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Mit gewaltigen Schritten ging es dem Spätherbst zu. In hellen Scharen fielen die Kramtsvögel in die Ebereschen ein, die in den Vorgehölzen standen oder die Kommunalwege in monotoner Reihenfolge begleiteten. Gleich den Vagabunden lärmten die Häher. Ihre zimtroten Wämser und die himmelblauen Bändchen ihrer Flügelfedern leuchteten weithin. Die Welt lag grau und dunstig, kalt und verwaschen, und die vom Niederrhein rüsteten sich schon auf die Tage, wo sie wieder ihre Holzschuhe mit Ehren tragen, sich die Hände reiben und behaglich vor sich hin schmunzeln konnten: »Flämmchen, glüh' mich an!« so recht aus dem Herzen heraus und beim Anblick eines emsigen Feuerchens, das mit seinem Schein über die blankgescheuerten Dielen gaukelte, heimlich knisterte und die nächste Umgebung vergoldete.
Menschen und Vieh hatten während der heißen Sommermonate gesorgt und geschafft, geheimst und geerntet, alles in ruhloser Hast, in schwerer Not und im Schweiß ihres Angesichtes. Nun durften sie sich's bequemer machen und kommoder arbeiten. Auch das weite Land, Wiesen, Äcker und Triften, sehnte sich nach Ruhe und Ausspannung. Die letzten Blumen legten sich still auf die Seite, und fröstelnd drehte sich das welke Laub von den Bäumen herunter.
So ging das den halben September und den ganzen Oktober hindurch. Dann, gegen Ende des Monats, klärte das Wetter auf, bekam einen frischen Atem und fröhliche Backen. Man konnte den Horizont mit den Händen greifen und jedes überständige Blättchen an den bettelarmen Zweigen der Bäume zählen, so sichtig war es mittlerweile geworden, und selbst die Kartoffelfeuer, die jetzt überall brannten, taten dem keinerlei Abbruch, denn ihre zartbläulichen Schleier ließen die Helle noch leuchtender und freundlicher werden. Ein belebender Duft, der von dem stillen Behagen des Winters erzählte, ging anheimelnd über die Landschaft, schmeichelte sich sacht in die Häuser hinein und weckte ganz leise die innigen Freuden, die sich mit Sankt Nikolaus und der kommenden Weihnacht beschäftigten.
Die Wetterkundigen prophezeiten eine frühzeitige Kälte. Alle Zeichen sprachen dafür, daß sie recht behalten würden. Zeitiger als sonst hatten die Störche ihre Wanderung angetreten, und gegen alle Erfahrung und Ordnung fielen schon jetzt die wilden Gänse in die Altwasser des Rheines, zahllos wie nie und mit hellem Trompeten. Aber was das sicherste war: bereits im August hatte es die Herbstzeitlose gewagt, ihre violetten Teppiche über die Wiesen zu spreiten und das weite Land in einen einzigen Farbenrausch zu tauchen. Bis spät in den November währte das Blühen.
Danach setzte der erste Frost ein, und zwar so herzhaft, daß sich die Scheiben blümten und die Wässerchen ihr Gurgeln verloren. Spitzige Eiskristalle nickten von den Bäumen herunter.
Eines Morgens nun klapperten derbe Holzschuhe über den Paternosterdeich hin. Ein schwerfälliger Mann, die Schirmmütze im Nacken und die Hände in den Hosentaschen, einen Tonstummel zwischen den Zähnen, kam gemächlich seines Weges geschritten. Sein Pfeifchen glühte, und ein krauses Wölkchen zog mit ihm. Es war Jansenius, der Oberknecht von Op gen Oort, der von der Wisseler Grenze herschlenderte, wo er nach den eingemieteten Kartoffeln und Runkelrüben gesehen hatte, und jetzt im Begriff war, eine Bestellung zu machen.
Vom Deich aus hatte er eine prächtige Umschau, und mit einem gewissen Behagen sah er auf die kleine Stadt, auf die Gehöfte, Katen und Weiler, die wie Nürnberger Spielzeug die flache Gegend belebten. Die jetzige Zeit, das langsame Heraufdämmern der Adventtage, lag auch ihm wie allen niederrheinischen Menschen im Blute. Er dachte an seine Jugend, an Vater und Mutter, an das, was ihm lieb und teuer gewesen war. Gott ja, wie hatte sich das alles sinnig und herrlich angelassen, wenn die Buchenknüppel ihr Feuerwerk machten und die Eisblumen auftauten, die die niedrigen Fenster bedeckten! Und dann eines Abends . . . da war sein Vater aufgestanden, still und gelassen, hatte Frau und Kinder mit großen und verwunderten Augen angesehen und war mit einer wunderlichen Feierlichkeit in den Keller gegangen, der neben der armseligen Kat lag und die eingebrachten Schätze des Sommers und des Herbstes beherbergte. Mit einer gelben, dickleibigen Mohrrübe, die noch ihren grünen Federbusch trug, war er in die Stube zurückgekehrt, hatte sein Taschenmesser locker gemacht und eifrigst zu schnitzen begonnen, während dazu der Perpendikel in der alten Kastenuhr auf und nieder pendelte und die Mutter eine schöne Geschichte von Bauberger oder Herchenbach erzählte. Eine kleine halbe Stunde verging, und aus der fetten, gelben, mastigen Wurzel war ein niedlicher Holzschuh geworden, den der Vater mit einer Handvoll Hafer gefüllt und auf das Fensterbrett gestellt hatte, um dem Schimmel des heiligen Mannes Krippe und Raufe zu bestellen. Und draußen froren die Sterne und stachen wie feine Nadeln aus der Ewigkeit nieder, und tief in der Ebene klagte eine alte Weide im Frost, und heiße, glückliche Kinderherzen schauerten dem Morgen zu – dem Tag der Bescherung, der Stunde des Heiles und des reinen Christentums. Lasset die Kleinen zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich!
»Sinter Klaas!« sagte Jansenius und wischte sich eine Träne herunter.
An der ersten Schleuse machte er Halt.
Er drehte sich um und blickte nach Op gen Oort. Von dorther kam ein volles Klingen und Tönen, dumpf und feierlich, das mit seinem Wohllaut ihn seltsam bewegte. Die benachbarten Ortschaften und Gehöfte nahmen den Ruf auf, und als er genauer zuhörte, da kam er von den Tennen herunter, wo Knechte und Mägde die Flegel regierten und Gottes Korn aus Gottes Garben droschen und wie mit Glocken läuteten. War das eine weihevolle Musik! War das eine Fülle des Segens! und Jansenius faltete die Hände und sagte: »Und die von Op gen Oort predigen dennoch am schönsten; aber das tut es allein nicht. Es ist keine richtige Freude dabei und keine liebliche Andacht; denn gemästete Speicher und Kornkammern machen als solche die Herzen nicht voll und können nicht sagen: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöset! Ich habe dich bei meinem Namen gerufen. Ich bin dein. Das können sie nicht. Sie können den Frieden nicht geben und die innere Beschaulichkeit nicht und die innere Ruhe nicht. Da muß es schon heißen: Nu ist Sinter Klaas gekommen, auch für Op gen Oort.«
Und er öffnete wieder die Hände und wandte sich und sagte noch einmal: »Sinter Klaas!« und nahm aufs neue seinen früheren Schritt auf, der rumpelnd über den hartgefrorenen Boden fortging.
Schon von ferne hörte er das Rauschen und Poltern der Wassermühlen. Als er dort eintrat, sah er Kosman Kraneboom bei den riesigen Mahlsteinen stehen. Dielen und Balken schaukelten und schwankten unter dem Rucksen der gewaltigen Pfannenlager. Es war eben frisch aufgeschüttet worden. Alle Trichter und Gänge waren in regster Tätigkeit.
»Tag, Kosman! So forsch bei's Geschäft?«
»Sieh da! Haben wir auch mal die Ehre? Im übrigen aber: Drenkt che der eene?!«
»Woröm niet?« versetzte Jansenius, »et kann jo niet schage, ent et es gut för kalde Füt,« und da langte Kosman nach einer Flasche, die in einer Wandnische stand, brachte auch ein Gläschen zum Vorschein und schenkte ihm ein.
»Donnerkiel, da ist Feuer und Fett drin!«
»Bester Aquavit von Hendrik Pastores; so – und nu: warum schon so zeitig?«
»Es ist nur von wegen der Richtigkeit, daß ich vorsprechen täte, und möchte bloß fragen, ob wir noch drei Fuhren Weizen zubringen könnten?«
»Pressiert's?« meinte Kosman.
»Das weniger, aber es wäre bekömmlicher für unsren ganzen Betrieb. Nach Schluß der zweiten Adventwoche hat's so recht keinen Zweck mehr.«
»Dann allerdings! Wollen mal sehen, was sich tun läßt. Für Op gen Oort sind wir immer zu haben, denn wenn solches nicht wäre, zöge sich ja alles aus Leim und Furnierung. Wie geht's denn da drüben?«
»Gott, wie soll's gehn?!« seufzte Jansenius und fuhr sich mit der ungelenken Hand über die Stirne. »Bis jetzt immer dasselbe! Da befindet sich unsereiner wie in einem mächtigen Rätsel mit zune Augen. Der junge Kaplan kommt ja öfter herüber und spricht mit ihr, was die Madam ist, und dann wieder mit ihm, und redet sein Bestes. Aber es scheint: er kann auch nicht raten und helfen. Die Verfinsterung und Biesternis ist zu barbarisch geworden. Da müßte schon ein Hexenmeister kommen, um ihnen das Handwerk zu legen. Nee, es ist nichts Amüsantes von uns zu berichten. Das läppert sich so fort und geht immer tiefer ins Wirre hinein.«
»Auch mit ihm?« fragte Kosman.
»Das ist es ja gerade. Gottes Segen ist bei seinen Knechten und Mägden, auf seinen Weizenschlägen und auf allem, was sein ist, aber bei seiner eigenen Person ist kein Gottessegen zu finden. Keine Einsicht und gar nichts, und ich hab' immer so 'ne eigentümliche Bange, wenn er den Gewehrkasten aufmacht, um sich auf die Jagd zu begeben. Das nimmt noch mal ein erbärmliches Ende, wenn kein heldenhafter Rückschlag die Dinge anderweitig gestaltet. Einmal dachte ich, es würde sich geben. Das war so um Ostern herum und dauerte bis tief in den Sommer hinein, und ich hatte schon die munterste Hoffnung: jetzt wird's Frühling für ihn. Aber ist's für ihn Frühling geworden? Nicht die leiseste Ahnung davon, und ich kann mir nicht helfen« – und seine Stimme nahm etwas Bedrohliches und Stickiges an – »von den Wassermühlen kommt's, und von den Wassermühlen hat's nach uns hinübergegriffen.«
»So!« fiel ihm Kosman ins Wort, »und nicht von Op gen Oort nach den Mühlen retour?!«
»Möglich, aber das von die Wassermühlen ist das Schlimmste gewesen.«
»Himmelverdammich, du willst doch meiner Herrin das gebrannte Herzleid nicht antun?!«
»Kosman, man Ruhe, immer bloß Ruhe! Wir können die Sache ja in aller Freundschaft besprechen.«
»Ruhe – die hab' ich, und du willst mir Ruhe gebieten, wo ich solche schon von den Preußen bezogen habe? Da ging alles mit Ruhe, mit preußischer Ruhe und Promptheit – und die besitze ich heut noch. Aber das Malör auf die Wassermühlen schieben zu wollen . . . Glaubst du denn, hier ginge alles seinen normalen Gang wie'n munteres Uhrwerk, wäre alles so glatt und vergnüglich wie auf 'ner Kirmestente, und da wäre nicht Eine, die lieber heute als morgen in die letzten Laken hinein wollte? Nein, Jansenius, da bist du auf 'nen regulären Holzweg geraten. Op gen Oort hat nicht die alleinige Schuld, aber dieses Besitztum erst recht nicht. Indessen: Simonis und Jan van den Birgel – die waren's, die Hand an das Totenseil legten, um die Totenglocke zu läuten, und was die Hauptsache ist: hier und drüben befinden sich zwei liebe, aber unbedachtsame Menschen, die sich umschichtig in die Not hineinreden und sich wechselseitig zerreiben, als wären sie Mühlsteine, aber zwei harte . . . und brauchten nur ›ja‹ zu sagen . . . und tun's nicht . . . und das ist das Kreuz . . . und das ist das Unglück . . . und das ist die kalte Hand, die schließlich erscheint, um mit 'nem schwarzen Pinsel über die Bretter zu fahren. Jedoch was sie ist, sie hat am meisten zu leiden.«
»Das ist denn 'ne andere Sache,« pflichtete ihm Jansenius bei und rückte seine Schirmmütze schief auf die Seite. »Herrgott, diese Menschen! und was ich fragen wollte: Befindet sie sich jetzt hier im Hause? Da könnte man ja ein Wort mit ihr reden.«
»Das lass' man! Würde auch kein Dittchen nicht helfen. Außerdem: sie hat heute früh nochmals ins Geldrische gemacht und will dann ans Nachlaßgericht, um den letzten Strich unter die Rechnung zu ziehen. So ist wenigstens dieses erledigt und ihr 'ne gehörige Last von den Schultern genommen. Am vierten abends will sie retour sein.«
»Also am vierten. Kosman, dann muntere sie auf, denn am fünften feiern wir Sinter Klaas-Abend, und so was ist bekömmlich für solche, die sich betrüben und im Ungemach sitzen. Auf Op gen Oort will ich das meinige tun. Vielleicht kann man helfen und so'n bißchen den Jammer vertreiben. So! – und nu will ich fortmachen. Bei der Bestellung bleibt's: drei gestrichene Fuhren mit Weizen; möglich, es kann auch was Gerste dabei sein. Du packst's ja, und damit adjüskes!«
Aber noch einmal kam er zurück und sagte: »Kosman, noch eins! Cornelis Höfkens sein erster Geselle soll sich im Sterben befinden.«
»Du bist woll! Doch nicht Nöllecke Reigers, der auf der Holländer Kat zunächst dem Mühlenberg wohnt?«
»Derselbige, Kosman.«
»Das wäre ein Jammer, ein entsetzlicher Jammer! So jung noch und fünf unbedachte, lebendige Kinder! Was soll ihm denn fehlen?«
»Einige sagen, es wäre 'ne Lungenverkühlung, die anderen wieder, es hätte ihm schon lange im Blute gestochen. Aber was die Menschen so reden! Niemand kann's wissen. Darüber kann sich nur unser lieber Herrgott benehmen. Aber schlimm soll es aussehn.«
»Gott helfe ihm!«
»Wollen's hoffen,« und damit schob Jansenius seine vierschrötige Gestalt zur Einfahrt hinaus und steuerte dem Paternosterdeich zu.
Die Luft war inzwischen noch bissiger und grimmiger geworden. Ein eisiger Wind fegte von der Niederung her. Feine Kristalle glitzerten auf. Das helle Sonnenlicht schrumpfte zusammen. Aus der Tiefe hoben sich graue Tücher, die allmählich den ganzen Himmel bedeckten.
Krähenvögel flogen ab und zu.
Die kleine Stadt düsterte ein; auch das weite Land hatte seine Fernsicht verloren.
An der Schleuse angekommen, sah Jansenius ins Wetter.
»Dunnerkiel, diese Kälte!«
Beide Arme schlug er kreuzweise unter die Achseln.
»Aber fein ist's doch. Das kann 'n weißer Sinter Klaas-Abend geben. Fein das, sehr fein das!«
Diese Überzeugung stimmte ihn glücklich.
Als er Op gen Oort erreichte und über den Hof klapperte, begann es zu schneien. In einzelnen Wollklümpchen schaukelte es aus der Höhe herunter. Schließlich war ein Gewimmel von kalten, lustigen, unzähligen Sternchen rings um ihn her. Die Erde bedeckte sich mit einem köstlichen Hermelin. Nun war es Winter geworden.
* * *
Anderen Morgens, am ersten Sonntag im Advent, lag die Welt in einer blendenden Weiße. Die Türme trugen Gugelmützen, die Dächer weiche Überdecken, und von den Zweigen puderte es wie von Kandiszucker. Herrgott, und dieses Strahlen und Funkeln!
Die Leute gingen in gehobener Stimmung zur Kirche, nickten sich freundlich zu und betrachteten die Auslegefenster der Lebküchler und Bäcker, wo hinter den Scheiben der Sankt Nikolaus-Zauber seine ganze Herrlichkeit entfaltet hatte. Der fünfte Abend im Dezember schickte bereits seine Vorboten, duftete mit Nymwegener Moppen, Klever Spekulatius und leckeren Sinter Klaas-Männern, die sich nicht genug darin tun konnten, die Schaulust zu erregen und eine prickelnde Vorfreude in die Herzen der Menschen zu tragen.
Nach dem Hochamt bewegte sich ein eiliger, untersetzter Mann in lederfarbigem Überrock, Vatermördern und mit einem winzigen Filzhütchen auf dem weinroten Kopf durch die Menge, grüßte mit einem verbindlichen »Servus, servus!« und ging durch die Kesselstraße dem Tor zu, um von hieraus den Weg rechter Hand einzuschlagen.
»Tag, Herr Sekretarius! Wohin denn so eilig?«
»Wichtig, sehr wichtig! Secretarii publici per totum annum diligentes. Das hier muß an den Mann gebracht werden oder vielmehr an die Frau,« und er tippte dabei auf die unscheinbare Aktenmappe, die er unter dem linken Arm trug, schwenkte sein Filzhütchen, und nahm mit einem schnell hingeworfenen »Servus, servus!« wieder seinen früheren Schritt auf.
Nach weiteren zehn Minuten setzte der erste Gehilfe des hier amtierenden Notars und Justizrats die Glocke am Herrenhaus der Wassermühlen in Bewegung, räusperte sich etliche Male und versuchte, den kalten Schnee von den Schuhen zu klopfen.
Ein schmuckes Dienstmädchen im weißen Spitzenhäubchen und mit klingelnden Ohrgehängen machte die Tür auf.
»Von Amts wegen,« sagte der Schreiber, indem er sein glattrasiertes, weinrotes Gesicht tiefer in die Vatermörder hineinzog. »Ist vielleicht Frau Simonis zu sprechen?«
»Mynheer Hürland, bedaure lebhaft. Sie hat gestern ins Geldrische gemacht und will von dortaus nach Kleve.«
»Äußerst betrüblich!«
Der Herr Sekretarius machte eine bedenkliche Miene.
»Mynheer Hürland, kann ich vielleicht die Sache besorgen?«
»Unmöglich, Mamsell! Ein hinterlegtes Dokument auf Leben und Sterben . . . nach letztwilliger Verfügung am heutigen Tage zu behänden . . . und das persönlich, höchst persönlich, Mamsell! Wann könnte ich denn die Gelegenheit haben? Die Sache ist dringlich und von äußerster Wichtigkeit.«
»Am vierten abends kommt sie zurück.«
»So, so! – am vierten und erst gegen Abend. Gut so! dann werde ich am fünften nochmals vorstellig werden. Actum ut supra! So gegen Mittag. Möglich auch später. Aber bis vier Uhr gewiß. Bitte, solches übermitteln zu wollen. Von Amts wegen.«
»Merci, Mynheer!«
»Servus, servus!« und der eilige, untersetzte Herr drehte sich wieder der kleinen Stadt zu, gedachte auch gleich nach Hause zu gehen, änderte aber seine Absicht, als er den Großen Markt erreichte und am ›Dicken Tommes‹ vorbei mußte; denn hinter den Fenstern stand Pitt Lörksen mit einem dampfenden Punschglas und brüllte ihm zu: »Heda, Herr Hürland! Hü mit's Gestell, und man immer 'rein in die Stube! Nobelste Mischung: Batavia-Arrak, Zitronenwasser, mit 'nem kleinen Schuß Burgunder dazwischen. Erfindung der Solopartie und 'ne Probe für den Sinter Klaas-Abend. Also ich bitte. Immer leschär, meine Herren!« und dabei lachte Trumpfsieben, daß davon die blanken Scheiben in ein gelindes Klirren gerieten. Auch Cornelis Höfkens und Dores Schweißgut zeigten sich am Fenster und invitierten ihn, näher zu treten.
»Servus, servus!« und da ließ Herr Hürland seinen löblichen Vorsatz schwimmen, beehrte den ›Dicken Tommes‹, gesellte sich der Tafelrunde zu und wies im Laufe des Gesprächs auf geheimnisvolle Ereignisse hin, die voraussichtlich auf den Wassermühlen eintreten würden. »Da ändert sich was, muß sich was ändern,« sagte er schließlich, »denn was ich dort zu deponieren habe, scheint mir von höchster Bedeutung, obgleich ich von Amts wegen verpflichtet bin, das äußerste Schweigen zu wahren, will aber hoffen« – und er wies auf die Aktenmappe, die neben ihm auf dem Tisch ruhte – »daß das hier berufen ist, das getrübte Wasser zu klären und wieder fröhliche Menschen zu schaffen. Von Rechts wegen.«
»Das sollte Gott wollen!« seufzte Cornelis und sah steif in sein Punschglas. Dann meinte er mit zuversichtlicher Stimme: »Auf das, was wir lieben: auf Malthus und seine arme Tochter!«
»So sei es, um die Wahrheit zu sagen,« pflichtete Dores Schweißgut ihm bei, und da erhoben sich alle und tranken und setzten sich wieder. –
Am vierten Dezember, als es bereits in den Abend hineinging und die Häuser ihre Läden vorgelegt hatten, klingelte ein eiliger Schlitten über die breite Heerstraße, die von Kleve aus ins Binnenland führte. Ein weißer Puder wirbelte unter den Hufen des Percherons auf und funkte mit Myriaden silberner Fliegen im Schein der beiden Laternen, deren unstetes Licht bis weit in die verschneiten Felder gespensterte.
Der Fuhrknecht aus Kleve hatte alle Mühe, den dampfenden Gaul fest an der Kandare zu halten, so heftig preschte er vor und so munter schob er den Weg unter sich fort, als gölte es, die ihm zugemessene Strecke in der Hälfte der gebräuchlichen Zeit zurückzulegen.
Stille Ortschaften und verschneite Gehöfte! Nur hie und da eine einsame Lampe, sonst alles eine weiße Ebene, eine endlose Öde, bitterkalt, bläulich umhaucht und von einem grauen und eisigen Tuch überspannt, aus dem es mit tausend und abertausend spitzen Äugelchen hervorblinzelte. Ein Bibbern und Beben unter der glitzerigen Decke, ein Stieben und Stäuben um das lautlose Gefährt, das mit Windeseile dahin jagte, Moyland passierte und jetzt mit leisem Singsang an dichten Gehölzen, einsamen Lichtungen und vereinzelten Bäumen vorbeiglitt, um bald darauf wieder freies Land zu gewinnen.
»Hia da hüp!« rief der Fuhrknecht, lockerte die Zügel und pfiff dabei fein vor sich hin: »Heinrich schlief bei seiner Neuvermählten, einer reichen Erbin von dem Rhein . . .« warf den Gaul an der nächsten Kreuzung herum und hielt nun geradeswegs auf die schmale Perlenkette zu, die mysteriös hinter der großen Schneewehe aufglimmerte.
Die wie in Watte verpackten Häuschen an der Landstraße mehrten sich.
Irgendwo belferte ein Hund in den kalten Abend hinein.
Die schmale Perlenkette wurde größer und lichter.
Noch fünfzehn Minuten . . . und nach einer sanften Schwenkung eilte der Schlitten über den Deich hin, um bald darauf vor den Wassermühlen zu halten.
»Das hier wäre wohl richtig?«
»Ja, es ist richtig,« und eine hohe, vermummte Frau in dickem Pelzwerk erhob sich zwischen Schachteln und Paketen und trat aus dem Fuhrwerk.
Gleichzeitig wurde die Haustür aufgeworfen.
»Ah, Madam . . .!«
Das schmucke Dienstmädchen, das schon vor etlichen Tagen den Herrn Sekretarius abgefertigt hatte, kam dienstbeflissen herbei und wurde angewiesen, den Kutscher abzulohnen und das Mitgebrachte ins Haus zu tragen ... »und dann, Petronell, heute will ich niemand mehr sehen.«
»Aber Kosman, Madam . . .?«
»Auch ihn nicht!« gebot Franziska Simonis. Ihre Stimme war unfreundlich und hatte einen herrischen Anflug.
»Und dann noch, Madam . . . 'ne wichtige Sache von Amts wegen . . .«
»Nichts Geschäftliches mehr! Unter keiner Bedingung! Ich will nicht,« und ohne jede weitere Einwendung abzuwarten, betrat sie den Flur und ging auf ihr Zimmer.
Zwei Stunden später lag das ganze Haus in tiefster Ruhe, eingebettet in Schnee und überzittert von dem hellen und silbernen Glimmern unzähliger Pünktchen, die sich im ewigen Reigen um den kalten Nordstern drehten.
Nur sie wachte allein noch. Heute war ihr manches von der Seele genommen. Mit dem Aukamp und seinen schmerzlichen Erinnerungen hatte sie nichts mehr zu tun. Keine Gemeinschaft bestand mehr. Beim Nachlaßgericht war alles geregelt und das Kleinste in Erwägung gezogen. Auch Jan van den Birgel mochte jetzt kommen. Sie fürchtete ihn nicht mehr und hatte nichts mehr zu fürchten. Ihr Herz fühlte sich frei. Ihrem Rechtsbeistand hatte sie selbstlos gebeichtet und Trost und Erlösung in seiner Belehrung gefunden. Die scheußliche Hand war gelähmt, und sollte sie nochmals ihre ekelhaften Gelenke strecken, tat sie's auf die Gefahr hin, selber verstümmelt zu werden. Aller Welt gegenüber – hart wollte sie sein, hart wie die Kiesel am Wege und unbarmherzig wie die Finger eines geizigen Menschen. Mochten sie die Köpfe zusammenstecken und sie heimlich mit Disteln und Dornen krönen – sie war gefeit gegen jeden niedrigen Anwurf. Und hier war ihr Eigen und Erbe, ihr Angestammtes – und das wollte sie halten und stärken und mehren und, wenn es sein mußte, mit der derben Hand einer Unerbittlichen. So war ihr Leben doch nicht ohne Zweck und Inhalt gewesen, nicht ohne Gedeih und Erfolg, und dieses erwägend, kam es über sie wie der Rausch einer jähen Befreiung. Ihre Gestalt hob sich zuversichtlich; ihre schmalen Hände flochten sich energisch zusammen. Sie hätte aufatmen mögen, denn über sie fort ging es wie eine erlösende und spurfeste Welle, und dennoch: ihr heißes Blut bäumte auf, die verhaltenen Leidenschaften des Weibes gerieten ins Stürmen, verlangten nach Sättigung und waren doch verurteilt, abzusterben und zu Asche zu werden. Und sie brauchte doch nur ein düsteres Ereignis von sich zu weisen, es niederzutreten und in die Worte auszubrechen: »Hans, Hans, Hans! hier bin ich . . . ich will in deine Arme hinein . . . nimm meinen Leib und alles, was mir gehört!« und ein unsagbares Glück hätte sich um sie gebreitet mit all seinen Wundern, und die geheimsten Regungen eines liebenden Frauenherzens hätten das gefunden, wonach sie sich sehnten: starke Mannesliebe und die Ruhe der Sinne. Aber dieses Ereignis stand wie ein Riese, ging mit ihr, wankte und wich nicht und ließ sich nicht scheuchen . . . und damals, als sie sich nach langen Jahren zum erstenmal wieder begegneten – sie und Hans Harkort – als die Stunde erschien, in der die Hoffnung aufbegehrte wie der Wetterstrahl in Gottes Donnerwolke, die berufen schien, die durstende Erde zu tränken, da reckte es sich und wuchs bis zum Himmel hinan, und sie hörte eine Stimme, die ihr sagte: »Du bist unrein geworden, unrein im Hinblick auf deinen verstorbenen Vater, und somit nicht würdig, den lauteren Becher zu heben und an deine Lippen zu führen.« Es blieb ihr nichts übrig: sie mußte sich fügen und die Majestät des Schicksals begrüßen, obgleich sie wußte, daß hierdurch ihr Herz verelenden und das eines anderen verbluten würde. Seit diesem Tage war sie nicht wieder zu kennen. Etwas Unnahbares ging von ihr aus. Ihr Antlitz verhärmte, ihren Augen war das Gütige und Sanfte genommen, und es deuchte sie, als ginge eine glutende Brunst über die Erde, als hüllte diese Lohe sie ein wie mit einem Feuermantel und höbe sie auf, sie langsam verzehrend und ihr Sterbliches in das Meer des Vergessens verstreuend.
In jäher Hast riß sie ihre Kleider herunter und legte sich nieder. Sie schlief bis tief in den Morgen hinein. Ihr Schlaf war tief und traumlos. Nur etliche Male glaubte sie, ferne Schreie zu hören. Es waren die Stimmen, die das Eis unterliefen, das jenseits des Mühlenwehres das angestaute Wasser gefesselt und eingeschnürt hatte. Erst das Schaufeln der Räder und das Stampfen der Mahlsteine weckte sie auf.
Keine freundliche Sonne vergoldete die Musselingardinen ihres Schlafgemaches. Der Himmel hatte sich wieder umzogen. Harte Eisblumen glitzerten auf, und feine Schneekristalle klimperten gegen die Fenster. Immer reicher und weißer bettete sich die Erde.
Und Franziska Simonis . . . den Rest des verbleibenden Morgens verbrachte sie untätig. Sie hatte es endgültig aufgegeben, nach etwaigen Aufzeichnungen ihres verstorbenen Vaters zu suchen, denn die Gewißheit war bei ihr: alles und jedes, was ihn vielleicht beschuldigen oder auch entlasten konnte, hatte er mit sich genommen. Sie war dessen sicher. Warum da noch länger suchen und forschen? Ein toter Mund kann nicht mehr sprechen, tote Augen vermögen sich nicht mehr zu heben. Langsam und feierlich überkam sie das große Schweigen.
Nach dem Mittagstisch richtete sie in der Guten Stube, in der man seinerzeit Christian Franz Malthus aufgebahrt hatte, die Sinter Klaas-Präsente für den heutigen Abend. Die Angebinde, die sie von Kleve mitgebracht hatte, wurden mit Liebe gesichtet und mit Verständnis geordnet. Ein wohliger Duft nach Aachener Printen, Spekulatius und Äpfel durchwürzte das behagliche Zimmer. Tabaksbeutel, wollene Jacken, Pfeifen und seidene Schürzen harrten der Stunde der Bescherung. Neben jedem Teller stand ein zierlich geschnitzter Holzschuh mit eingeschüttetem Hafer, blaugebändert und mit frischen Fichtenzweigen umspreitet . . . alles ihrem Gesinde zur Freude. Sie selber hatte keinen Anteil daran. Ihre weißen Hände waren weißer als sonst, ihre feinen Nasenflügel hatten etwas Porzellanartiges an sich, und zwischen ihren Augenbrauen lag eine kühle und abweisende Strenge.
Nachdem sie auch das Kleinste in bester Weise geordnet hatte, verließ sie die Kammer, drehte das Schloß ab und wollte sich auf ihr Zimmer begeben.
Auf dem Flur begegnete ihr das schmucke Mädchen mit den klingenden Ohrgehängen.
»Petronell, wann wird Feierabend gemacht?«
»Um viere, Madam.«
»Gut, dann wird um fünfe beschert. Sagt's an!«
»Und dann noch, Madam . . .«
»Ich weiß schon. Der Sekretär kann gemeldet werden. Auch Kosman soll kommen.«
»Merci, Madam.«
In diesem Augenblick schlug die Hausglocke an, und als Petronella öffnete, erschien der korrekte Beamte mit dem lederfarbigen Überrock und den steifen Vatermördern im Türrahmen.
»Servus, servus! Frau Simonis, ich komme im Auftrage des Herrn Justizrats und hatte bereits vor einigen Tagen . . .«
»Und Ihr Auftrag, Herr Hürland?«
»Laut Urkunde, errichtet vor dem instrumentierenden Notar und am Tage wie eingangs gemeldet, war dieses versiegelte Schreiben bereits am ersten Adventssonntag in Ihre Hände zu legen. Widrige Umstände, die allerdings der freiwilligen Gerichtsbarkeit nicht zur Last gelegt werden können, verhinderten die prompte Erledigung des geschäftlichen Aktes. Ich bitte daher, gütigst entschuldigen zu wollen, daß ich erst heute . . . Leider, leider! aber auch wir von der Rechtspflege haben den Umständen Rechnung zu tragen und sotanen Regelwidrigkeiten die Stirne zu bieten, wollen jedoch annehmen, daß die kleine Verspätung keine generelle Bedeutung in sich schließt, hoffen vielmehr auf eine glückliche Lösung der etwa noch schwebenden Fragen.«
Damit überreichte er das Schriftstück mit spitzen Fingern.
»Was wird's sein?« sagte sie achtlos, »Hypothekenerneuerungen, Zessionen und ähnliche Dinge, noch an die Person meines verstorbenen Vaters gerichtet . . .«
Der eilige, untersetzte Mann zuckte die Schultern.
»Im übrigen,« fuhr sie fort, ihm die Hand reichend, »ich bin Ihnen für Ihre Mühewaltung verbunden und bitte darum, mich dem Herrn Justizrat empfehlen zu wollen.«
»Ich danke submissest,« und mit einem sanft gesprochenen »Servus, servus!« empfahl sich Herr Hürland und ging wieder durch den schneeweißen Mittag seiner Amtsstube zu, während sie selber ihr Wohnzimmer aufsuchte.
Dort angekommen, fand sie Kosman schon vor. Er stand an der Türe, auf bloßen Socken und die Schirmmütze zwischen den Händen zwirbelnd. Die Holzschuhe paradierten neben der Schwelle.
»Bitte, mein Lieber!«
Eine angenehme Wärme empfing sie. Der Tag schummerte bereits durch die Scheiben. Noch immer gaukelte es vom umdüsterten Himmel.
Zerstreut warf sie den mit dem notariellen Siegel ausgestatteten Brief auf den Tisch und wandte sich eiligst: »Nun, Kosman . . .?«
»Madam,« sagte dieser, »ich wollte schon gestern . . . bin aber, scheint's, vor die unrichtige Tür gekommen. Es sollte mir leid tun, wenn das alte Einvernehmen nicht mehr bestände oder sich sagen müßte: Ich bin marode geworden und kann nicht mehr weiter. Ich selber habe das unbestimmte Gefühl: es ist nicht alles mehr so, wie es sein sollte. Es lockert sich manches.«
»Zwischen uns nicht,« versetzte sie hastig.
»Nichts für ungut, Madam, aber es hat so den Turnus; denn so'n alter Praktikus, zu dem ich mich im Laufe der Jahre herausgemustert habe, bekommt rechtzeitig Wind in die Nase.«
»Wo will das hinaus?«
»Ins Helle, Madam, weil ich die Überzeugung vertrete: man muß sich aussprechen können, damit man sich in 'ner gewissen Klarheit befindet. Früher war's so, da gingen wir immer durch ein sichtiges Wetter, und wenn's sich mal diesig anließ, waren gleich ein paar Worte parat, um wieder offene Freibahn zu machen. So zogen wir beide durch Licht und konnten uns finden und konnten uns gegenseitig helfen und nützen und, wenn's nötig war, auch mal hart aneinander geraten, aber wir verstanden uns doch und wußten genau, wo wir dran waren. Ich für meine Person bin der alte geblieben. Ihr aber, Madam . . .«
Mit einem kantigen Ruck warf er sich die zusammengedrehte Schirmmütze unter die Achsel.
»Seit wann wollt Ihr diese Beobachtung gemacht haben?« fragte sie in einer gewissen Erregung.
»Seit dem vierzehnten Sonntag nach Trinitatis, gehorsamst zu melden. Ich kann mich nicht irren, denn genau an dem Tage stand der junge Kaplan auf der Kanzel und las das siebzehnte Kapitel aus dem Evangelium des heiligen Lucas und sagte: Er aber sprach zu seinen Jüngern: Es ist unmöglich, daß nicht Ärgernisse kommen; wehe aber dem, durch welchen sie kommen. Und dann erzählte er die Geschichte vom Meer und dem Mühlstein, und wenn Ihr Euch selber besinnt, dann werdet Ihr sagen: Das kann seine Richtigkeit haben.«
»Kosman,« versetzte sie mit erhobener Stimme, »Ihr spielt auf den Tag an, an dem wir uns begegneten: Hans Harkort und ich. Damals zwischen den Wiesen . . .«
»Das tu' ich und habe nur immer gedacht: Schade, daß alles vorbei ist.«
»Kosman . . .!«
»Madam,« fuhr er auf, »das Gegenteil wäre besser gewesen; denn seit dieser Zeit erhielt ich kein freundliches Wort mehr, ging vieles seinen unebenen Schritt und verlor sich das schöne Vertrauen und Einverständnis zwischen uns beiden, und es gab eine Stunde, in der Ihr mir sagtet: Kosman, hier meine Hand! Und diese meine Hand lege ich auf das väterliche Erbe – und die Wasser sollen sich wieder übers Wehr stürzen, so, wie sie heute es taten – und die Mühlen sollen gehen wie in früheren Zeiten – und alles soll sein, wie es war in den Tagen des Glückes. Euch aber, Kosman, Euch will ich als meinen Sachwalter aufstellen, als Leiter und Führer über das, was ich habe, in gemeinsamer Pflicht, auf daß die Vergangenheit die bösen Augen zumacht und die Zukunft freundlicher werde . . . und dann glaube ich: ich kann wieder leben; denn Arbeit ist Leben.«
Sie warf den Kopf in den Nacken.
»Und tat ich es nicht?«
»Nein, Ihr tatet es nicht. Möglich, Ihr wißt es nicht selber; aber Ihr tatet es nicht. Wo ist die erste Freudigkeit geblieben? Euer Zugreifen? Euer Zupacken? Seit der Stunde, wo der junge Kaplan vom Mühlstein und dem tiefen Meere erzählte, begannt Ihr damit, unnötige Dinge zu wälzen. Und Eure Hand wurde stur und Euer Sinn eigenwillig, und das, was wir gemeinschaftlich dachten, ging so recht nicht mehr über denselbigen Leisten. Ich habe Bange: es wird still um Euch, denn ich frage Euch bloß: Hat die Vergangenheit die bösen Augen zugemacht? Wird die Zukunft friedlicher werden? Madam, ich hab' meine eigene Ansicht darüber, und weil ich sie habe, bin ich der Meinung, daß ich mich eine Tür weiter begebe.«
»Ihr . . .!«
Mit einem herrischen Schritt kam sie näher.
»Das wagt Ihr mir ins Gesicht zu sagen, mir, der Ihr in die Hand gelobtet, unverbrüchlich zu mir zu halten, mochte auch kommen, was wollte? Und was ich Euch selber gesagt hab': Unsere Hände haben etwas Gemeinsames. Sie verstehen sich, Kosman, und wissen: auf solche Hände kann sich ein Mensch schon verlassen. Sie nehmen nichts Falsches an und verausgaben nichts Falsches, und wenn es darauf ankommt: die eine weiß nicht, was die andere tut oder getan hat, und dennoch wissen sie schließlich ganz genau: es ist etwas Gutes gewesen. Auch das soll nicht wahr sein?«
Ein plötzliches Zittern erschütterte ihren Körper.
»Kosman, auch das soll nicht wahr sein?«
»Madam, da sei Gott vor!« wehrte er ab und hielt ihr beide Hände entgegen. »Aber es muß mir vom Herzen herunter . . . und dennoch: ich will den heutigen Tag und den heutigen Abend nicht stören, denn er ist ein heiliger Tag und ein heiliger Abend. Es ist besser, wir sprechen später darüber. Morgen vielleicht oder übermorgen . . . aber eins muß ich heute noch sagen, sonst finde ich so recht keine Besinnung und meine, ich hätte etwas verpudelt auf Erden. Madam« – und er zupfte an den silbernen Ringen, die er in seinen Ohrläppchen hatte – »die habe ich seit vierzig Jahren getragen, und sie sind mir bekömmlich gegen Reißen und alle Unpäßlichkeiten im Leben gewesen, aber gegen das hier« – und er klopfte sich mit der Faust auf die Brust, daß es einen schweren und dumpfen Ton gab – »gegen das hier haben sie mir niemals geholfen. So'n Herzweh läßt sich durch silberne Ringe nicht zum Teufel kurieren. Da muß man sich anderweitig benehmen. Das will ich; und warum ich hier fortmöchte? Ich kann das Elend nicht länger mehr ansehen – hier das auf den Wassermühlen nicht und das auf Op gen Oort, offen gestanden, erst recht nicht. Und darum . . .«
»Ihr sollt schweigen, Kosman!« begehrte sie auf, »oder wollt Ihr mich gänzlich zerdrücken?«
»Madam« – und der Alte war erschüttert bis in die Knochen hinein – »Jansenius war hier. Vor einigen Tagen. Ihr kennt doch Jansenius?«
»Was soll das? Er steht mir nicht näher. Ich will mich nicht mit allen Menschen ins Einvernehmen setzen. Ich kenne ihn kaum dem Namen nach. Und wenn er auch hier war – was soll ich mit ihm?«
»Ich will ausdrücklich gesagt haben,« fuhr der Alte mit erhobener Stimme fort, »Jansenius von Op gen Oort.«
Sie kehrte sich ab.
»Gut denn,« rief er ihr zu, »er kam in Geschäften. Drei Fuhren sollen noch klein gemacht werden – Weizen und Gerste.«
Sie warf den Kopf herum.
»Kosman, was hat das mit Eurem Herzweh zu schaffen?«
Ihre Worte waren die einer Gefühllosen.
»Direktemang nichts. Aber drei Fuhren mit einmal. So was ist im Gegenteil aufmunterierend und vergnüglich für die Wassermühlen zu hören. Doch wie gesagt: solches nur nebenher. Er ist eigentlich wohl aus einem anderen Grunde gekommen; denn wenn Jansenius sich in eigener Person aufrappelt, wenn er werkeltags von seinen Geschirren und Äckern marschiert, um Weizen und Gerste zu's Mahlen anzumelden, dann ist so 'ne Geschichte man ein powerer Vorwand, sich was Tieferes von der Seele zu reden. Madam, da steckt ein schlimmes Zeichen dahinter.«
»Nun?« fragte sie mit aufgerissenen Augen.
»Daß ich's hiermit bestelle. Drüben steht es gar nicht zum Besten. Auf Op gen Oort sitzt ein Armer. Der will mit dem Kopf durch die Wand. Dem geht es wie mir« – und wieder schlug er sich mit der Faust gegen die Brust – »der hat ein kaltes Eisen hier liegen, einen stählernen Ring, und ist wie einer im Wasser, der den Grund nicht mehr hat und nicht wieder an Land kann.«
Sie zuckte auf wie unter einem Peitschenhieb. Eine gespenstische Hand umschnürte ihre Kehle. Sie war keines Wortes mehr fähig.
»Madam,« sagte Kosman, und seine Stimme war weich und einschmeichelnd und lieb und zutraulich wie die eines gütigen Helfers, »heute Abend ist Sinter Klaas-Abend. Da wird einem ganz anders, da legt man still das Werkzeug beiseite und die Arme zusammen und denkt darüber nach, was war und was ist und was noch passieren wird. Da kommt einem die Jugend zurück und alles, was wir als Kinder liebten und was uns glücklich machte. Und da tun sich die Menschen zusammen und setzen sich froh nebeneinander und nehmen sich gegenseitig alle Not fort. Und wenn da zwei vereinsamt sich fühlen, einer hüben und einer drüben, und finden den Mut nicht oder den Willen nicht, sich die Hände zu reichen, oder wenn da Bedenken sind, die einen in die Knie drücken und sagen: Für euch gibt es kein Glück und kein Heil mehr – der Sinter Klaas-Abend ist wie ein leibhaftiger Engel, wie ein Bote des Herrn, und weiß das alles wieder ins gleiche zu bringen. Madam, Ihr habt doch vor, den heutigen Abend zu feiern?«
Eindringlich waren seine Blicke auf die Herrin gerichtet.
»Ja,« sagte sie zögernd, und ein helles Wasser stand ihr in den schwimmenden Augen, »das will ich. Für Euch, Kosman, und für alle Knechte und Mägde.«
»Und für Euch nicht?« fragte er atemlos.
»Ich will nichts von Sinter Klaas,« versetzte sie kühl. »Nein,« und ihr Körper erstarrte, »ich will nicht.«
»Aber ich!« rief der Alte, »und da Eure Person nicht dabei ist, so kann ich auch hierorts nicht feiern. Daß so was kommen mußte – schade, sehr schade! Aber ich weiß schon, wo ich den heiligen Abend begehe . . . und wenn Ihr mich noch nötig habt, wenn Ihr mich noch brauchen könnt – ich bin bei meinem Freund Cornelis Höfkens zu finden. Adjüs denn, Madam!«
Gesenkten Hauptes verließ er das Zimmer.
Alles Blut war ihr aus dem Antlitz gewichen.
Langsam hob sie die Arme.
»Kosman . . .!« rief sie ihm nach, wie eine Irre, wie eine Verzweifelte.
Aber der Alte hatte bereits Feierabend gemacht, war auf seine Kammer gegangen, um sich festtäglich zu kleiden und dann auf seine Art Sinter Klaas zu begehen.
* * *