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Würdig, zeremoniell und der Reihe nach, so wie sie es beim Frühschoppen im ›Dicken Tommes‹ verabredet hatten, traten sie ein.
Zuerst der Matador.
Cornelis Höfkens war Weihe und Andacht. Wie am Begräbnistage, als er seinem heimgegangenen Freunde und Kollegen die letzte Ehre zu erweisen hatte, trug er auch heute seinen schwarzen Bratenrock, der sich auf dem stattlichen Bäuchlein etwas straffte und strängelte. Der frischaufgebügelte Zylinder, dessen Rand er mit beiden Händen gegen die knappe Weste gepreßt hielt, drohte wie ein blankes Kanonenrohr ins Zimmer hinein. Das sanfte Licht der feinnäselnden Lampe machte ihn strahlen. Die Hasenpfötchen des korrekten Mannes verliehen dem etwas verschwommenen Antlitz eine gewisse Reserve.
»Guten Abend allerseits!« sagte er freundlich.
»Herzlich willkommen, Herr Höfkens!«
Grünober rückte nach.
Wie die mageren Jahre in ägyptischen Landen erschien Dores Schweißgut neben seinem Solokollegen. Der baumwollene Regenschirm mit der schön aufgemunterten Messingkrücke unter dem linken Arm, im Glanz des stärkeblauen Schemisettchens, das bei jeder Bewegung wie ein Kienfeuerchen knisterte, und den sich nach oben verjüngenden Zylinder wie eine Opferschale vor sich hertragend, folgte er den Spuren des behäbigen Windmühlenbesitzers. Sein Gesichtsausdruck erinnerte an den eines gutmütigen Hammels.
»Guten Abend, die Herren!«
Die vorgetragenen Worte zogen sich so sanft in die Länge, als sollten sie eine Ewigkeit währen.
»Herr Schweißgut, was verschafft mir die Ehre?«
Grünober räusperte sich, ließ die Opferschale herunter, umschleierte die Korinthenäugelchen und meinte: »Herr Harkort, um die Wahrheit zu sagen – darüber wird mein Freund Herr Höfkens befinden.«
»Ich bescheide mich, mein werter Herr Schweißgut.«
Grünober nickte.
Hinter ihm war ein versonnenes Pfeifen wie das eines Kanarienvogels, der in eine lauliche Abendstunde hineindämmerte.
»Bruder, trink' einmal, du bist ja noch so jung,« klang es munter herüber, und ein purzelndes Kerlchen, fünf Käse hoch, mit Quäkerbart und vivem Kartoffelgesicht, den Rand des Zylinders wie zum Salut an den rechten Ohrlappen führend, trudelte ins Zimmer.
Fixbeinig pflanzte sich Pitt Lörksen bei seinen Freunden auf, dienerte dem Hausherrn und dann dem jungen Kaplan zu und sagte: »Tag, Herr Harkort! Tag, Hochwürden! Wie geht es, wie steht es? Immer leschär, meine Herren! Molliges Wetter da draußen, mit 'nem richtigen Vivatgesicht. Fein das! aber zackerzucker noch mal, Höfkens, worauf wartest du noch? Cornelis, beginne!« und da machte der Angerufene Anstalten, das im ›Dicken Tommes‹ reiflich Überlegte und Beschlossene an den zuständigen Mann zu bringen, trat etliche Schritte vor und sagte: »Herr Harkort . . .«
Der Gutsherr unterbrach ihn mit einer leichten Handbewegung.
»Ihre Angelegenheit ist privater Natur, mein Verehrter?«
»Allerdings«, entgegnete Höfkens.
»Gewiß,« pflichtete ihm Dores Schweißgut bei.
»Äußerst privatim,« sagte Pitt Lörksen.
»Dann möchte ich vorschlagen, fragliche Angelegenheit bei einem Gläschen Wein zu erörtern.«
»Wie Sie bestimmen, Herr Harkort.«
»'ne Idee,« schmunzelte Grünober und stellte seinen Baumwollenen in eine verschwiegene Ecke.
»Ganz meine Ansicht,« konstatierte Trumpfsieben, schaukelte sich vom linken Bein auf das rechte und stülpte seinen etwas zu engen und fidelen Zylinder auf die schöne Glasservante, während Herr Harkort die Klingel in Bewegung setzte und dem dienstfertig erscheinenden Mädchen befahl, etliche Flaschen Balwiger Herrenberg, Wachstum Amtsgerichtsrat Zenz, und die hierzu gehörige Anzahl Gläser aufzutragen. Nachdem dieses geschehen und eingeschenkt war, die Herren sich gesetzt und angeklingt hatten, hob sich Cornelis Höfkens schwer aus der ihm angewiesenen Sofaecke heraus, stemmte die Knöchel seiner wohlgerundeten Hände auf die Tischdecke, plinkte seinen Freunden zu und sagte dann mit einem elegischen Augenaufschlag, wobei seine Hasenpfötchen sich merklich in die Länge zogen: »Herr Harkort, es gibt Umstände im menschlichen Leben, die sich alleweil auf verschiedenen Kleiderhaken befinden. Ich meine das bildlich, um mich deutlich zu machen. Hier wird gelacht und gejankert und der sogenannte Stöpsel aus 'ner Champagnerbouteille gezogen, und dort wird Nagel um Nagel in 'ne Totenkiste gerammelt. Gerade wie's kommt; aber warum dies geschieht, vermögen wir nicht zu ermessen, denn des Herrn Beschließungen und Gebote sind unergründlich wie die Tiefen des Meeres.«
»Gut,« nickte Grünober.
»Sehr gut,« ergänzte Pitt Lörksen.
Höfkens fuhr fort: »Letzteres, ich meine das mit dem Sarg- und Nagelgekloppe, ist Herrn Christian Franz Malthus begegnet, unserm Freund, unserm Gönner, unserm Solokollegen, und wir stehen an seinem frischaufgeworfenen Grabe wie verschüchterte Amis. Fehler hatte der Mann, denn wir alle ohne Ausnahme sind mit dieser Sünde behaftet; aber alles in allem genommen: er ist wie 'ne schmiedeeiserne Säule durchs Leben gegangen, properen Herzens und pielgerade aufrecht, schmucker und reiner als die Auserwählten und Strammen der Kirche, die jeden Morgen 'ne Frühmesse hören, um mittags schon andermanns Glück zu verbiestern, und wer es wagen sollte, gegen ihn den Stein zu erheben, der bekommt es mit Cornelis Höfkens zu schaffen. Trinken wir auf das überirdische Wohl und die ewige Ruhe von Malthus!«
Und da erhoben sich alle, stießen an und tranken und setzten sich wieder.
Cornelis sprach weiter, und seine Blicke legten sich liebevoll um den Gutsherrn, der still vor sich hin sah und spielend den Fuß seines Glases umfaßte. »Gewiß, Herr Harkort, Ihre Gefühle werden Sie strenger bemessen und nicht verstehen können, wie das alles passiert ist. Sehr begreiflich, Herr Harkort, und ich selber habe mir schon Tage und Nächte hindurch darüber besonnen, wie Malthus sich Ihnen gegenüber nur so rätselhaft herausmustern konnte. Indessen jedoch, was immer geschehen ist – darüber wird sich die spätere Zeit noch erweisen. Noch lebt ein Herrgott im Himmel, und so viel kann ich sagen: Sie sind sein Höchster gewesen. In diesem Falle natürlich: Malthus sein Höchster. Leider, er konnte nicht so, wie er wollte, denn da liegt irgendwo eine dumpfe und stumpfe Geschichte begraben, die ihm den Gang zum Ostersonntag verlegte. Das machte ihn hilflos. Auf Parol, Herr Harkort, das mußte ich mir von der Seele reden, um unser Anliegen unter den richtigen Mahlstein zu bringen,« und er wandte sich mit einem Diener an Grünober und sagte: »Dores, nun kommst du an die Reihe.«
Und Dores Schweißgut erhob sich.
»Herr Harkort,« begann er, »nachdem mein Freund Cornelis sein Wort getan und die Einleitung von's Ganze in sachlicher Weise anpräsentierte, melde ich mir zu's Wort, um den mittleren Aufsatz zu bringen. Herr Harkort, um die Wahrheit zu sagen . . . im ›Dicken Tommes‹ am Markt, in der Wirtsstube links, am hintersten Fenster und ungefähr dort, wo sich der schön gepottlote Kanonenofen befindet, erhebt sich ein runder Tisch, der größte von allen. So 'ne Art von Nußknacker mit eichenen, handfesten Beinen, an welchem sich, meinetswegen, um die Wahrheit zu sagen, schon von Anno Tobak her unsere Sologesellschaft insinuiert hat, bestehend aus mir, Cornelis Höfkens, Pitt Lörksen und Malthus, Gott habe ihn selig! – und Jahre hindurch haben wir an ihm unsere gemütlichsten und erhabensten Stunden verbrochen, alle Festivitäten begangen, Königsgeburtstag gefeiert, Karten gespielt und unsere politischen Morgenschoppen verzehrt und uns immer wohl und gediegen befunden, ohne dabei Mensch und Vieh zu belästigen und gegen den christkatholischen Standpunkt zu reden. Augenblicklich jedoch ergehen wir uns in 'ner schlimmen Verfassung, denn der vierte Mann fehlt, und daß solcher wieder eingebracht werde und die Gesellschaft weiter floriere, darauf wollen wir unsere Gläser erheben.«
Und da standen alle auf, klingten an, tranken und setzten sich wieder.
Und Dores warf einen vielsagenden Blick auf Trumpfsieben und sagte: »Pitt Lörksen, nu kommst du an die Reihe.«
»Meine Herren, Hochwürden, Herr Harkort!«
Da stand er, der kregele Kappesbauer und Schnapsbrenner a. D., selbstüberzogen und selbstgefällig, als wenn er sagen wollte: »Kinder, paßt Achtung, jetzt kommt der Clou von der ganzen Geschichte,« grandios wie ein aufgeplusterter Misthahn, im Angedenken an den verstorbenen Malthus wehleidig überzuckert, im Hinblick jedoch auf das neuzukürende Mitglied der angeknabberten Solopartie von einer würdigen Spendierkraft durchzittert, als sei es ihm vergönnt, eine Grafschaft oder gar ein Herzogtum mit allen Gerechtsamen, Ehren und Ämtern zu vergeben.
Mit gestrecktem Hals sah er um sich.
»Meine Herren, Hochwürden, insbesondere hochverehrter Herr Harkort! Wir beide, Sie und ich, wir sind von jeher in ein und derselben Hantierung gewesen: Landmänner, prächtige Landmänner, wenn auch nicht komplett von der nämlichen Sorte. Ich für meine Person hab's mit Kartoffelbrennen und mit die Kappesfelder gemacht, mit die roten und weißen, und es waren meistens ganz opulente Köppe darunter, Sie hingegen mehr in nobler Weise und zwar mit Roggen und Weizen und mit die Mastochsenwirtschaft. Aber das Geschäft ist dasselbe, und weil es so ist, spreche ich als Ökonomiker a. D. zu dem Ökonomiker in vollen Kulören und vertrete die Meinung, die Sache wird rollen wie dem Juden Spier seine Hammelwägelchen zwischen Wissel und Kalkar.«
»Bravo!« sagte Cornelis Höfkens.
»Bravissimo!« pflichtete ihm Dores Schweißgut bei, und der salbungsvolle Herr legte sich befriedigt in den Korbsessel zurück, schlug die endlosen Beine wie ein Paar Waschhölzer übereinander und kniff die Korinthenäugelchen vergnüglich zusammen, gleichsam um anzudeuten: »Man weiter so, Lörksen! Die Sache befindet sich in den richtigen Händen.«
Andreas Lobbers griemelte still vor sich hin.
»Herr Harkort,« fuhr Trumpfsieben mit erhobener Stimme unbeirrt fort, »wir zwei beide befinden uns gewissermaßen in demselben Apartemang, und was wir als Landmänner vorstellen, dagegen sind alle Kolonialwarenhändler zusammengenommen nur als unbewußte Faktotums einzukaufen. Aber nichts für ungut, mein lieber Herr Schweißgut. Du weißt ja, wie es gemeint ist, und daß die Kolonialwarenhändler auch ihre ihnen zukommenden Verdienste besitzen, zum Beispiel mit's Rechnen, mit's Abwiegen und mit die kaufmännischen Präpositionen. Besonders du als Präside der hiesigen Ladenbesitzer. Sie aber, Herr Harkort, Sie haben Aufmunterung nötig, Sie müssen sich wieder unter anständigen Mitkomparenten bewegen, Sie müssen sich abermals mit's pläsierliche Leben befassen . . . und Sie können das haben, täglich und stündlich . . . und wenn Sie mich fragen: Wo ist solches zu holen? so sage ich Ihnen: Kommen Sie zu uns, tun Sie Ihren Gefühlen keinerlei Zwang an, denn Sie sind für geeignet befunden, uns als Ressource zu dienen, und wenn auch vereinzelte dämliche Menschen Ihnen den sogenannten ›Kalviner‹ angeklebt haben, wir sind ganz konträriger Meinung und haben in heutiger Sitzung, abgehalten beim Frühschoppen im ›Dicken Tommes‹ am Markt und am hintersten Stammtisch, einmütig und aus voller Überlegung beschlossen . . . Cornelis, nun bist du wieder an die Reihe gekommen. Immer leschär, meine Herren!«
»Herr Harkort,« und Cornelis Höfkens wuchtete sich aufs neue aus seiner behaglichen Sofaecke, »ja, Herr Harkort, in diesem Sinne, Herr Harkort! Ich als Matador, Dores Schweißgut als Grünober und Pitt Lörksen als Trumpfsieben, wir sind uns unisono schlüssig geworden, Sie zu bitten, Mitglied der Sologesellschaft zu werden, ihr zu dienen, ihre Interessen zu fördern und sich als Nachfolger des seligen Christian Franz Malthus betrachten zu wollen. Herr Harkort, tun Sie ein übriges, schlagen Sie ein, und ich und meine Mitkomparenten würden sich freuen. Ja, wir würden uns freuen, ich und der Stammtisch, denn mit Ihrem Eintritt wäre ein frisches Säkulum und eine neue Sommerblüte für den ›Dicken Tommes‹ gekommen. Also, Herr Harkort . . .?«
Mit erwartungsvollen Augen hing der gerade und aufrechte Mann an den Zügen des jungen Besitzers, der erregt aufstand, jedem einzelnen die Hand schüttelte und sagte: »Ich bin tiefgerührt, meine Herren, und danke Ihnen aus innigem Herzen. Besonders Ihnen, Herr Höfkens. Ihr löbliches Tun und Ihr Stammtisch sind mir präsent, aber Sie wissen ja selber: meine Zeit ist nur kärglich bemessen. Die Arbeit hier und als Kreisdeputierter, meine Tätigkeit als Mitglied der Deichkommission, das alles läßt mich nicht zur Ruhe kommen. Und dann, meine Herren: ich passe nicht zu dem fröhlichen Treiben und würde ein behagliches Zusammensein nur stören.«
»Aber ich bitte Ihnen, Herr Harkort!«
»Das wäre noch schöner!«
»Immer leschär, meine Herren!«
»Das letzte Wort habe ich,« sagte eine muntere Stimme, und die ecclesia militans klingelte ans Glas, erhob sich und predigte: »Warum nicht, Herr Harkort?! Aut Caesar aut nihil! Selbstverständlich, mein Junge! Hier bietet sich die beste Gelegenheit, wieder Mensch unter Menschen zu sein, dem Trübsinn ein Schnippchen zu schlagen und mit gediegenen Männern das Lied anzustimmen: Laßt uns die Becher bekränzen – kränzen, laßt bei Gesängen und Tänzen . . . und wenn's auch nur bei einer Solopartie wäre . . . Cantus ex est. Ein Schmollis den Sängern! Und Sie, meine Herren, gehen Sie beruhigt nach Hause! Herr Harkort wird sich die Sache überlegen. Ja, ich kann wohl schon sagen: Omnes eodem cogimur. An gleicher Stätte werden wir alle vereinigt. Ich bürge für ihn, und wenn die streitbare Kirche sich als Bürge verpflichtet, dann klappt die Geschichte.«
»Aber Andreas!«
»Nichts mehr zu machen! Der Pakt ist unter Wachs und Petschaft genommen und somit spruchreif geworden, und darauf wollen wir trinken. An die Gewehre! Es lebe das neue Mitglied der Solopartie, tagend im ›Dicken Tommes‹ am Markt und am hintersten Stammtisch, Hans Harkort soll leben!« und da klingelten die Gläser zusammen, und ein freudiges Gemurmel ging um, und dann war ein Scharren von Stiefelsohlen, ein Sichbedanken und Grüßen, und der Baumwollene sah sich unter den linken Arm geschoben, und drei biedere, handfeste Männer griffen nach ihren prächtigen Zylindern, bedeckelten sich im Hausflur und zogen glücklich wie die Kinder am heiligen Christfest über den Gutshof und in den Abend hinaus, der mit tausend und abertausend silberlichten Sternchen am ewigen Himmelreich spielte.
»Das wäre geleistet,« sagte der junge Kleriker, rieb vergnügt seine weißen Hände zusammen und leerte den Rest seines Kelches.
»Andreas, wie kommst du dazu? Was soll das?«
»Nur keine Misepetereien, mein lieber Hans Harkort! Das steht dir nicht an, oder besser gesagt, das sollte dir wenigstens nicht anstehen. Du mußt aus deinem selbstgewebten Dusel heraus, mußt wieder unter Menschen, mußt Gelegenheit haben, dir das mörderisch zerquälte Leben wieder erträglich zu machen.«
»Und da glaubst du, daß mir dies im ›Dicken Tommes‹ gelänge?«
»Im ›Dicken Tommes‹ allein nicht. Das ist doch wohl selbstverständlich, mein Junge! Darüber brauche ich dir keine besondere Vorlesung zu halten. Es wäre ja töricht, ein solches Ansinnen deiner gesunden Erwägung anheim zu stellen. De nihilo nihil, aber ein Stein treibt den andern, und viele Steine bringen den stattlichsten Bau zuwege. Das ermesse, mein Lieber! Betrachte den Eintritt in den Kreis dieser ehrlichen und bodenständigen Männer als Steinchen, dem die übrigen folgen! Nur zugegriffen, Hans Harkort, und Gott wird weiter helfen! Discite moniti! Weise meinen Rat nicht von dir! Es wäre ein unverzeihlicher Fehler. Du hast Pflichten gegen dich, gegen Gott und die Umwelt. Du mußt dein Pensum von vorne beginnen. Nicht wanken, nicht zögern. Dir wurde das erste Steinchen geboten.«
»Und das ist deine ehrliche Meinung?«
»Meine ehrliche, Hans.«
»Und du bist der unwiderruflichen Ansicht, mein Leben würde sich hiedurch freundlicher und besser gestalten?«
»Der unwiderruflichen.«
»Auch das mit Franziska . . . auch dieses würdest du noch unter dem Gesichtswinkel betrachten, daß noch Rettung vorhanden und sich die Möglichkeit ergibt, auf irgendeiner gesunden Basis sich ihr wieder zu nähern?«
»Warum nicht?«
»Das glaubst du wirklich und wahrhaft?«
»Sei doch nicht so schwerfällig, Hans! Komme endlich zu Rande! So geht das nicht weiter.«
Der Gemaßregelte lächelte über ihn weg.
»Auch dann noch,« fragte er heiser, »wenn ich dich mit Begebenheiten bekannt mache, die geeignet sind, deine aufgestellten Prämissen wie Kartenhäuser über den Haufen zu werfen?«
»Mensch, bevor ich darüber zu urteilen vermag, muß ich sie hören.«
»So höre!« und wie im Fieber holte er den unscheinbaren Brief hervor, den er schon einmal dem Gefach entnommen hatte. Gleichzeitig tastete er nach einer Kassette und trat wieder in den Schein der zirpenden Lampe.
»Nimm Platz, Andreas! denn was du zu hören bekommst, muß kalt und mit allem Behagen genossen werden, so wie die alten Stoiker es taten, sonst geht dem Menschen das Beste verloren,« und mit einem heftigen Ruck hob er den Deckel der kleinen Schatulle.
»Das hier«, sagte er mit erzwungener Ruhe, »stammt noch aus den Tagen des Glückes,« und mit nervösen Fingern wühlte er in bunten, vergilbten Bandschleifen herum, in verschnürten Briefschaften und vertrockneten Rosen. Einzelne Blättchen verloren sich auf der Tischdecke oder zerflatterten wie dunkle Falter, die unter Gräsern und Blumen sterben. »Gedanken, liebe Erinnerungen, Schwüre und Wölkchen, die unter einem lächelnden und verträumten Himmel segelten. Sie gaben mir das, was ich nötig hatte, und machten mich heiter. Unter ihren zärtlichen Schwingungen zerteilten sich die schwülen Dämpfe, die sich wie ein dumpfes Wetter über Op gen Oort lagerten. Und was ist aus all diesen Dingen geworden, aus diesen silberlichten Wölkchen, Erinnerungen und vertrockneten Rosen, die einst wie ein Wunder blühten, wie ein Wunder in verschwiegener Sommernacht, wenn Gott mit seinem Feuerwerk tändelte und stumme Blitze am tiefen Horizont hin und wieder gleiten ließ? Hier dieses . . .!« und er lachte grimmig auf und ließ sich nieder und faltete das zerknitterte Schreiben in erregter Hast auseinander.
»In völliger Einsamkeit,« sagte er klanglos, »bin ich durch diese Zeilen gepilgert, Schritt für Schritt, Station um Station, bis ich die sandige Höhe des Leidens erreicht hatte. Vor mir ragte der Berg des Ärgernisses auf. Nichts blieb mir erspart. Auch ihn mußte ich ersteigen, und ich tat es mit der Verzweiflungswut eines verdurstenden Menschen. Es war völlig Nacht um mich. Unter mir rieselte Sandkorn um Sandkorn, raschelte trockenes Riedgras. Am tiefen Horizont stand ein roter Feuerschein. Es war der Scheiterhaufen, auf dem meine Liebe verbrannte. Später hörte ich: drei Tage und drei Nächte hindurch lag ich in einem wahnwitzigen Fieber, nur ihren Namen auf den dürren Lippen und das große Feuer vor Augen, das meine Seele und den ganzen Himmel erfüllte. Das tat dieses Schreiben.«
Dann las er:
»Geliebter! Gestern noch sahen wir uns. Heute schon nicht mehr, und ob wir uns jemals wiedersehen werden, wage ich nicht zu hoffen, denn wenn du das Nachstehende wirst gelesen haben, wirst du dich abwenden und meinem Andenken fluchen. Und dennoch: ein Lebewohl muß ich dir sagen, wenn ich auch weiß, es wäre besser gewesen, spurlos und ohne ein Lebenszeichen zu hinterlassen von dir zu scheiden. Eine Entschuldigung gibt es nicht für mich, und wenn es eine gäbe, du würdest sie doch nicht verstehen. Eine Scham ist in mir, wie sie die ersten Menschen empfanden, als sie sahen, daß sie nackt waren. Aber was schlimmer ist als dieses trostlose Empfinden: es gibt keine Rettung mehr aus dieser Wirrnis der Dinge. Sie sind zu mächtig geworden, zu drohend. Sie umklammern dich und mich mit ihren entsetzlichen Armen. Wir waren längst nicht mehr zwei getrennte Wesen, die sich nur mit scheuen Flügeln berührten, sondern zwei Wesen in einem. Ich war der glücklichste Mensch auf dieser Erde, namenlos glücklich. Selbst räumlich geschieden – ich brauchte nur die Augen zu schließen, um dich bei mir zu haben, dich zu sehen und meinen Mund auf deine heißen Lippen zu drücken. So ging das Tage hindurch und Wochen hindurch und lange Monde hindurch, und eine innere Stimme war bei mir und sagte: Ähnlich wie dir, wird es auch dem Geliebten ergehen. Hans, so waren wir beide beschaffen, so schmolzen wir in eins zusammen und wähnten uns vereinigt, bis der Tod uns scheiden würde – und das alles wurde auseinandergerissen.«
Er hielt inne und sah über das Schreiben hinaus.
»Andreas, was sagst du dazu?« fragte er mit zerquälter Stimme.
»Lies weiter!« mahnte der junge Kleriker und fuhr sich mit der Hand über die Augen.
Und Hans Harkort las weiter, häufig stockend und fahrig, dann wieder jedes einzelne Wort scharf betonend und mit gekniffenen Lippen.
»Geliebter! wo ich dies schreibe, steht meine Seele bis an die Brust in eisigem Wasser, und mein Herz ist kalt und hart wie Stahl, sonst würde es mir nicht möglich sein, meine Vernunft an der Kette zu halten und dieses zu erörtern. Ich bin mir völlig klar über mein vergangenes Leben und über das, was kommen wird. Ich sehe es vor mir wie die Stationen eines langen Pilgerweges, die zur Leidenskapelle führen, hoch oben auf einem steinigen Hügel – und dieses Leben ist furchtbar, so furchtbar, daß, wäre noch Hoffnung vorhanden, ich nicht mehr den Mut besäße, diesen Strohhalm der Hoffnung mit Händen zu greifen und mir an deiner Seite ein neues Dasein zu zimmern. Über gewisse Dinge kommt man nicht hinweg; man muß sie auskosten bis auf die schalste und bitterste Hefe. So auch ich, weil ich verdammt bin, den Kelch des Leidens bis auf den letzten Tropfen zu leeren, denn ich sehe keine Möglichkeit, auch nicht die geringste, diesen Becher von mir zu weisen. Es ist wohl das letzte Mal, daß ich so zu dir spreche, das letzte Wort, das ich an dich richte, und ich bitte dich flehend, dringe nicht in mich, eine andere Lösung herbeizuführen. Ich werde schweigen, immer nur schweigen. Und du – tue dasselbe! Schreibe auch du nicht, suche nicht auf irgendeine Art ein Begegnen zu erzwingen! Es wäre verlorene Mühe. Unsere Wege müssen sich trennen. Gehe du rechtwärts, ich will linkwärts gehen. Suche das Licht auf, während ich durch Finsternis schreite. Wir wollen uns meiden, nie mehr uns sehen, nie mehr auf Erden . . . sonst: dein Anblick würde mich nur noch verzweifelter machen, mein Menschentum gänzlich zerfleischen und mich unweigerlich dem Abgrund entgegenführen. Das wirst du nicht wollen, obgleich ich fühle: der Tod wäre mein Herr und Erlöser.«
Andreas Lobbers sprang auf. Seine Lippen waren kreidig geworden. Wie ein eingekäfigtes Tier ging er im Zimmer hastig auf und nieder, unverständliche Worte zwischen den Zähnen murmelnd. Dann warf er sich wieder in den Lehnstuhl zurück, rieb die Hände fröstelnd gegeneinander und stöhnte: »Das ist ja entsetzlich!«
»Höre weiter, Andreas!« sagte Hans Harkort mit einer eisigen Ruhe, die bis ins tiefste erschütterte.
»Meine Hand ist kalt und meine Stimme schwer von Tränen geworden. Ich sehe wie durch ein Schneegestöber, das nicht aufhören will. Ich strecke die Hand um Mitleid aus, und man bietet mir Steine. Ich habe nichts mehr, nicht das Geringste. Das einzige, das mir verblieb, ist die Erinnerung daran, daß es Zeiten gab, die mich anlächelten wie Sonnenkinder. Aber das ist lange vorüber, als wäre es niemals gewesen. Ein eisernes Gebot tut mir Gewalt an. Ich kann ihm nicht mehr entgehen und muß ihm folgen, wohin es mich leitet. Du kennst meinen Vater. Er war der Inbegriff des Höchsten für mich. Ich liebte ihn mit aller Kindesliebe, deren ein Herz nur fähig ist, und tue es jetzt noch, obgleich ich weiß: um seinetwillen bin ich unsagbar elend geworden, und dieses mein Elend wird ihn selber verderben. Seit gestern abend weiß ich, daß es so ist. Du kennst doch Simonis? Er stammt aus dem Geldrischen, ist Herr von Aukamp und bekleidet die Stelle eines Kassenrevisors beim hiesigen Deichwesen. Schon häufiger sprach er bei uns vor, und wenn ich ihn sah, dann war es mir so, als würde mir ein Stück von meinem Himmelreich genommen. So gestern wieder. Mein Vater ging wie durch einen blutroten Nebel. Alles an ihm war krank und verlähmt. Was mit ihm geschehen war, kann ich nicht sagen. Aber als Simonis erschien, und er tat es von Amts wegen, kam es zu einer heftigen Szene zwischen den beiden . . . und dann . . . eine Stunde nachher: mein Vater lag vor mir auf den Knien, brach in sich zusammen und war wie von Sinnen. Eine dunkle Schuld richtete sich auf, geeignet, ein häßliches Brandmal auf unseren Namen und unsere Ehre zu drücken. Woher sie kam, blieb mir ein Rätsel, und es wäre unsinnig und grausam, noch darüber grübeln zu wollen. Es war nichts mehr zu ändern. Simonis forderte und bestand auf seinem Schein . . . Anderen Tages hatte ich mein Jawort gegeben . . . Hans, Hans, Hans, richte mich nicht, laß deinen Fuß nicht über mich gehen! Ich flehe dich an: Vergib mir, mache mich nicht noch ärmer, als ich bin! Erbarme dich meiner! Mein Entschluß ist gefaßt. Es gibt kein Zurück mehr. Wer ist schuld daran? Frage mich nicht! Ich könnte dir doch keine Antwort darauf geben. Unsere Liebe muß absterben. Und selbst: wäre ich nicht bestimmt, die Frau des Verhaßten zu werden – dein Weib wäre ich seit dem gestrigen Tage nicht mehr geworden. Aber noch einmal – du . . . und wenn auch nur in heißen Gedanken . . . noch einmal werfe ich mich in deine Arme hinein . . . drücke mich an dich . . . und küsse dich mit einem langen, verzehrenden Kusse . . . Hans, lebe wohl! Deine Franziska.«
Hans Harkort erhob sich.
»Verstehst du das alles?«
Mit einem verhaltenen Laut barg er das Schriftstück, wandte sich ab und stöhnte zerdrückt vor sich hin: »Und das wagte sie niederzulegen, Buchstabe um Buchstabe, Zeile um Zeile . . . Franziska! – Weib du . . .! Soll mein Fluch dich . . .?«
Ein abgehackter, wilder Schrei lärmte auf, der für eine kurze Spanne Zeit das Zimmer durchgellte.
»Hans!«
Eine schwere Hand legte sich ihm auf die Schulter.
»Was willst du von mir?«
Hans Harkort warf den Kopf zurück und starrte ihn an. Man hätte glauben können, dies Gesicht sei aus Erz gegossen, so ehern und scharf umrissen stand es in der sanften Beleuchtung.
»Du willst mir doch nicht beibringen wollen, vor diesem Weibe noch die Knie zu beugen?«
Andreas Lobbers verfärbte sich.
»Von wem sprichst du eigentlich?« fragte er heiser.
»Nun von der, die meinen Leib zerbrach und meine Seele zermürbte.«
»Richte nicht, auf daß du nicht gerichtet werdest!« kam es unerbittlich zurück.
»Ich will auch nicht richten . . . aber nun komme mir einer mit der schönen Legende, das zerschlagene Heiligenbild wieder atmend zu machen und es auf den Tisch des Herrn zu stellen. Utopisch! Wer sollte das können?«
»Hans, Hans!« rief der junge Kleriker und wehrte mit beiden Händen ab, »ich nicht, aber du selber. Nur du allein bist der Schmied deines Glückes, aber in gleicher Weise auch der Totengräber deiner eigenen Zukunft.
Selbst ist der Mann, und willst du, daß noch ein Starker neben dir her geht, um dir den Kampf leichter zu machen – den hast du. Ich sagte dir schon: der Himmel ist dir persönlich zu Hilfe gekommen. Weise diese Hilfe nicht von dir, greife sie auf, schreite mit ihr durch Not und Gefahr, und deine Stärke wird siegen.«
»Andreas, und diese deine Ansicht verfichtst du auch jetzt, auch jetzt noch, wo du weißt, was sie sagte? denn geschrieben ist, von ihr selber geschrieben: Und wäre ich auch nicht dazu bestimmt, die Frau des Simonis zu werden . . . seit den Erlebnissen des gestrigen Tages: dein Weib wäre ich nicht mehr geworden.«
»Auch jetzt noch.«
»Andreas . . .!«
»Ja, auch jetzt noch, so wahr ich hier stehe. Hans, verleugne dich selbst nicht! Glaube an dich! Wer Gott sucht, der findet ihn auch. Bleibe dir selber getreu! Willst du denn in deinem Trübsinn ersticken? Gib dich nicht selber auf! Werde wieder der Alte, der Zugreifende, Zupackende! Laßt uns die Becher bekränzen . . . und was da drüben passiert ist – was kümmert es dich? Wem gegenüber bist du denn verpflichtet? Nur dir allein gegenüber. Finde dich damit ab! Nimm es hin wie ein unabwendbares Schicksal! Die Hauptsache bleibt: sie selber ist rein wie eine Blume des Feldes, wie das Gewand der allerseligsten Jungfrau, und was sie dir in ihrer Verzweiflung auch schrieb – münze es um und werte es nach seinem lauteren und wahrhaftigen Inhalt! Drum raffe dich auf! Das Heute gebietet. Nur dieses allein. Zersprenge die Fessel! Sei kein Träumer! Dum Roma deliberat, Saguntum perit. Hans« – und er hatte seine Hände ergriffen – »und was sie jetzt noch umgibt, was die Wassermühlen bedeckt – habe den Mut, das Dunkel zu lichten und das schwarze Tuch von diesem Geheimnis zu reißen!«
»Andreas, ich habe ihn nicht.«
»Du mußt ihn haben, sonst bist du verloren – du und Op gen Oort; denn nur an diesem Weibe wirst du gesunden! Also du willst? und tust du es nicht: uns hält nichts mehr zusammen. Mit dem heutigen Tage: geschieden für immer.«
Da reckte sich der Gequälte auf, fest und zuversichtlich, hoffnungsfroh und von einem starken Willen getragen.
Energisch und mit festem Griffe drückte er die Hand seines Freundes.
»Ultima ratio. Ja, Andreas, ich will!« sagte er ruhig.
* * *