe teilen zu können, und ich dachte nicht daran, daß ihre Finger bereits auf einem schwarzen Türgriff ruhten, um mich in die Totenkammer zu führen. Ich glaubte an sie, hatte aber noch so viel gesunden Menschenverstand, mich endlich zusammen zu reißen und nach einem sicheren Anker zu greifen.
Ich ging zu Cornelis.
Als er mein Anliegen kannte und Einblick gewann in meine Schwierigkeiten, die nach rechtlichen und kaufmännischen Begriffen eigentlich keine besonderen Schwierigkeiten waren, sondern höchstens als fatale Sorgen und Verlegenheiten des Geschäftes angesprochen werden konnten, sagte er mit seinem stetigen Wohlwollen: ›Aber, Malthus, weshalb diese Umstände? Warum diese langen Auseinandersetzungen und schweren Bedenken? Immer man frisch von der Leber herunter! Auf Parol! für dich bin ich immer zu haben – alltäglich, allstündlich, und wenn ich dadurch mich selbst auf den ›Proppen‹ begäbe. Also was willst du? Du brauchst nur zu wünschen.‹
›Wenn ich denn zehntausend Taler . . .‹
›Auch fünfzehn-, auch zwanzigtausend,‹ versetzte er schmunzelnd und deutete auf sein Zylinderbüro. ›Dort befinden sie sich. Bar oder in Kassenscheinen. Je nach Befinden.‹
›Und du stellst sie zu meiner Verfügung, wenn ich sie abrufen sollte?‹
›Bei Tages- und Nachtzeit. Sie sind so gut wie dein Eigen . . . und damit abgemacht, Malthus.‹
›Ich danke dir vielmals, Cornelis.‹
›Absolut nichts zu danken,‹ und mit dem glücklichen und innigen Gefühl in der Brust, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, verließ ich das Haus dieses seltenen Mannes, wobei ich die Worte redete: Das Gedächtnis des Hilfreichen bleibt ein Segen, und lenkte ein in die Bahn einer freudigen Zukunft. Meine Sinne heiterten auf, aber da plötzlich . . .
Bevor ich nun den schwarzen Mantel umtue, um einsam meines Weges zu gehen, muß ich zurückgreifen, Beiseitegelegtes aufheben und Verlorenes suchen, damit ich die Dinge vereine, die schließlich mein Dasein umstrickten und es zu einem unseligen machten. Ich erinnere mich noch genau des Tages, an dem man mich in das Ehrenamt eines Kassenverwalters hineinstieß. Auch Simonis wurde verpflichtet. Die Deichschöffensitzung brachte uns immer näher zusammen. Seine Besuche mehrten sich. Unter dem Vorwand, sich über den Stand der laufenden Gelder ein genaues Bild zu verschaffen, war er häufiger Gast auf den Mühlen, ohne dabei seine Eigenschaft als Revisor in seiner Art zu betonen. Erst später erfuhr ich, was er eigentlich suchte und wollte, viel zu spät, um dem nahenden Unheil das Wasser abzugraben und ihm eine andere Richtung zu geben. Es schien so, als wäre ich in jener Zeit mit Blindheit geschlagen gewesen. – Du warst meine Freude, Franziska, und jetzt noch nach Jahren lege ich meine Hände zusammen, um deinen Namen zu segnen. Ich wußte um deine Liebe zu Hans und sah sie immer schöner und reicher werden, daß sie sich anließ wie der Wiesengrund hinter dem Mühlwehr, der schon in den ersten Frühlingstagen so voller Blumen zu stehen pflegte, daß man des Glaubens sein konnte, die allerseligste Jungfrau sei durch die Gräser gegangen. Maria Windelweiß und Männertreu blühten dort immer am frühesten, so daß ich dachte: Es ist des Ewigen Wille gewesen, der Herr ist mit euch und wird euch die Pfade ebnen, und trotz der schweren Stunden, die dieserhalb über Op gen Oort kamen und ernste Zerwürfnisse brachten, hielt ich deine Sache für eine reine und heilige Sache und freute mich bereits deiner gottwohlgefälligen Tage . . . und wenn auch ein andrer sich um deine Neigung bewarb, den Schmelz von deiner wahren Liebe zu streifen versuchte und dich Monate hindurch mit seinen gierigen Blicken wie mit unkeuschen Fingern berührte – meine Zuversicht blieb und suchte nur das Schöne im Schönen zu finden. Es ist anders gekommen, und mir blieb das traurige Los vorbehalten, die Art an den Wurzelstock deines reinen Menschentums zu legen und es stürzen zu lassen. Zu spät begriff ich, zu spät kam die Einsicht, zu spät wurde mir die Binde von den Augen genommen. Nichts blieb mir übrig, als die Qual und die furchtbaren Schreie: Herr du mein Heiland! – Erbarmen, Erbarmen! – Mir will der Verstand auseinander! – Doch ich will folgerichtig erzählen.
Es war an einem regnerischen Tag im November, als Jan van den Birgel auf den Wassermühlen erschien und mich dringlich zu sprechen wünschte.
›Herr Malthus . . .‹
Er sah demütig aus und machte ein Gesicht, als seien ihm die letzten Schindeln von den Sparren gehagelt. So jammerselig und zusammengebrochen war er mir noch niemals begegnet, mit solchen äußerlichen und innerlichen Gebresten noch niemals vor Augen gekommen. Unter einem süßsäuerlichen Lächeln rannen ihm die Tränen herunter. Ich hatte Mitleid mit ihm und sagte teilnehmend: ›Womit kann ich dienen, Herr Jan van den Birgel?‹
›Gott, Herr Malthus, man hat so seine unseligen Tage. Man denkt sich das beste und tut seine Pflicht im Geschäft, denn man will sich doch über Bord halten, Herr Malthus, und dann und wann so'n kleines Profitchen entrieren, aber bevor man sich versieht, pfeffern sie einem die dicksten Knüppel zwischen die Beine. Offen gestanden: meine Spekulationen sind so'n bißchen in die Brüche gegangen, und da dachte ich mir: Geh' zu den Mühlen! Aber beileibe nicht, ich will Ihnen keine Molesten machen, Herr Malthus, obgleich ich weiß: Sie helfen ja gerne, denn hier springen die Goldfüchse herum wie die Flöhe in einer Infantriekaserne. Und weil das so ist . . .‹
Er war die verkörperte Wehleidigkeit.
›Und wie kann ich nützen?‹ fragte ich mit einem plötzlichen Unbehagen.
›Ganz einfach, Herr Malthus,‹ und mit einer scheußlichen Liebedienerei präsentierte er mir etliche Wechsel, die ich als die meinen erkannte, ›denn ich stehe doch 'nem soliden Mann und 'nem famösen Geschäft gegenüber. Kleinigkeiten, Herr Malthus!‹ und mit einem stillen und doch grausigen Behagen las er die einzelnen Zettel: ›fünftausend Taler, zweitausend und nochmals zweitausend, macht neuntausend Taler zusammen, und es steht nur bei Ihnen, ob Sie die Unterschriften als die Ihren anerkennen.‹
›Die Unterschriften sind richtig.‹
›Da wäre die Angelegenheit ja in der opulentesten Reihe, und da sie heute fällig geworden . . . Oder sollte ich mich täuschen, Herr Malthus? In diesem Falle natürlich bitte ich, mich exküsieren zu wollen.‹
›Nein, Sie täuschen sich nicht, Herr Jan van den Birgel. Aber auf welche seltsame Art sind diese Papiere in Ihre Hände geraten?‹
›In meine Hände? und seltsamer Weise . . .? Das ist meine Sache, Herr Malthus. Wechsel sind Wechsel. Die sind wie die Hasen. Bald im Kleefeld, bald im leckeren Kappes. Oder sind Sie anderer Ansicht? Das würde mir leid tun. Ich sollte doch meinen . . . ein Geschäftsmann wie Sie . . . kein Talmi . . . alles echt und gediegen . . . selbstverständlich ist somit auch Deckung vorhanden. Also wie steht's damit?‹
Seine Augenwinkel kräuselten sich.
›Ja, es ist Deckung vorhanden,‹ sagte ich prompt, obgleich ich das Gefühl hatte, als würde mir die letzte Messe gelesen.
›Da sehn Sie. Es wär' auch noch schöner, wenn so'ne grandiose Firma sich vor lumpigen neun- oder zehntausend Talers bange machen täte. Bei so 'ner Bagatelle gingen ja Honnör und Reputation zum Teufel, und es lachten die Hühner darüber. Immer nobel, Herr Malthus!‹
›Gut, ich werde morgen die Wechsel begleichen.‹
›Ich verstehe nicht richtig. Erst morgen? Erst morgen, Herr Malthus?‹
Wie im Handumdrehen hatte sich das Aussehen des Alten gewandelt. Der Kopf kroch in die Schultern zurück, die Lippen wurden schmal wie die eines Gehenkten und die ausgemergelten Finger zu scheußlichen Krallen, die mit der Gier eines Raubtieres die verhängnisvollen Papiere umgrapsten.
›I, den Zackerzucker noch mal! erst morgen, Herr Malthus?! Das ist wohl Ihr leibhaftiger Ernst nicht. Schon in Ihrem Interesse – das geht nicht, das geht absolut nicht. Man kann doch sein eigener Schinder nicht werden und den Kopf in den Sack fallen lassen. Machen Sie doch keine Geschichten, mein Lieber, sich selber für insolvent zu erklären. Da würden sich ja die Leute kugeln vor Wonne, wenn so was passierte. Nee, unter keiner Bedingung. Dafür sind Sie mir zu schade, Herr Malthus. Wechsel ist Wechsel, und ich für meine Person kann bis morgen nicht warten. Dafür habe ich meine Ehre im Leibe. Ich bin gewohnt, sachlich zu handeln. Meine Gläubiger sitzen zu Hause und wollen Bezahlung. Eher den Strick um den Hals, als mich für 'nen Lumpen taxieren zu lassen. Immer reine Bahn und ein nettes Gewissen. Das ist bei mir von jeher Regel gewesen. Keine Ausflüchte, wenn ich bitten darf,‹ und mit dem Gesicht eines Gerichtsvollziehers hielt er mir die fälligen Scheine vor Augen. ›Entweder das hier wird beglichen auf Heller und Pfennig und in sofortiger Stunde oder der Name Christian Franz Malthus wird in die Gosse geschmissen.‹
Ich mußte an mich halten, diesen Vertreter des Satans nicht niederzuschlagen. Aber meine Stimme begehrte auf wie die eines Ungerechten und doch Gerechten: ›Schweigen Sie, Jan van den Birgel!‹ und ohne mich weiter um den Menschen zu kümmern, betrat ich die Nebenkammer und tat, was die Stunde mir eingab: der Kasse, die meine Kasse nicht war, entnahm ich die neuntausend Taler und löste die Wechsel ein, von dem starren und unerschütterlichen Glauben durchdrungen: die erforderliche Deckung liegt bei Cornelis.
Und ich ging zu Cornelis – barhaupt und so wie ich war . . . noch richtig im Geiste und mir keiner Sünde bewußt, um gleich darauf . . . Zu meinem wilden Entsetzen fand ich verschlossene Türen. Cornelis war auswärts.
Das drehte mir die Welt aus den Angeln. Die Mühle wurde zu einem gewaltigen Unhold, zu einem Giganten, und suchte mich mit ihren Armen von der Koppel zu mähen. Mir war es, als stieße sich mir ein glühendes Schwert in die Seele, als stünde mir ein riesenhafter Kerl im blauen Kittel zur Seite, die Pfeife im Maul, Gamaschen an den groben Knochen, die Schirmmütze übergezogen und 'nen Metzgerdorn in der Hand . . . als nickte er höhnisch und frech . . . als schritte er durch den regengrauen November . . . durch die Grafschaften Kleve und Geldern . . . als schrie er lauthals: ›Achtung, die Herrschaften! Christian Franz Malthus streckte die Finger, Christian Franz Malthus hat seine Ehre vergraben, will ins Zuchthaus hinein, ins Zuchthaus nach Kleve . . .!‹
Vater im Himmel da droben! Das Hirn wurde mir zusammengehauen . . . und Cornelis war auswärts . . .
Als ich zu Hause ankam, empfing mich Simonis, dieses Mal amtlich und mit der verbindlichsten Güte. Es sei ihm verdrießlich, so meinte er, aber er habe Order bekommen. Geschäft sei Geschäft, und Dienst sei Dienst. Er könne nicht anders. Die Deichschöffenkasse sei ordnungsmäßig zu prüfen . . . und er als Revisor . . .
Die Dielen kamen ins Schwanken, die Mühle polterte wie von Geistern geängstigt . . . ›Achtung, die Herrschaften! Christian Franz Malthus . . .‹ und mit rohem Gesicht, die Pfeife im Maul, die Schirmmütze übergezogen, sah der riesenhafte Kerl mit dem blauen Kittel durch die angelaufenen Scheiben.
Das war das Ende.«
Sie las nicht weiter, überschlug nur die folgenden Sätze in rasender Eile, als würde ihr Geist von einem tollen Wirbel getrieben. Dann fuhr sie aus ihrer knieenden Stellung mit einem heiseren Schrei, der wie der Schrei einer von einer Kugel Getroffenen das fast eingedunkelte Zimmer durchgellte.
»Ja, das ist das Ende! Vorhang auf! Ich sehe die Szene, die abscheuliche Szene . . . und auf ihren Brettern: du und Simonis. Jetzt erst überschaue ich die furchtbare Tragik, stiere ich in das entstellte Gesicht eines verzweifelten Mannes, in das Grauen hinein. Vater, du liebster, du ärmster! Zwei Menschen, zwei hündische Menschen zwangen dich nieder, würgten dich, vergewaltigten dich, bis du die Unterschrift gabst, machten dich strafbar . . . und ich bin des einen Opfer geworden. Ich mußte, ich mußte. Mein Gott, nun verstehe ich alles!« und ihre Blicke schlossen sich, ihre Hände falteten sich, ihre Knie beugten sich: »O du – schuldlos, um doch schuldig zu werden! Und doch bist du ehrlich geblieben; denn ich sehe mit sehenden Augen und höre mit hörenden Ohren. Ich sehe das Opfer, das du darbringen mußtest, um deinen Namen rein zu erhalten, ich höre deine trostlosen Schreie, das einsame Stammeln, das Röcheln des Todes. O du schuldiger, schuldloser Mann! O du, der du mein Leben zerstörtest! Und dennoch: ich segne den Mund, der mich preisgab, und küsse die armen Hände, die mir das Heil brachten und dieses niederschrieben. Du Ärmster, du Treuer, du Guter!«
Dann aber: sie war wieder die alte geworden. Sie riß sich auf, und in der letzten kümmerlichen Helle des Sankt Nikolaus-Abends las sie den Ausgang, die feierlichen Sätze, die ihr wie aus der Ewigkeit zuriefen: »Dies mein Bekenntnis. Wäge und richte . . . aber nochmals, mit gestreckten Fingern und im Angesicht meines Verfalles und der ewigen Allmacht: ich weiß, ich machte mich sündig, ich zerbrach dein Glück, ich mordete deine Liebe – aber vor Gott und meinem Gewissen, im Andenken an deine selige Mutter – ich bin kein Verbrecher, ich bin dessen nicht schuldig, wessen die beiden Erpresser mich bezichten. Nur ein Schwächling war ich, ein Verstörter, ein Gewürgter, der die Kraft nicht mehr hatte, diesen Menschen die Schädel zu spalten. Und wenn ich auch fehlte, wenn ich auch tat, was vielleicht vor dem irdischen Richter als strafbar erscheint – Deckung war da . . . nur ein unheilvolles Geschick, ein Ungeheures, das blinde Walten der Stunde stieß mich in den Abgrund hinein, wo die Geier sitzen und die nächtigen Vögel . . . aber ich bin kein Verbrecher . . .
Des ist Cornelis mein Zeuge.
Und du – ich will es und fordere es in dieser Stunde von dir: Hingehen sollst du zu ihm – und mit erhobenem Haupte sollst du ihn ansehen – und die Frage sollst du ihm stellen: Hat dein Vater die Wahrheit gesprochen? Hältst du ihn schuldig? Darf Christian Franz Malthus als ein Gerechter wohnen im Jenseits? Darf ich, seine Tochter, die Stirn erheben wie in früheren Tagen und meinen Vater segnen mit der Herzenswärme des Kindes? Das frage – und ich habe meine Ehre wiedergefunden, von jetzt an bis in alle Ewigkeit, Amen!«
»Ich will!« und als trüge sie ein Sturmwind von hinnen, kaum, daß sie sich Zeit nahm, sich ein Tuch um die Schultern zu schlagen, des heiligen Abends und des zugeströmten Gesindes nicht achtend, eine wilde Qual und doch einen namenlosen Jubel im Herzen, verließ sie das Haus – schritt sie über den Deich fort – trieb sie in der Richtung zu der abgeschiedenen Mühle.
»Des ist Cornelis Höfkens mein Zeuge. Ich höre, Vater, ich höre . . .!«
Eine schneeweiße Feier! Keine Menschen ringsum . . . kein Leben . . . nur das Ächzen der bitteren Kälte und ein scharfes Gestiebe . . . und weit dahinten, ganz verloren und einsam: ein sanfter Lichtschein – das Licht, das sie suchte.
* * *