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Fünfundzwanzig alte, mächtige, sparrige Pappeln auf Reihe! Man konnte lange suchen, ähnliche zu finden, so trotzig ragten sie auf, so breitwipfelig und selbstgefällig liefen sie neben der wuchtigen Deichkrone her, die hier ihre größte Höhe erreichte, um dann wieder um etliche Meter abzufallen und in ebenmäßiger Weise ihren Weg nach Holland zu suchen. Und wenn der Sommerwind in ihren Laubmassen wühlte, wenn es heiß und dunstig in der Ebene herankroch und Gottes Licht wie ein gewaltiges Auge unter dem brandroten Himmel aufzwinkerte, dann begannen die alten Bäume zu rauschen, gewaltig und tausendzüngig, und sie erfüllten die weite Niederung mit ihren brausenden Stimmen. Fünfundzwanzig alte, mächtige, sparrige Pappeln im Wetterlicht, im Sommersturm – das gab eine Melodie wie selten zu finden . . . und die Leute in der kleinen Stadt hörten darauf und sagten: »Nu geht's los! Bei Malthus werden die Bäume lebendig. Sankt Florian, hilf uns!«
Heute standen sie wie angenagelt, rührten und regten sich nicht und schafften heimlich daran, ihre Knospen zu brechen und die stillen Zweige mit ihrem braungoldigen Grün zu umschleiern. Gottes Abendlicht hing zwischen den Ästen.
Hinter diesen Pappeln versteckten sich die beiden Mühlen, die hier vor dem Stauwasser lagen, das unter dem Namen Kalkflack aus der Gegend von Xanten und Alpen herkam, die Stadt umflutete, am Kesseltor sich wieder vereinte und jenseits der Schleuse in breiter und ruhiger Fläche dem Rhein zuströmte.
Gesondert von den Wassermühlen erhob sich das stattliche Wohnhaus mit seinen weitläufigen Mehl- und Getreidespeichern, ein massiger Bau von herrischer Eigenart, der erst vor sechs oder sieben Jahren, nachdem der alte einem großen Schadenfeuer zum Opfer gefallen, fest und bodenständig aus der Scholle gewachsen war. Mit seinen hohen Dächern und blanken Scheiben sah er nach der offenen Seite hin weit in die Gegend, über Schleusen und Deiche, Wiesen und Triften, bis dorthin, wo die blauen Wälder von Moyland und die leichten Konturen der Rheindämme der Fernsicht ein Ziel setzten.
Noch vor wenigen Tagen hörte man schon von weither das rege Treiben auf den Malthusschen Werken. Karren fuhren ab und zu, Korn wurde abgeladen und schweres Stückgut mit Kleie und Mehl verfrachtet, und wenn man an solchen Stunden auf dem breiten Wehr stand und in die Tiefe hinabsah, dann ward einem seltsam und schaurig zumute. Dieses Gepolter zwischen den Strebebalken, dieses Seufzen und Ächzen, dieses Rumoren und Gurgeln aus dem schäumenden Gischt heraus benahm den Atem und machte die Augen trunken; denn wenn die gigantischen Räder, die, nur durch eine schmale Wassergasse getrennt, ihre kreisende Bewegung vollführten, wie festgelegte vorsintflutliche Tiere die tobenden Strudel unter sich fortschaufelten, sich wechselseitig begeiferten und dumpf vor sich hin brummten – immer dasselbe, immer dasselbe, dann schlug einem das Herz bis in den Hals hinein vor Andacht und vor heimlichem Grauen . . . und dann hatte Christian Franz Malthus in der mehlüberstaubten Einfahrt gestanden, die Hände in den Hosentaschen, ernst und gemessen, an manchen Tagen mit gerunzelter Stirn und geballten Fäusten, aber immer Herr seiner Sinne und stets darauf bedacht, seinem Namen und seiner Arbeit Ehre zu machen.
Das war jetzt anders geworden, ganz anders. Die Mahlsteine ruhten, die gewaltigen Schaufler feierten, das Wasser lag wie tot und stierte bleiern aus der Tiefe herauf, denn ihr Herr und Gebieter lag mit spitzer Nase und bläulichen Fingernägeln auf seinem Paradebett, die Hände gefaltet, von Dämmerungen umgeben, neben sich eine brennende Wachskerze, von deren Messingleuchter ein Rosenkranz aus Pockholzkügelchen herabhing.
Christian Franz Malthus, genannt der ›Trumpfkönig‹, hatte ausgerungen. Morgen schon sollte er in die schwarzen Bretter hinein und in der Guten Stube aufgebahrt werden, wo er gerne in seinen Mußestunden verweilt, die lange Kalkpfeife geraucht und die schöne Glasservante betrachtet hatte, die eine Fülle köstlichen Delfter Porzellans enthielt. Das war nun alles vorbei und vorüber. Früher und heute! Gott ja! es hatte sich vieles verändert. Seitdem das große Schadenfeuer seine Kornspeicher heimgesucht hatte, als Nöte und Ängste kamen, seitdem seine einzige Tochter als Frau Simonis im Geldrischen wohnte und er immer und immer wieder seine traurigen und tiefdenkerischen Blicke auf Op gen Dort richten mußte, seit diesen Tagen war der knochenharte, spartanische, eigenbrödelnde Mann nur noch sein eigener Schatten geworden. Er arbeitete noch, aber diese Arbeit machte ihm keine herzhafte Freude mehr. Allwöchentlich spielte er mit seinem Kollegen Cornelis Höfkens, dem Spezereiwarenhändler Dores Schweißgut und dem emeritierten und fidelen Kappesbauer Pitt Lörksen sein Partiechen Solo im ›Dicken Tommes‹, allein auch hierbei wollte das richtige Behagen nicht mehr kommen, so daß er häufig ganz verloren ins Licht stierte, die meisten Stiche verpaßte und manches aufgelegte Trumpfsolo einfach in den Schornstein zu schreiben hatte. Dieses Sinnieren und Brüten wurde mit der Zeit immer schlimmer und bedenklicher, und da eines Tages . . . Es war am verflossenen Sonntag gewesen . . . er hatte noch an seiner Schreibkommode gesessen, stundenlang kalkuliert und gerechnet, das Niedergelegte kuvertiert und gesiegelt und es alsdann auf das sorgfältigste in ein Geheimfach seines Zylinderbüros verschlossen, als er plötzlich aufstand und mit dem Ausruf: »Es muß noch heute geschehen,« das Schriftstück zum Notar brachte, zurückkehrte und mit leuchtenden Augen seine Mühlen betrat, die unter der Sonntagsruhe lagen. Hier machte er sich an dem Gangwerk des linken Wasserrades zu schaffen, trat auf die Plattform, die über der Tiefe hing, und sang mit mächtiger Stimme den Kampf- und Weihegesang der christkatholischen Menschen, daß es weithin die ganze Gegend erfüllte. Gleichzeitig setzte sich das große Rad in Bewegung, rollte und schaukelte und übertönte mit seinem Rauschen und Schaufeln das gewaltige »Wir sind im wahren Christentum«, das aber schließlich so herrisch vorgebracht wurde, daß es sich siegreich behauptete und aufstieg wie ein Adler mit ehernen Schwingen.
Wie eine Jerichotrompete kam es von der Höhe herunter, schwebte es über den Wassern, marschierte es zu den Menschen – das Lied, das Lied! Und also tönte und klang es:
»Wir sind im wahren Christentum,
O Gott, wir danken dir!
Dein Wort, dein Evangelium,
An dieses glauben wir.
Die Kirche, deren Haupt du bist,
Lehrt einig, heilig, wahr.
Für diese Wahrheit gibt der Christ
Sein Blut und Leben dar.«
Dann verstummte es plötzlich; nur Rad und Wasser polterten weiter.
»Was los, was los?!« schrie Kosman Kraneboom, der Obergesell, aus seiner Kammer heraus, wo er seine Feierstunde verbrachte, stürmte vor, stoppte das Wehr ab und brachte das Gangwerk zum Stehen . . . und er fand, was er suchte. Mit eingetriebenem Schädel hing der Müller zwischen den Speichen, noch die stolzen Worte: »Wir sind im wahren Christentum« auf den blutleeren Lippen.
Bald darauf lag er in seiner abgeblendeten Stube zwischen den Kissen, gestreckt wie ein Pfahl, geworfen wie eine überständige Eiche im Winterwald. Kein Arzt konnte mehr helfen. Nur der junge Vikarius erschien, gab dem Todwunden die letzte Ölung und sprach die Sterbegebete. Dann ums Abendwerden . . . noch einmal kehrte das Bewußtsein zurück. Er rief nach Kosman, und als er mit diesem allein war, sprach er ihm zu und legte ihm eine dringliche Mission auf die Seele. Zwei Tage später war alles vorüber. Aber seltsamerweise, trotz der eiligen Depesche: Frau Simonis kam nicht und kam nicht. Da trat Kosman Kraneboom an den Toten heran, gebeugt und ganz durcheinander. Bekriegte sich aber und sagte mit zerdrückter Stimme: »Da muß was passiert sein im Geldrischen; aber sie wird schon kommen, die arme Franziska. Bis dahin bin ich der nächste dazu, dir den letzten Dienst zu erweisen. Im übrigen noch: was ich mir denke, darüber liegt Kirchhofserde. Jeder ist sein eigener Herr und Meister. Was er mit seinem Leben anfängt, das ist seine besondere Sache. Wir sind im wahren Christentum. Auch du. Daran darf keiner nicht rütteln. Malthus, ich schweige. Nur mit einem habe ich darüber zu reden. Gott sei deiner Seele barmherzig. Gehe hin zum ewigen Frieden; du verdienst ihn, denn dein Leben war Mühe und deine Seele war irre geworden vor lauter Bedrängnis. Keiner hebe den Stein wider dich auf. Wir alle sind sündig. Du noch am wenigsten. Gott wird gnädig sein. Amen.«
Hierauf machte er gegen den Abgeschiedenen das Zeichen des heiligen Kreuzes, drückte ihm die Augen zu und ging an die Arbeit.
Jetzt lag der Müller in königlicher Ruhe. Alles Leid war von ihm genommen. Die Mahlgänge feierten, die Wasser schwiegen; nur die braungoldigen Pappeln wisperten leise herüber. –
Wenn man von dem Höfkensschen Anwesen nach Op gen Oort wollte, mußte man die Wassermühlen passieren. So stakelte denn auch Jan van den Birgel schon geraume Zeit auf sie los, immer die große Einfahrt vor Augen, die, nachdem er den Kommunalweg hinter sich hatte, ihm wie ein unersättlicher Schlund entgegengespensterte.
Sie wurde immer größer und breiter. Der Abend kroch langsam in sie hinein, ließ aber noch so viel Helle übrig, daß man die Spinnweben, die von den schweren Balkenlagen wie zierliche Festons niederhingen, sattsam erkennen konnte. Mehr dem Inneren zu, zwischen dem Läutewerk, den hungrigen Trichtern und den verstäubten Mahlgängen, die aussahen, als wäre ein Rauhreif darüber gefallen, baumelte eine Messinglaterne, ein mattes Licht, unstet und fahrig, als schwebe der arme Geist des heimgegangenen Müllers zwischen Decke und Diele. Die nächste Umgebung stand unter dem verlorenen Schein dieser hängenden Leuchte.
Von dorther kam eine einsame und trostlose Stimme: »Herr, sei seiner armen Seele barmherzig!«
Mit wehem Ton zitterte sie durch die eingedunkelten Räume.
Und wieder klang sie: »Von den Schrecken der Finsternis – erlöse sie, o Herr!«
Die Stimme schwoll an, gewann einen zuversichtlichen Ausdruck und sagte: »Von ihren noch anhaftenden Sünden und den ewigen Strafen, die ihrer warten – befreie sie, o Herr!«
Eine wuchtige, schwerfällige, vierschrötige Gestalt, die auf einem Mehlsack gekauert hatte, erhob sich unter der Rübsenöllampe, langsam wie ein niederrheinischer Ackergaul von der Spreu, wie ein Gewaltiger aus dumpfem Traume heraus.
Es war Kosman Kraneboom, der Obergesell, das Faktotum der Mühle, die rechte Hand des Verstorbenen, der Sorger und Mühwalter, der Mensch mit dem reinen Gewissen, der nicht um Haaresbreite die Tafeln Mose außer acht gelassen hatte. Er war rein wie ein Kindergemüt, selbstlos wie eine Mutter, arbeitsam wie ein entmannter Stier im Joch. Die weißgesprenkelte Seidenmütze übergezogen, silberne Ringe in den Ohrläppchen, eine graumelierte Bartfräse um Backen und Kinn, gehörte er zu den Stillen im Lande. Er war ein Häuslerkind, auf dem Emmericher Eiland heimatberechtigt und mehr als dreißig Jahre im Dienst des abberufenen Mannes. Wer ihn ansah, freute sich über das Maß seiner Glieder, wer mit ihm zu tun hatte, wunderte sich über sein ausgesprochenes Gerechtigkeitsgefühl, wer aber den traurigen Mut fand, ihm an den properen Wagen zu karren, dem war es, als führe ihm Gottes Donnerwolke über den Schädel. Und dieser Kosman Kraneboom, dieser Insichgekehrte und Denker, wegen seiner vaterländischen Gesinnung auch der ›Preußen-Kosman‹ genannt, führte sein Gebetbuch mit den großen Lettern näher dem Licht zu und betete stärker: »Von dem nagenden Wurm des Gewissens – erlöse sie, o Herr! Befreie sie, o Herr! Mache sie rein, o Herr! wie ein Hemd auf der Frühlingswiese, auf daß sie eintriumphieren möge in den Garten deiner ewigen Freuden!« Und er streckte die Arme in das Dunkel hinein, und sein Schatten wuchs an der gegenüberliegenden Wand wie ein Zyklop auf. Er rief um Gnade für seinen toten Herrn und Meister wie der dürstende Hirsch nach der Quelle: »O du Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünden der Welt . . .«
»Herr erbarme dich unser!« nahm ihm plötzlich ein andrer das Wort von den Lippen.
Kosman fuhr auf und warf den Kopf herum.
»Wer ruft da, wer stört mich in meinem Gebet?«
»Ich habe mir die Ehre genommen.«
Ein Medaillenstab blenkerte auf, eine dunkle Gestalt trat näher heran. Jan van den Birgel war durch die Einfahrt getreten.
»Ich bin's.«
»Jetzt seh' ich's,« sagte Kosman Kraneboom und fuhr sich mit der borkenrissigen Hand über die ausgebleichten Augen. Gleichzeitig machte er eine abwehrende, stumme Bewegung.
»Gefällt Euch wohl nicht?!« meinte der Eindringling.
»Offen gestanden, es wäre mir lieber gewesen, Ihr wäret vorüber gegangen. Mit Euch und ähnlichen Leuten habe ich nicht gerne zu schaffen. Aber nichts für ungut, Jan van den Birgel.«
»Hm!« sagte dieser mit heiserem Lachen, »kann's mir schon denken. Ich und Simonis, wir zwei beiden . . .«
»Ja, ihr zwei beiden,« kam es bedrückt aus dem Munde des vierkantigen Menschen, »ihr habt schon 'ne gehörige Portion Dreck an den Schuhen.«
»Kosman!«
»Das habt ihr; denn wenn ich Euch sehe, muß ich an Simonis denken, und wenn ich mir Simonis vorstelle, dann ist es mir gerade, als erfröre mir das Vaterunser zwischen den Zähnen.«
»Das sind wieder so 'ne verfluchtigen Preußen-Gedanken.«
»Schon möglich, aber laßt man diese Gedanken in Ruhe, denn wer dem Volk diese preußischen Gedanken nimmt, der nimmt dem Volk seine richtige Andacht, der bricht ihm das Rückgrat. Solche Gedanken wecken Tote auf, machen klar und hellsichtig, haben Mist an den Füßen, sind wie Gebote des Herrn. Sie sagen die Wahrheit, denn seit dem Tage, wo Ihr und Simonis uns mit euren malproperen Fingern die niederträchtige Suppe anrührtet, ist der Müller sinnig geworden, war sein Schatten ohne Kopf, konnte er den gestrigen Tag nicht mehr finden . . .«
»Herr Jeses, der Brand! Das war 'ne ehrliche und rechtschaffene Sache. Bleibt mir mit dem Feuer vom Leibe! Feurio! Rein war's wie die Sterbekerze am Sarg unsres seligen Dechanten. Wer schickte es? Der liebe Gott hat's geschickt. Da kann niemand gegen an operieren. Das kam, weil's kommen mußte. Ihr aber, Ihr und Simonis, ihr trugt Pech und Schwefel herzu und mächtige Teertonnen und bliest in die Flammen, um euren eigenen Hammel zu braten, euern fetten, dickleibigen Hammel, und seit dieser Stunde wühlt so 'ne niederträchtige Maulwurfskreatur vor der Einfahrt herum, hier vor der Einfahrt. Jeden hellichten Morgen hat sie ihren infamen Hügel geworfen . . . und wißt Ihr, was so'n Hügel bedeutet?«
»Dummes Zeug und Unsinn bedeutet's.«
»Mensch – Ihr!« trumpfte Kosman Kraneboom auf, und tief in seinen verbleichten und ausgewaschenen Augen begann es zu leuchten. »Das ist ja, als täte ein Verrückter das Maul auf. Unglück bedeutet's, den Tod bedeutet's, und als die schöne Franziska, als sie sich dem Simonis verschrieb und den andern ins Elend hineinstieß, als sie hinaus mußte, als Gott und alle Welt in den Binsen versanken, da war's auch mit dem Müller alle geworden; denn wo war seine muntere Art geblieben? Abgehalftert wie'n spatlahmer Gaul. Und wo hatte er seine forsche Hantierung und barbarische Arbeit hingetan? Sucht auf dem Boden nach; da liegen sie beim alten Gerümpel, die konnten sich selbst auf Krücken nicht mehr weiter helfen, und so ist denn das Unglück gekommen. Das mußte gesagt werden, denn so was ist die preußische Wahrheit. Den Rest wißt Ihr selber. Das große Rad war barmherzig und hat ihn auf die Hobelspäne geworfen.«
Seine Worte verebbten, gingen unter in einem dumpfen Gemurmel.
Noch einmal flackerten sie auf.
Kosman Kraneboom streckte die Hand aus und sagte, den Blick eindringlich und scharf auf seinen Besucher gerichtet: »Geht weiter, Jan van den Birgel, sonst kann ich meine Andacht nicht finden.«
Zwischen den verstäubten Balken und Mahlgängen bewegte sich eine fühlbare Stille. Sie war plötzlich gekommen, ganz unerwartet, mit dem unheimlichen Schritt des Verhängnisses. Die beiden Menschen standen sich stumm gegenüber. Jeder von ihnen suchte die Gedanken des andern zu erraten. Sie waren wie angeschmiedet. Vieles ging ihnen durch den Sinn. Alle Begebnisse, die sich in den letzten Jahren auf den Wassermühlen abgespielt hatten, all das Sorgen und Ringen, die dunkeln Rätsel, die nebeneinander aufragten wie die düsteren Stämme in einem Föhrenbusch, zogen an ihren geistigen Blicken vorüber, als Kosman Kraneboom sich abwandte und wieder in sein monotones Murmeln verfiel, gleichsam, um den ungerufenen Gast aus der Einfahrt zu beten.
Aber der rührte und regte sich nicht, blieb, wo er war, und machte keine Anstalten, der dringlichen Aufforderung Folge zu geben.
Da drehte sich Kosman.
Seine Schläfen hämmerten. Mit einem energischen Ruck schob er seine Schirmmütze in den Nacken zurück.
»Ihr klebt ja wie Schusterpech,« sagte er hart und trocken. »Was wollt Ihr noch länger? Hier zwischen den Pfählen ist Sabbatruhe, Totenruhe. Ich will meine Überlegung haben. Drum sag' ich noch einmal: Geht weiter, Jan van den Birgel, sonst kann ich meine Andacht nicht finden.«
»Ihr Knüppel, Ihr!« fuhr der Gemaßregelte auf. »Ihr Knollfink von 'nem Herrgottsanbeter. Weiß der Deibel, was ihr Kerls nur habt, was euch in die Kaldaunen geschlagen! Erst der dämliche Windmüller mit seinen großartigen Redensarten, dann Ihr, dem toten Wassermüller sein Rosenkranzhanack! Das ist ja um die Kränke zu kriegen. Himmel, Herrgott und Motten!« und Jan van den Birgel stieß den Medaillenstab auf, daß davon ein unwirscher Klang durch die verlorenen Räume irrte. »Was fällt euch denn ein, mich hier zu kuranzen, Ihr und der Windmüller! Rutscht mir den Buckel 'runter, ihr alle zwei beiden! Was wollt Ihr überhaupt?! Ich bin hier im Amt, von der Kirche gesendet, Leichenbitter und so, und wer mir konträr ist, versündigt sich an Gott und der Auferstehung des Fleisches.« Seine Stimme schrumpfte zusammen. »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes,« sagte er leise. »Amen, Amen!«
»Wenn Ihr denn kommt als friedfertiger Mann, als Seelenbräutigam . . .«
»Als solcher bin ich gekommen,« sagte Jan van den Birgel.
»Dann allerdings . . . was wegen der Ordnung geschieht, soll in der Ordnung verbleiben. Also, ich bitte. Ich will, daß alles der Regel gemäß ist, denn ohne eine solche, sagt der Herr Vikar, bleibt das menschliche Tun nur Stückwerk und eine klingende Schelle.«
»Meine ich auch,« bestätigte der Alte. »Wenn einer so unter den Sargdeckel spazieren will, muß ihm das kommod gemacht werden, denn er hat noch 'ne lange Reise vor sich. Da muß einer fix bei der Hand sein und Sorge drum tragen. Ich meine: ist alles parat für den Freitag?«
»Alles,« versicherte Kosman mit langem Gesicht. Aus seiner Brust rang sich ein weher und verhaltener Seufzer.
»Und dann im Angesicht seines Sterbens,« fuhr Jan van den Birgel erhobenen Tones fort, »ich frage zum andern: Wer kleidet ihn ein?«
»Die Notnachbaren. Auch die Frau von Dores Schweißgut und Cornelis seine Aufwartemamsell wollen ihm die letzte Ehre erweisen. Die totale Aufmachung vom besten Ende weg. Am Kopfstück kommt 'ne zehnpfündige Kerze zu stehen.«
»Und wer balbiert ihn?«
»Schnurr Schnapp von der Waterkant.«
»Allerhand Achtung!« stellte der Leichenbitter ausdrücklich fest, »über alles Erwarten . . . der richtige Mann . . . und weil wir nu . . . ja, so . . . ich denke eben daran: Kosman, so um Kasper, Melcher und Balzer herum, wo die Tage schon 'nen kleinen Hirtzensprung machen und die Nächte 'nen kürzeren Atem bekommen, da bin ich dem Malthus selig begegnet. Er sah zum Gotterbarmen aus, so hatte der Mensch sich verändert. Wir verstanden uns schon lange nicht mehr und waren offenbare Gegner geworden, denn er war immer der unsinnigen Meinung, ich hätte ihm das Genick brechen wollen, obgleich ich für meine Person mich in vollster Unschuld befinde. Malthus hingegen . . . Indessen jedoch, er kloppte mir auf die Schulter, ganz honett und freundlich, und sagte: Wenn's so weit mit mir ist und der gefirnißte Deckel mit's silberne Kreuz mir näher ist als's Plafond, dann soll die Solopartie, worunter ich meine Kollegen Cornelis, Dores und Pitt verstehe, nach alter Sitte, Herkommen und Brauch, wie das die vornehmen Leute so in der Gewohnheit besitzen . . . Na, Ihr begreift mich schon, Kosman. Es ist nur von wegen dem Oldenkott Rippchentabak und den Kalkpfeifen. Selbstverständlich – prima Qualität. Auch die Fidibusbecher müssen parat sein, die mit den goldenen Rändchen. Alles auf's nobelste. Bestellt es an Kosman!«
Der Obergesell nickte wie aus einem dumpfen Brüten heraus.
»Dann bestimme ich hiermit . . .« und Jan van den Birgel hob den Sponton in die Höhe.
»Ich weiß, ich weiß!« fiel Kosman dazwischen. »Die Sache ist rund wie'n Mühlstein. Ich brauche nichts weiter. Alles meinem preußischen König, aber auch alles für den Bas. Was der ordiniert hat, das ist so heilig wie die ehelichen Bettposen. Jedem sein Recht. Dem wird Unterschrift und Siegel gegeben, selbst wenn ich's von einem Jan van den Birgel in Bestellung bekomme.«
»Schön so!« krähte der Alte in heller Genugtuung, ohne der bissigen Einschränkung auf die Spur gekommen zu sein. »Und jetzt noch 'ne Frage. Ist Simonis vorhanden?«
»Nein.«
»Und die Frau?«
»Ist da.«
»Wie lange schon?«
»'ne Stund' oder zwei.«
»Warum das – allein?«
»Ganz einfach,« sagte Kosman mit eingetrockneten Lippen und Augen, die wie Holzmulm phosphoreszierten, »sie pilgert von einem Sarge zum andern.«
»Was?!« schrie Jan van den Birgel. Bis ins Mark getroffen, mußte er sich an einem Mahltrichter halten.
»Simonis ist tot,« konstatierte Kosman mit einer Ruhe in der Stimme, die an den langsamen Gang einer Sterbeglocke erinnerte. »Und sie, was die Frau ist . . . kaum, daß sie ihn unter der Erde hat, muß sie nu ihren Vater begraben.«
»Kosman, Ihr seid woll . . .?!«
»Simonis ist tot,« klang es ihm mit der nämlichen unerschütterlichen Gelassenheit entgegen.
»Mensch!«
Jan van den Birgel war wie vor den Kopf geschlagen. Er konnte sich nicht mehr zurecht finden. Wie ein Blitzschlag aus heiterm Himmel war es ihm in die Glieder gefahren. Er sah Mücken, Kugeln, betrunkene Sterne. Die Welt schien ihm aus dem Senkblei gekommen. Alles um ihn taumelte, wankte. Nur einer nicht. Kosman Kraneboom kam nicht aus dem Lot, war der alte geblieben, zuversichtlich und bodenständig wie immer.
»Simonis, Simonis!« rief der Verstörte. »Ich verstehe immer Simonis!«
»Stimmt,« sagte Kosman.
»Herr Jeses!«
Jan van den Birgel suchte nach Worten. Erst fand er keine, schließlich fielen sie ihm brockenweise von den Lippen herunter: »Nicht möglich . . . noch vor wenigen Tagen . . . am verflossenen Freitag . . . 'nen Brief von Simonis . . . 'ne Bestellung an Lena . . . 'n feines Präsent . . . alles in Ordnung . . . er selber gesund wie'n Spiegelkarpfen im Wasser, wie'n Apfel am Baum . . . und nu . . . Mensch, es kann nicht seine Richtigkeit haben!«
»Es bleibt dabei,« sagte Kosman, ohne mit der Wimper zu zucken. »Simonis ist tot, tot wie'n altes Laken in 'ner Kirschholzkommode. Reineweg aus. Nichts mehr zu machen. So – und nu geht man nach Hause. Eure Mission ist zu Ende. Hier habt Ihr nichts mehr zu suchen. Aber zum Kalviner – zu dem geht Ihr nicht. Zu dem gehe ich. Noch heute, wenn Op gen Oort sich in seiner Abendruhe befindet. Das Weitere ist meine Sache. Und damit will ich mich empfohlen haben für heute. Da geht Euer Weg hin.«
Er hob feierlich die Hand. Sie wies auf die Einfahrt, wo der Westen noch mit seinen letzten verlorenen Lichtern spielte. Dann trat er wieder in den vollen Schein der Rübsenöllampe, stocherte den Docht hoch und fuhr mit erhobener Stimme in der Litanei für den Abgestorbenen fort, ohne sich weiter um den Leichenbitter und Simonis zu kümmern.
»Erlöse uns, o Herr, vor den Schrecken der Finsternis und den Gluten des ewigen Feuers! Herr, sei unsren Seelen barmherzig, auf daß wir teilhaftig werden der heiligen Gnade und der Anschauung Gottes! Herr, erbarme dich unser, Christe, erbarme dich unser!«
Sein Gebet war wie eine leuchtende Flamme. Sie drang durch die Wolken.
Jan van den Birgel stolperte ins Freie, verbaselt, zerrissen.
Über ihm lärmten die Elstervögel in den hohen Pappeln, wo sie zur guten Nacht bei ihren angefangenen Kugelnestern aufbäumen wollten.
Schrien sie nicht: »Simonis ist tot, Simonis ist tot?!«
Ja, das schrien sie, genau so, wie es Kosman Kraneboom getan hatte.
»Haltet die Mäuler!« lärmte Jan van den Birgel seinerseits zu ihnen hinauf.
Aber seine Stimme zerflatterte, verkroch sich, winselte am Boden.
Noch einen langen Blick warf er auf die Wassermühlen; dann umgriff er den Medaillenstab fester und trudelte über den Deich fort. Aber den letzten Gang, den er noch zu machen hatte, machte er nicht.
* * *