Joseph von Lauff
Sinter Klaas
Joseph von Lauff

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7

Sie stand in Weihrauch und Wolken, in einem aufdringlichen Duft nach Firnis und welken Blumen – abweisend, unnahbar und mit einem Ausdruck in dem schmerzentstellten Gesicht, den man bei jenen Frauen findet, die von sich sagen müssen: »Wir nahmen mutig ein leidenreiches Dasein auf, um Schlimmerem die Türe zu weisen. Leib und Seele gedachten wir dem Höchsten zu weihen und mußten sie dem Niederen geben. Nächtelang haben wir nach Erlösung gerungen. Sie kam nicht. Unsere Kämpfe sind vergebens gewesen. Es gab Augenblicke, wo wir zu verzweifeln drohten. Der Glaube an Gott ließ uns nicht gänzlich verkümmern. Wir hatten die traurige Pflicht, einem ungeliebten Mann anzugehören, und wurden so ein Opfer der Liebe. Das ist schlimmer als sterben. Es traten Dinge ein, denen man nicht nachspüren durfte, und Nächte kamen, die in Licht gebadet schienen und uns an jene Tage erinnerten, wo die Sinne erschauerten und wir wähnten, durch einen Sommer des Glückes zu schreiten – Erinnerungen, die zu schön waren, als daß sie wahr sein konnten, und die dennoch in der Wirklichkeit fußten; denn die Küsse flammten noch auf unseren Lippen, die wir in jenen heißen Stunden entgegennahmen und erwiderten. Sie machten uns zu Kelchen des Empfangens, zu Königinnen mit einem Kronreif im Haar, um uns gleich darauf wieder den zerschlissenen Mantel eines Bettelweibes um die schwachen Schultern zu legen. Der Schmelz unserer farbenschillernden Flügel ward von rohen Händen vernichtet. Die Leidenschaftlichkeit unserer Liebesglut ebbte zurück, verlief sich im Sande. Das große Sehnen und Suchen, das uns als Erbteil gehörte, aber keine Nahrung mehr fand, mußte verkümmern. Die Natur hatte uns geschmückt mit allem, um Liebe zu geben, um Liebe zu nehmen. Der Wunsch nach dem Mann war in uns. Wie der glückgesättigte Hauch sommerlicher Laubmassen, so rauschte es durch unser Sinnen und Hoffen. Wir waren wie die benedeiten Frauen, die dem Mysterium der Empfängnis entgegenharrten, und täuschten uns bitter. Wir breiteten die Arme, um mit dem Ersehnten himmlische Wonnen schon auf dieser Erde zu genießen, und ließen sie matt und gelähmt wieder fallen. So gingen wir durch eine endlose Wüste voller Spiegelungen, durch ein Land ohne Wasser. Wir dursteten nach einer lauteren Quelle und konnten die lautere Quelle nicht finden. Und die Nacht kam herauf, verschwiegen und von laulichen Winden durchzittert. Wir hatten nicht teil daran. Myriaden von Sternen glitzerten uns zu Häupten. Sie erfüllten unsere Augen mit Glanz, ohne unser Herz zu erquicken. Wir hörten nicht das Stammeln des Kindes, weil wir vor der Entweihung unseres Leibes bangten, denn ein Opfer zu bringen, ohne dieses Opfer mit aller Inbrunst der Freude darzubieten, ist Entweihung des Menschen. Schuldlos wie wir waren, waren wir schuldig geworden. So kam es denn auch . . . Das Brausen der Leidenschaften schläferte ein, verhielt den Atem, bis es schließlich gänzlich verstummte. So blieb es bis heute – und wird nicht wieder erwachen – nie wieder . . . Es sei denn . . .«

Franziska Simonis . . .!

Und sie stand in Weihrauch, in einem aufdringlichen Duft nach Firnis und welken Blumen – unnahbar wie eine Heilige, abweisend, ohne zu verletzen, eine Frau in Trauer, die ihr eigenes Leben beklagte und ihre Sinne gefesselt hielt, um sie nicht mehr von der Kette zu lassen. Und darin glich sie ihrer verstorbenen Mutter. Diese, aus gutem Hause gebürtig, strengen Gemütes und die engen Grenzen ihres ehelichen Wirkungskreises mißachtend, verlebte an der Seite des ihr aufgezwungenen Mannes farblose Tage. Zwei entgegengesetzte Naturen, sie: von dem Wunsche beseelt, aus kostbaren Schalen zu trinken, überempfindlich und sich nach Höherem sehnend, und er: aus grobem Holze geschnitten, ein Mann der Niederung, zugreifend, ernst und verschlossen, an Bildung des Geistes ihr nachstehend, so konnten sie eine ersprießliche Gemeinschaft ihres Daseins nicht finden und glitten auf diese Weise immer mehr auseinander. Nur die Tochter war Vermittlerin und Bindeglied zwischen ihnen geworden und blieb es, bis der Tod die Vereinsamte von ihren trüben Tagen erlöste. Der Durst nach dem Schönen, die Schwingungen einer trunkenen Frauenseele, das Abweisende und doch Anziehende, das schwarzblaue, wundersam gescheitelte Haar, die hohe Gestalt, das Sichverlieren in ihr eigenes Ich waren ihr als Vermächtnis der Mutter überkommen; doch als das Weib in ihr aufbegehrte, als sie wissend ward und ihre jungen Glieder in das Alter der Vollreife traten, brach auch ihre Welt zusammen, vereinsamte auch sie.

Sich wohl bewußt, daß der schlimmste Teil ihres dornigen Weges nun hinter ihr lag, blieb sie eingedenk ihres verlorenen Lebens und eingedenk des Betruges, den man an ihrem ureigenen Recht begangen hatte. Dennoch klagte sie nicht um ihr zertrümmertes Glück, war eine Abgeklärte, eine Dulderin, die den Garten Gethsemane gefunden hatte. Und so stand sie auch heute gefaßt und ergeben in den Willen des Herrn, hörte sie das geheimnisvolle Wispern verworrener Stimmen, vernahm sie das dumpfe Glockengeläut, das in abgemessenen Pausen herübertönte und wie eine graue See gegen sie anbrandete. Sie sah ihren Vater liegen, mit gefalteten Händen, jetzt friedlich und still und doch mit dem markanten Schmerz um die Mundecken, der ihr eine große Leidensgeschichte erzählte. Die Sterbegebete klangen ihr zu . . . und es war ihr, als sähe die Jugend sie an, als würde ihre tote Seele lebendig, als ginge sie wieder durch taufrische Wiesen, als genösse sie noch einmal die Stunde, in der ihre jungen, unbewußten Begierden erwachten, obgleich sie sich nicht verhehlen konnte: deine Liebe stirbt Hungers, und der Augenblick ist da, ihr die letzte Ölung zu geben – denn drüben an der Türschwelle . . .

Sie konnte nicht irren . . .

Seit Jahren hatte sie ihn nicht mehr gesehen, war sie nicht mehr daheim und auf den Wassermühlen gewesen, hatte sie es ängstlich vermieden, seine Pfade zu kreuzen, denn sie hatte sich richtig gesagt: Wenn du ihm wieder begegnetest, du müßtest in seine Arme hinein, müßtest sündig werden, das Brausen der erregten Sinne wäre nicht zu ertragen. Und das wollte sie nicht. Die ihr aufgezwungene Würde des Weibes ließ es nicht zu. Lieber das Schlimmste ertragen und geheiligt werden durch gemeinsame Leiden, als sich eingestehen zu müssen: Nun hast du auch deine Ehre verloren.

Jetzt stand der Tod zwischen ihnen, und im Angesicht des Todes verleugnete sie auch jetzt die Stimme des Blutes, aber nicht die ihrer Gedanken, die so ungestüm waren wie stoßende Falken.

Nur für die Flucht einer Sekunde begegneten sich ihre hungrigen Blicke, allein diese kurze Spanne genügte, sie mit Schatten kämpfen zu lassen, die sich allmählich inkarnierten und mit lichten Farben umgaben. Eine Wolke sank über ihre weitgeöffneten Augen, um sich gleich darauf wieder in ein Nichts aufzulösen. Man wußte nicht, ob Franziska Simonis in die Gegenwart schaute oder in die Tage zurück, die für sie voller Glanz und Sonnenschein waren. Nur sie allein konnte es wissen und dann noch der Insichgekehrte, der scheinbar ohne Teilnahme den Gang der heiligen Handlung verfolgte.

Sie atmete tief auf. Ihr steinernes Antlitz war noch abwendiger und härter geworden.

Ihr Leben und Lieben, ihr Dulden und Leiden zog an ihren geistigen Augen in raschen Bildern vorüber. Die Rückwirkung dieser Bilder machte sie wissend. Jahre, Monate, Tage wurden zu Minuten, zu flüchtigen Sekunden, und doch war jedes Bild, jede Szene von einer erstaunlichen Genauigkeit und Schärfe, so sauber und fein geprägt, als wären künstlerische Hände bei der Arbeit gewesen. Aus der Asche der verflossenen Zeiten hoben sich vereinzelte Funken, Funken, die hell wie der Tag leuchteten, und solche, die nur das matte Glänzen winziger Sternchen vortäuschten. Jeder Funke und jedes Fünkchen ein Erinnern, ein Offenbaren, ein liebes Gedenken oder ein namenloses Wehklagen – so stiegen sie auf, so glitzerten sie, so sanken sie nieder, um wieder still zu verlöschen.

Wie sie spielten, diese glimmernden Fünkchen!

Der Ton einer sanftangeschlagenen Glocke klang aus weiter Ferne herüber. Es war die Abendglocke, die den ›Engel des Herrn‹ läutete. Die Luft war klar wie Kristall. Ein roter Schein lag auf den Wäldern von Moyland. Durch die endlosen Wiesen schleppte sich ein stilles, verschwiegenes Wasser, das die Mühlen getrieben hatte und jetzt fromm und besonnen und an träumenden Gehöften vorüber dem Rhein zuströmte.

Da standen sie an einer seichten Bucht bei den Erlen, sie und der junge Gymnasiast, der seine Sommerferien daheim verlebte, dicht aneinandergeschmiegt und Hand in Hand – und sie küßten sich lange.

»Nun haben wir unser Geheimnis und unsre Liebe,« sagte er ganz benommen, während sie still vor sich hinweinte und sich in ihrem Glück nicht mehr zurecht finden konnte.

Die Dächer von Op gen Oort ruhten im letzten Schein der untergehenden Sonne. Die Scheiben brannten wie böhmische Granaten.

»Was werden die dazu sagen, Vater und Mutter?« fragte sie ängstlich, und ihre Blicke liefen verstört nach dem großen Gehöft, das in seiner ganzen Majestät und Selbstgefälligkeit sich den Purpurmantel des Westens um die starken Schultern legte. Zwei dunkle Vögel schwebten darüber hin und zogen Kreise um Kreise.

Er schwieg einige Augenblicke und warf ihre Hand aus der seinen. Ein Brausen und Stürmen war in ihm. »Müssen werden sie beide!« sagte er mit fliegendem Atem, und dann riß er ihren jungen Leib an sich und war wie betäubt von den Wundern, die bei ihm waren.

Und dichte Schleier zogen herauf und zerflossen wieder.

Eine glutheiße Kuppel lag über der Erde. Da machte er mit seinem Vater die verhängnisvolle Pilgerfahrt nach Marienbaum, um für seine Mutter zu beten. Mit dieser Pilgerfahrt wollte ihr Glück auseinander, denn als sie zurückkehrten, krampfte sich ihr Herz schmerzhaft zusammen, sagte sie sich: »Nun will für mich das große Bahrtuch herunter.« Die Jahre vergingen. Er war längst im Seminar, aber sie fühlte noch immer die heißen Augen, die nicht von ihr ließen und sie selbst im Traume verfolgten. Sie hatte alle Hoffnung aufgegeben und lebte nur noch ihrer aussichtslosen und trostlosen Liebe. Und da eines Tages . . . Es war wieder im Sommer. Der erste Schnitt war von den Wiesen herunter. Roggen und Weizen reiften der Sense entgegen. Der westliche Horizont glich einem Feuermeer, während der übrige Himmel schon langsam verblaßte. Die qualvolle Hitze, die tagsüber auf allem gelastet hatte, war von der Erde genommen. Taufrisch und kühl wehte es von dem blanken Wasser und den geschorenen Parzellen herüber. Da stand sie wieder an der seichten Bucht unter den Erlen, jetzt, wenn auch stiller und insichgekehrter, zur Jungfrau herangereift, die Taille schlank, die Hüften gerundet und die Brüste schön und kräftig gebildet. In ihren stahlblauen Augen, die zeitweilig eine dunkle Färbung annahmen, ruhte das Strenge, aber auch die Sehnsucht und das Verlangen des Weibes. Sie wußte, er hatte bereits die niederen Weihen empfangen und war jetzt seit einigen Tagen im Elternhaus, um sich für die höheren vorzubereiten. Immer mehr hatten sie sich aus den Augen verloren; nur nachts im Traume gingen sie Hand in Hand die alten Pfade und suchten die Stätten auf, wo sie einst glücklich gewesen. Das war alles. Sonst nichts mehr. Die Luft war regungslos, Blumen und Gräser schliefen, kein Laut ließ sich hören. Noch einen letzten Blick warf sie nach Op gen Oort, das wohlig zwischen seinen breiten Baummassen lag, und wandte sich zum Gehen. Der weiche Glanz des sinkenden Tages ruhte noch zwischen den Ackerfurchen oder verästelte sich mit den Zweigen der einsamen Erlen. Da war es ihr plötzlich . . .

Unvermittelt stand er neben ihr in seiner schwarzen Soutane, barhaupt, auf dem Hinterhaupt die bleifarbige, talergroße Tonsur, und mit glutenden Augen.

Mit einem Schrei fuhr sie auf, raffte ihr Kleid und stürmte landeinwärts.

Er aber . . . wie angeschossen bäumte er hoch, und seine Stimme flog hart hinter ihr her: »Franziska!«

Da blieb sie stehen, wie gebannt, wie angeschmiedet.

»Was willst du von mir?« fragte sie tonlos.

Mit einem Sprung war er bei ihr, hatte die Arme um ihren Nacken gelegt und sie an sich gezogen.

»Glaubst du denn, ich hätte dich jemals vergessen?« fragte er mit entstellten Zügen, »hätte mein Fleisch und meine Sinne abgetötet, als wäre ich in der Thebais gewesen? Ich nenne mich noch immer Hans Harkort und dich meine Liebe, um die ich schrie wie das Tier in der Wüste, wenn es nach Wasser ruft. Und jetzt bin ich hier. Damals . . . ich ging von Hause fort in der Absicht, über einen Friedhof zu gehen und eine Tote zu finden – und fand eine Lebendige.«

»Hans, dein Gelöbnis!«

Sie stemmte sich gegen ihn an und suchte aus seiner Nähe zu kommen.

»Nein!« wehrte er gebieterisch ab. Seine Stimme klang rauh. Eine brausende Leidenschaft machte jedes Wort zu einem glühenden Wesen, das sich in ihre Seele versenkte. »Wo denkst du hin? – Gehe nicht fort . . . bleibe hier . . . niemand hört uns . . . keiner sieht uns . . . fürchte dich nicht . . . Ich sage dir ehrlich: Kein Zufall brachte mich her. Ich bin um deinetwillen gekommen.«

»Hans, du bist in der Soutane, stehst unter der Satzung der Kirche, und deine Mutter sehnt sich nach Licht . . .«

»Und wenn sie durch ewige Finsternis schritte . . . mit dem heutigen Tage . . . wenn es nicht heute geschieht, gehe ich in der Brutstätte der Verzweiflung unter. Ich halt's nicht mehr aus! Das Schermesser reißt mir das Gehirn auseinander. Der Buchstabe tötet, nur der Geist ist lebendig. Sprich nicht . . . schreie nicht . . . komme näher . . . lasse mich an deinem Herzen gesunden . . . sage mir: Willst du mich hören, Franziska?«

Mit einem wehen Laut ließ sie ihre Arme sinken und flüsterte leise: »So sprich! Was willst du mir sagen?«

Alles Blut war ihr vom Antlitz gewichen.

»Du bist schön geworden, Franziska,« hauchte er leise, indem er versuchte, seinem Stürmen und Drängen Gewalt anzutun. »Dein Haar ist wie ein dunkles Vlies, und dein Leib ist wie der, von dem uns das Hohe Lied Salomonis berichtet. Du bist eine Blume zu Saron und eine Rose im Tal. Dein Hals ist wie der Turm Davids mit Brustwehr gebaut, daran tausend Schilder hangen und allerlei Waffen der Starken.«

»Hans, höre auf!«

Sie wand sich in seinen Armen, ohne aus seiner Umstrickung zu kommen.

Immer fester zog er sie an sich.

Seine Worte wurden heißer und eindringlicher. »Ich wollte, daß du sagen möchtest,« fuhr er mit erstickten Lauten fort, »seine Linke liegt unter meinem Haupt, und seine Rechte herzet mich. Meine Liebe ist stark wie der Tod und ihr Eifer fest wie die Hölle. Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn. Franziska!« – und ihren Mund mit heißen Küssen bedeckend, stammelte er ihr trunken ins Ohr: »Die Stunde ist da. Ich muß dein Jawort haben oder du siehst mich nicht wieder.«

»Was machst du aus mir?!« schrie sie auf. »Was soll aus uns werden?!«

»Aus mir?!« klang es ihr zu. »Drei Jahre hindurch ertrug ich die entsetzlichsten Qualen. Drei Jahre hindurch knechtete ich meine rauschenden Sinne. Drei Jahre hindurch . . . Ich ertrag' es nicht länger. Die niederen Weihen verpflichten zu nichts, bringen mich nicht mit der Kirche und Gott in Konflikt. Mein Gewissen ist rein, und hier die Tonsur – das Schermesser soll sie nicht mehr berühren, und hier die Soutane – ich werfe sie von mir. Vor Gott und den Menschen – ich will in die Welt zurück, ich will ins Leben zurück. Mir ist alles ein Tun. An deinem Herzen, in deinen Armen . . . für immer und ewig . . .

Er umgriff ihre Gelenke, ihren armen Leib und drückte ihn aufs feuchte Gras in die Knie.

Seine Stimme rollte über sie fort.

»Willst du, Franziska?!«

Da riß sie sich auf, umschlang seinen Nacken, preßte ihren heißen Mund auf den seinen.

»Nimm mich, Hans! Ich will ja, ich will ja!« und er sah es ihr an: sie war bereit, an seiner Seite um ihr Heil und ihr Dasein zu kämpfen.

Fest aneinandergeschmiegt, über sich den Stern ihrer Liebe und um sich die Stimmen des laulichen Abends, gingen sie durch die eingedunkelten Wiesen. –

Andern Tages trat er entschlossenen Sinnes vor seinen Vater – drei Tage später war er verflucht und enterbt – und eine Woche darauf wurde der Alte begraben. Kurz nachher fiel sein Bruder einer Dreschmaschine zum Opfer. Über Op gen Oort senkte sich der Moder des Friedhofs. Die Äcker brachten keine dreißigfältige Frucht mehr, Knechte und Mägde lebten in gemeinsamer Kammer, das Vieh darbte, und die fetten Schollen verkamen. Die Menschen aber, die in der Niederung ihre Felder bebauten, sahen ihn traurig an, weil sie ihn für einen Entehrten, für einen Abtrünnigen hielten, schüttelten die Köpfe und sagten: »Der von Op gen Oort ist ein Kalviner geworden.« Nicht böswillig geschah es, sondern aus Mitleid; denn sie hielten ihn für den alleinseligmachenden Glauben verloren und das Heil seiner Seele gefährdet. Die Einsichtigen aber dachten anders darüber. Sie wünschten ihm Glück, sprachen ihm zu und priesen ihn und Franziska wegen ihrer erprobten Ausdauer und Opferfreudigkeit. Es sei gewiß: die Zukunft müsse sich ihnen sonnig gestalten, und so gingen die beiden still ihres Wegs und glaubten, aus dem Schweigen des Todes wüchsen für sie die Stimmen des Lebens, bis das Entsetzliche geschah, der eigene Vater den goldenen Tempel ihres Glückes zerstörte und ihr das grauenvolle Wort ›Assisen‹ vor die Stirne hämmerte. Sie wußte damit nichts anzufangen, obgleich sie in ihrer tiefen Heimsuchung fühlte: hier brütet ein Unheil. Der Vorhang zerriß, und der siebenarmige Leuchter, der sich eben anschicken wollte, ein sanftes Licht um ihr hartes Dasein zu spreiten, lag zertrümmert am Boden . . . »Hans, ich werde gezwungen, das Weib des Simonis zu werden . . .« Da streckte er die Arme gen Himmel, um wie ein totes Stück Holz zusammenzubrechen.

Die Bilder zergingen.

Die Sterbegebete nahten sich ihrem Ende.

Der Weihrauch umnebelte ihre Sinne. Das schien ihr erträglicher als das brutale Wachsein des Geistes. Wer so einschlafen könnte, um nie mehr aufzustehen! Der Gedanke an den Tod hatte sie ergriffen. Sie sah sich bereits zwischen den schwarzen Brettern liegen, und die Worte, die dumpf und nur halb verständlich an ihr Ohr schlugen, geleiteten sie vor den ewigen Richter. Und dennoch – sie kannte keine schwächlichen Anwandlungen.

Trotz der feierlichen und erhebenden Handlung – aller Augen waren auf die ernste Frau gerichtet. Wie war das nur möglich gewesen? Sie und Simonis! – und nun war auch dieser Mensch hingestreckt worden, wie mit 'ner Bouteille erschlagen – dieser Egoist mit dem brutalen Körper und dem noch brutaleren Gewissen, dieser selbstgefällige Großtuer mit dem verborgenen Leben voller Pläne und Eigenmächtigkeiten! – und sie steckten die Köpfe zusammen, munkelten heimlich, um dann wieder über das verglaste Gesicht des Verstorbenen hin nach der hohen Gestalt in Trauer zu sehen, die ihresgleichen nicht hatte unter denen, die am Niederrhein wohnten.

Keine regelmäßige Schönheit war diese Franziska Simonis, aber gebietend und mit einem Zauber umgeben, den man nicht wieder loswerden konnte. Immer wieder fesselte sie – diese Frau mit dem straffgerichteten Körper, dem blauschwarzen Haar, das dem Schmelz eines Rabenfittichs ähnelte, den Augen, die in ihrer stählernen Färbung und dem verlangenden Feuer in der Tiefe den Himmel auf Erden verhießen, jetzt aber ins Leere sahen, ins Nichts, als hätte Gottes Wille ihnen den Glanz und die Freude genommen. Ihr ebenmäßiger Leib rief nach dem Künstler, ihn in Stein zu metzen oder aus Bronze zu gießen. Etwas Großes, Bedeutsames wäre seinem Meißel entsprungen, etwas von dem, was die Alltäglichkeit nicht kennt, was erhebt und in die Knie zwingt. Selbst die Asketen und Barfüßermönche hätten, ohne schuldig zu werden, sich ihr zugekehrt, um sich ihres Bildes zu freuen. Unangetastet war sie geblieben. Der goldene Reifen hatte ihr gar nichts genommen, denn als sie heiraten mußte, gehörte sie nicht mehr zu denen, die nach einer Liebesnacht bangten. Da war ihre Kammertür nicht sperrangelweit offen, sondern blieb zu und verriegelt. Die Ehe sagte ihr nichts. Sein Pochen öffnete nicht. Sie versagte sich ihm und teilte nur die gemeinsamen Sparren mit ihm und die gemeinsamen Tagesstunden und das gemeinsame Tafeltuch, sein Weib zwar, aber ohne die Heimlichkeiten und die Wohlfahrt des Weibes gefunden zu haben. Sie blieb, wo sie war, in Ruhe und Kälte, sorgte und schaffte und hielt das große Anwesen aufrecht, aber alles nur, um das drohende Verhängnis von der Seite ihres Vaters und der Schwelle des elterlichen Hauses zu scheuchen.

Sie schauderte.

»In nomine patris et filii et spiritus sancti!«

Ein Weihwassertropfen benetzte sie. Die eisige Kühle schreckte sie auf. Kalten Blickes und doch mit verzehrendem Mitleid sah sie über den Sarg fort. Sie hatte vergeben; sie hatte dem verziehen, der das Weib in ihr geknebelt und es, wenn auch unter den schwersten Qualen und Gewissensbedenken, entstellt und vergewaltigt hatte. Ja, sie hatte vergeben, und ihr Geist nahm den des Verstorbenen bei der Hand und geleitete ihn bis dorthin, wo die Himmlischen in der Anschauung Gottes verharren.

Die Stimme des Dechanten erhob sich.

»Lasset uns beten! Wir bitten dich, o Herr, verleihe der Seele deines Dieners die Nachlassung aller Sünden, damit sie die Verzeihung, die sie immer erflehte, durch fromme Fürbitte erlange. Der du lebst und regierst von Ewigkeit zu Ewigkeit. Herr, gib ihr die ewige Ruhe!«

»Und das ewige Licht leuchte ihr!« respondierte Andreas Lobbers. Seine Stimme war mild und gütig und kam wie aus dem Himmelreich.

»Lasse sie ruhen im Frieden!«

»Amen!«

Eine Bewegung trat ein.

Noch einmal begegneten sich beider Blicke. Da fuhr er auf wie von einer Peitsche getroffen. Dann ging sie den nämlichen Weg zurück, den sie gekommen war.

Die Träger traten hinzu, und als der Sarg geschlossen wurde, standen die drei von der Solopartie wie kranke Hühner nebeneinander, ließen einen Seufzer um den anderen fahren und sahen steif in ihre Hüte hinein, als wäre auf deren Boden Trost und Ergebung in den Willen des Allerhöchsten zu finden.

»Nun geht er von uns,« sagte Cornelis Höfkens in tiefer Bedrängnis, wobei eine große Träne in den Zylinder hineintropfte.

»Immer leschär!« meinte Trumpfsieben.

Seine Stimme knickte ein wie der Stengel einer weißen Lilie.

Grünober schluchzte wehmütig auf, stieß seinen Nachbar sanft in die Rippen und raunte ihm zu: »Pitt, um die Wahrheit zu sagen: sein Münsterländer Korn von Josias Schwerdrupp aus Rheine war delikat und 'ne Aufmachung für sich. Ich kenn' das als Kolonial- und Schnittwarenkaufmann. Der rekolljiert und ist bekömmlich gewesen.«

Seine Kollegen nickten ihm Beifall zu und fuhren sich mit ihren schwarzen Baumwollhandschuhen über die kummerroten Gesichter.

»Et lux perpetua luceat ei!«

Das Kreuz hob sich auf. Der Weihrauch dampfte, und während sich das Trauergeleit ordnete und die Kränze hinausgetragen wurden, nahm Andreas Lobbers im Vorübergehen die Hand seines Freundes und früheren Mitseminaristen und sagte: »Hans, ich möchte dich gelegentlich sprechen.«

»Du – mich, den Kalviner?«

»Hans,« sagte der junge Kaplan eindringlicher, »ja, ich möchte dich sprechen. Wann bist du zu Hause?«

»Für dich . . . für dich immer, Andreas,« kam es traurig zurück.

»Gut, du wirst von mir hören.«

Die monotonen Gebete setzten von neuem ein, und unter dem dumpfen Gemurmel des Wechselgesanges wurde Christian Franz Malthus, der Mann mit der ehernen Stirn, der Dahingestreckte mit der unheimlichen Faust an der Kehle, von seinem stolzen Besitz und den Wassermühlen getragen.

* * *


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