Joseph von Lauff
Sinter Klaas
Joseph von Lauff

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20

Die Höfkenssche Mühle im Schnee!

Auch sie hatte Feierabend gemacht. Wie ein einsamer Zyklop, mit Pudermantel und weißer Kalotte, ragte sie in den Dunst des kalten Winterabends hinein, der langsam heraufzog. Stumm und schwarz kam es wie ein Rauch daher. Nur im tiefen Westen, nach Hasselt und Huisberden zu, suchte ein mattes, kränkliches, lebloses Rot durch das frostige Grau des heimgegangenen Tages zu dringen. Bald war auch dieses vergangen; aber die Bilder eines niederrheinischen Sinter Klaas-Abends begannen sich allmählich zu regen. Schneeblau war alles. Auf den zugefrorenen Wassern stöhnte das Eis. Unter den Schritten der noch einsam ihres Weges dahinziehenden Menschen zwitscherte die kalte Decke wie hungrige Mäuschen, ein schneidender Wind machte die Bäume aufseufzen und scharfe Kristalle niederrieseln. Die Vorboten neuen Schneetreibens, das gemächlich aus der Niederung vormarschierte, traten in die Erscheinung.

Inzwischen war es völlig dunkel geworden. Nur aus der Holländer Kat, wo Nöllecke Reigers, Cornelis sein erster Gesell, das Zeitliche segnen wollte, drang ein matter Lichtschein ins Freie. Ein zweiter stand unmittelbar neben der Mühle, war aber breit und wohlgenährt und ließ die gehäkelten Vorsätzer, die hinter den Fenstern standen in ihrer ganzen Nettigkeit aufleuchten. Drüben Not und Elend und hier die große Feier eines stillen Behagens.

Ungefähr um die Stunde, wo Franziska Simonis wissend geworden war und die Arme zur Decke streckte, saß Cornelis Höfkens mit übergeschlagenen Beinen im Lehnstuhl, seine Tonpfeife rauchend und auf das anmutige Geprätzel von Bratäpfeln horchend, die auf einem Porzellanteller in der Ofenröhre schmorten. Es war genüglich warm in der Stube. Knochentrockene Eichen- und Buchenstubben, an denen ein knisterndes Feuer herumknabberte und dazu anheimelnde Wintergeschichten erzählte, durchkachelten das Zimmer bis in die äußersten Ecken. Kein Eisblümchen wagte es, seine glitzernde Pracht zu entfalten, und versuchte so ein Vorwitznäschen es dennoch, Kelch und Staubfädchen anzusetzen, zerfloß es sofort unter rinnenden Tränen.

Auf dem weißgespreiteten Tisch stand eine große Schüssel mit Goldreinetten, mit Nüssen, Lebkuchen und sonstigen Leckerbissen, die mit dem angenehmen Duft nach Wacholder und Arrak, der von der nahen Küche herüberwehte, lieblich die Nasenflügel des insichgekehrten Mannes belebte.

Heute war für ihn der erinnerungsreichste Abend des Jahres. Das machte ihn nachdenklich, dazu heiter und angeregt, wenngleich er auch das traurige Geschick, das über die Holländer Kat gekommen war, aufs tiefste beklagte.

Ihm gerad gegenüber, zu Häupten des mit Wachstuch überzogenen Sofas, hing das Bild des Reitergenerals Friedrich Wilhelm von Seydlitz – Seydlitz, kurz vor dem Einsetzen der Schlacht von Roßbach, Seydlitz auf feurigem Rappen an der Spitze seiner straffen Schwadronen, den Tonstummel in die Luft werfend, die Attacke gebietend. Es schmetterte ordentlich mit Fanfaren aus dem Bilde von Camphausen . . . und hier, auf diesem Windmühlenhügel hatte er als Junge die sausenden Flügel durchritten . . .

Cornelis nickte ihm zu.

»Brav so! Immer man weiter, immer man weiter! Solche Leute haben wir nötig«, und er deklamierte vergnügt vor sich hin: »Herr Seydlitz, Gott zum Gruße . . .« als sich plötzlich die Tür öffnete und die Wirtschafterin, Mamsell Apollonia Korthals, ins Zimmer rauschte – etwas kurzatmig, aber gediegen, behäbig gekleidet, ein neckisches Schürzchen vorgebunden, schwere Goldspiralen unter der holländischen Knippmütz und mit einem Gesicht, frisch und rosig wie der Posaunenengel über dem Predigtstuhl in der hiesigen Pfarre.

»Mynheer,« fragte sie mit schönen Augen, indem sie ihre sanften Wurstfinger gottergeben auf dem etwas kompletten Bäuchelchen zusammenlegte, »wird noch wer heute zu Abend erwartet?«

»Daß ich nicht wüßte, Mamsell. Pitt Lörksen und Dores feiern zu Hause, um dann noch so'n kleines Extravergnügen im ›Dicken Tommes‹ zu haben. Eigentlich müßte ich hin, aber bei dem heutigen Wetter . . .«

»Auch Kosman Kraneboom nicht?«

»Glaub's kaum. So'n Faktotum darf auf den Wassermühlen nicht fehlen.«

»Dann will ich den Punsch für uns beide schon richten.«

»Man zu!« versetzte Cornelis, erhob sich und warf neue Kloben ins Feuer. »Wärme von innen und außen, so was hält den armen Kadaver zusammen.« Er schnalzte mit der Zunge. »Mollig, sehr mollig! Aber was ich sagen wollte, Mamsell . . . Ist die Holländer Kat auch bedacht?«

»Alles besorgt,« und sie zählte an den Fingern herunter: »Der Frau 'nen neumodischen Umhang, honett, aber gediegen, den Kindern Strümpfe und Schuhe, nebst 'nem Deputat Äpfel und Nüsse, und für Nöllecke selber 'ne tuchene Jacke. Er braucht's aber kaum noch.«

»Steht's denn so miserabel mit ihm?«

»Mehr als das. Ganz miserabel. Der wird nicht wieder und kann nicht mehr werden. Morgen ist's alle. Die Frau war schon bei mir und fragte nach dem besten Geschäft fürs Totenhemd. Sie will's vom nobelsten Ende haben. Ich kann's ihr auch gar nicht verdenken, denn sie lebten wie die unschuldsvollen Turteltauben und Karnickels zusammen. Die ganze Wirtschaft eine einzige Liebe. Für Nöllecke alles, sagte sie weinend. Auch der junge Kaplan ist soeben vorübergegangen, und wenn der mit die letzte Ölung erscheint, kriegt bald der Spaten zu schaffen.«

»Herr, mache es gnädig!« meinte Cornelius und setzte sich wieder.

In diesem Augenblick klopfte es von draußen gegen die Scheiben.

»Christus!« rief die Mamsell und griff nach ihrem Herzen, das laut unter dem weichen, gehäkelten Seelenwärmer trommelte. »Man kriegt ja zuviel bei so 'ner Geschichte!«

Auch Höfkens war erregt von den Binsen gefahren, aber da klang es: »Grüß Gott, Sinter Klaas! Heelmoijen Abend, Cornelius!«

»Na, so was!« atmete Höfkens auf. »Das ist ja . . . 'rein man, immer 'rein man!« und der Wirtschafterin gebot er: »Mamsell, jetzt 'ne Bowle für dreie!« und als diese vergnügt in die Küche trudelte und Kosman Kraneboom fahrig über die Schwelle trat, hieß ihn Cornelis herzlich willkommen, drückte ihn in einen bequemen Lehnstuhl hinein, reichte ihm eine gestopfte Gaudaer Pfeife, brachte einen brennenden Span zu und sagte: »Nu wird's Licht! Kosman, was heißt das?«

»Das soll heißen, Cornelis,« versetzte der Ankömmling, indem er den Tabak gemächlich in Brand setzte, »daß ich mich drüben ausgeklinkt habe und mich für heute anderweitig einrichten möchte, und wenn ich nicht ungelegen komme . . .«

»Unsinn! Ich hab' schon 'ne Bowle für drei in Bestellung gegeben.«

»Merci, dann bleib' ich,« sagte der Alte und machte sich's bequem, »denn so'ne Stunde kommt nur einmal im Jahre, und die will ich vergnüglich vertun und so, wie ich's vom Emmericher Eiland her noch in der Gewohnheit besitze. Da ging's einfach zu, aber jedes mit Liebe und Andacht, und so was kann ich nicht missen, denn am Sinter Klaas-Abend wird einem so heilig, als wenn man auf goldenen Schuhen retour machte, ins Kinderparadies hinein, als wenn Vater und Mutter noch da wären und einem 'ne liebevolle Hand über den Kopp ginge, ganz fromm und behutsam – und das kann man auch jetzt noch gebrauchen, denn wie lange noch, und es ist alles vorüber. Für das, was gewesen ist, gibt der Jud keinen Pfennig, und da dachte ich mir: Willst bei Cornelis mal vorsprechen, um 'n Stück Jugend aus dem Bilderbuch des Lebens zu sehen.«

Höfkens nickte ihm zu und fragte dann zögernd: »Und das konntet Ihr da drüben nicht haben?«

»Nein,« sagte Kosman mit erloschenen Blicken, und seine Hand machte eine zitternde Geste. »Um das zu erklären, muß ich den richtigen Ausdruck gewinnen. Das ist nicht so einfach und geht nicht so flott von der Leber herunter; da muß einer fein spekulieren, um alles auf den gehörigen Karren zu laden. Cornelis, Ihr wißt ja« – und nachdenklich sah er den blauen Kringeln nach, die er gegen die niedrige Decke wölkte – »ich und die Wassermühlen sind doch von jeher wie zwei gute Freunde gewesen, und wer dran gerappelt hätte, den hätt' ich ins Stauwehr geschmissen.«

»Kosman, das weiß ich.«

»Dann könnt Ihr auch wissen, daß keine zehn Pferde mich von den Mahlgängen weggebracht hätten?«

»Auch das,« bestätigte Höfkens.

»Und daß es allzeit mein innigster Wunsch war, von dort aus auf den Kirchhof zu kommen?«

»Und jetzt?«

»Ich hab' keinen Animo mehr und will mich verändern.«

Der alte Müller machte unfaßliche Augen, und der Mund stand ihm offen, wie er einem Drogisten offen steht, wenn er mit gefesselten Händen zusehen muß, wie ihm sein bestes Fäßchen Provenceröl ausläuft.

»Kosman, Ihr werdet doch nicht . . .?!«

»Warum nicht?« sagte der Alte, rauh und schartig, und hob sich steil in die Höhe. Dabei schliff er erregt mit Mittel- und Zeigefinger rund um Bartfräse und Hemdenkragen, als säße ihm ein Strick um die Kehle. »Schockschwerenot! ich will doch meine Seelenruhe behaupten. Was Simonis und Jan van den Birgel uns eingebrockt haben, benimmt mir den Atem. Die Luft ist mir zu stickig geworden. Ich halt's nicht mehr aus. So was kann kein Vieh nicht vertragen, geschweige denn erst ein Mensch mit hellen Gedanken und mit Ohren, die hören, und mit all der Liebe im Herzen.«

»Kosman, was los denn?«

»Cornelis« – und die Stimme des Alten kroch in sich zusammen und verbarg sich vor innerem Grauen – »was ich glaubte halten zu können, um ihm gediegen in die Parade zu fahren, das geht seinen Gang, als hätte es mit dem Satan 'nen Kontrakt angefertigt. Nichts mehr zu machen. Das läuft mit der Promptheit einer akkuraten Maschine; denn was ich bei ihr jetzt erlebte . . . Zwei Menschen wollen sich langsam verbluten: er drüben und sie auf den Wassermühlen, und in so 'nem Haus kann ich den heutigen Tag nicht beschließen, auch die übrigen nicht, und weil ich das weiß, muß ich nächstens fortmachen, da ich nicht sehn will, wie die Not immer näher herankriecht. Das ist es. Ich will doch meine fünf Sinne besitzen, und so habe ich mich hieher begeben, um den heutigen Abend . . .«

Seine Worte zergingen.

»Ich danke Euch, Kosman, ich danke Euch vielmals . . . und hier so am bekömmlichen Ofen –«

Das war alles, was Cornelis vorbringen konnte. Auch ihm erstarb jede Silbe zwischen den Zähnen. Er zählte die einzelnen Pendelgänge und verfolgte den großen Zeiger, der bedächtig auf voll rückte. Dann ein vernehmliches Seufzen hinter dem buntilluminierten Zifferblatt; ein Türchen sprang auf, und ein Kuckuck ließ seinen hellen Waldruf vernehmen.

»Fünf Uhr,« sagte Cornelis, aber so, daß er das tiefe Schweigen nicht störte.

Für einige Minuten blieb es still in der Stube. Nur zeitweilig ein verhaltenes Fußscharren und das schwere Atemholen der beiden Einsamen, die ihren Gedanken nachhingen und sich wie verirrte Kinder immer mehr in Not und Bedrängnis verloren, als sich unversehens ein Sirren und Klingen erhob, das im Rauchfang auf und nieder rumorte und sich mit scharfen Schwingen um die Mauern bewegte. Gleichzeitig knisterte es hart gegen die Scheiben.

»Nu geht's mit 's Schneetreiben aufs neue los,« meinte Kosman und setzte sich wieder. »Ah! aber die verfluchte Geschichte!« Mit beiden Händen umgriff er die Lehne. »Und da hinten . . . was bimmelt da so?«

Die beiden horchten auf das Geriesel der eisigen Kristalle und auf ein ängstliches Stimmchen, das sich mit kurzen Unterbrechungen durch die Windstöße arbeitete. Immer näher kam es heran, immer heller und nachhaltiger. Ab und zu setzte es aus, um dann um so lauter zu gellen.

Cornelis spitzte die Ohren. Erregt sprang er auf.

»Nu ist's alle mit Nöllecke Reigers,« meinte er traurig. »Gott, die armseligen Menschen! Wollen mal nachsehen,« und er ging hin und schlug das Fenster zurück. Ein frostiges Bild hauchte ihn an, grau in grau und von Myriaden eiliger Flöckchen durchgeistert.

Kosman Kraneboom war dicht an seine Seite getreten. Da sahen sie: ein halbwüchsiger Junge wollte draußen an ihnen vorüber. Vor ihm her lief der dunstige Schein einer kleinen Laterne, die in seiner Linken auf und nieder schwankte. Mit der Rechten weckte er den Ton einer emsigen Schelle und drehte dabei den bloßen Kopf gegen das kalte Gestöber. Hinter ihm folgte die hohe Gestalt eines Geistlichen, dessen Hände auf der Brust sich kreuzten und scheinbar eine Kapsel umspannten.

Cornelis rief ihn an und sagte: »Herr Kaplan, wollen Sie nicht die Mühle beehren? Ich hätte noch was von wegen Nöllecke Reigers zu fragen.«

»Ich nehme die Einladung dankbar an,« kam es freundlich zurück, »um so mehr, als ich noch einen zweiten Barmherzigkeitsgang zu machen habe – und du, Hermann,« mit diesen Worten wandte sich der Kleriker an den jugendlichen Mesner, »geh' nach Hause, sprich aber noch bei meiner Wirtschafterin vor und sage ihr, ich käme erst später. Sie braucht nicht zu warten,« und damit barg er die silberne Kapsel mit dem Allerheiligsten in seine Soutane, stäubte den Schnee von den Schuhen und trat in den Hausflur, empfangen von Cornelis und Kosman, die ihn mit einer gewissen Fürsorge in das warme Zimmer geleiteten.

Hier schüttelte Andreas Lobbers ihnen die Hände, legte Chorhemd und Stola beiseite und begrüßte die Stube, die so feiertäglich aufglänzte, als hätte sie einen Abgesandten des Herrn empfangen.

»Bei euch ist wohl sein,« sagte er gütig, »aber der Wechsel der Dinge tritt einem hier in seiner ganzen Schärfe und Bedeutung entgegen. Vom Sterbebett in das Behagen des Friedens. Drüben die schwere Hand des Geschickes; hier die milden Augen aus der Kinderzeit und die lieblichen Schauer des heiligen Abends.«

»Und wie geht es bei Reigers?« fragte Cornelis.

»Morgen wird er befreit sein, und wenn die letzten Seufzer des Herzens seiner Seele gebieten, vom Leibe zu scheiden: ich glaube, er hat alsdann die Huld und Güte seines Erlösers gefunden. Trotz des tiefen Jammers, der sein Krankenlager zu einem trostlosen machte, er fügt sich mit christlicher Geduld in den Willen seines Hirten und Schöpfers. Seine Seele ist heiter. Ich trage kein Bangen um sie, aber um Weib und Kinder, da bangt's mich.«

Mit einem traurigen Lächeln legte er die weißen Hände zusammen.

»Das laßt meine Sorge sein,« versetzte Cornelis. »Was die Rechte tut, soll die Linke nicht wissen. Sonst ist kein Segen dabei. Was ich an Nöllecke besaß, das wird ihm auch bei seinem Tod nicht vergessen. Wir hatten immer ein arbeitsames und selbstloses Schaffen zusammen. Drum soll es auch auf sein Dach träufeln, wenn's auf das meinige regnet.«

»Ihr sprecht im Sinn eines guten Sachwalters,« meinte Andreas, »denn geschrieben steht im Buche der Sprüche: Spende dem Herrn von deinem Gut und von den Erstlingen all deines Einkommens! So werden deine Scheunen voll werden und deine Kelter von Most übergehen.«

»So ist es,« sagte Cornelis, »und nu, Herr Kaplan, wenn ich bitten darf . . .« und er rückte ihm den nächsten Sessel zurecht, und als sie sich niedergelassen hatten und die sauber gespreitete Tafel sie anlächelte, schob Apollonia Korthals ihre Bänderfladuse ganz behutsam durch den Türspalt und schmunzelte: »Mynheer Höfkens, ich bin so weit fertig.«

»Schön!« meinte Cornelis, »aber jetzt 'ne Bowle für viere!«

»Hab's schon gemorken,« entgegnete die Mamsell mit einer sinnigen Verbeugung, zog sich zurück und brachte gleich darauf eine dampfende Suppenterrine ins Zimmer, die mit allen Düften des Orients apothekerte, und während Apollonia einschenkte und die Gläser sorglich verteilte, fragte Cornelis: »Ihr habt da soeben von 'nem zweiten Barmherzigkeitsgang gesprochen. Ich meine bei diesem sibirischen Wetter . . . hat's weit noch. Hochwürden?«

»Ein halbes Stündchen vielleicht. Aber warum diese Frage?«

»Und das zu Fuß, Herr Kaplan?«

»Wie sollte ich anders? Die Jünger des Herrn bedienten sich hierzu lediglich ihrer abstrapazierten Schuhe und sind dabei trefflich durchs Leben gekommen.«

»Schon möglich, das mit den Jüngern. Die befanden sich in Palästina und in 'nem ewigen Sommer. Hatten also keine großen Molesten. Aber hier zu Land und das bei fußhohem Schnee und fünfzehn Grad Kälte . . . gar nicht zu machen, Hochwürden. Mamsell! – Christ soll den Braunen anspannen und später mit dem Schlitten vorfahren. Man hat's so perfekter.«

»Aber Herr Höfkens . . .

»Abgemacht und streu' Sand über die Sache!« und da ging Apollonia mit ihrem heißen Punschglas hinaus, um das Gebot weiter zu geben.

»So nehme ich denn auch dieses dankbar an,« sagte Andreas, »denn der Weg, den ich noch zurückzulegen habe, liegt mir schwer auf der Seele. Uns aber werde ein gesegneter Sankt Nikolaus-Abend!« und er nahm sein Glas, stieß mit dem Gastgeber und dann mit Kosman an, und als sie getrunken hatten, begann er wieder leise zu sprechen und sagte: »Ich erwähnte schon vorhin: hier in diesem traulichen Zimmer ist wohl sein. Eine begnadete Weltabgeschiedenheit umfängt uns. Nicht das Geringste stört hier die beschauliche Ruhe. Die bösen Geschehnisse und Unerträglichkeiten des Tages dringen nicht in diesen verschwiegenen Winkel. Selbst der Zimmermannssohn aus Nazareth würde gerne hier rasten und sagen: Lasset die Kleinen zu mir kommen . . . denn alles und jedes freut sich auf seine Art und ruft nach dem Herrn. Wundert euch nicht, daß ich in dieser Weise zu euch rede. Aber das Herz geht mir über, und eine linde Hand führt mich sacht und unauffällig in das Reich, wo ich meine Jugend verlebte. Und dieses Reich – ach, wie so einfach, so unscheinbar und ärmlich und doch von der Aureole des Übersinnlichen verklärt und erhoben! Nur Kappesfelder und Rübenäcker umgeben mich. Aber zwischen diesen Kappesfeldern und Rübenäckern liegt Keppeln . . . und am Eingange des Dorfes eine schlichte und einsame Schmiede . . . und gerade wie damals: dort der Ofen mit seinem geheimnisvollen Plaudern, und da das mäuschenstille Gehen des Pendels und das duftige Näseln der Äpfel . . . alles wie früher, alles wie früher! . . . und draußen das Rieseln des Schnees und ein Klopfen mit scheuem Finger gegen die Scheiben, das das Nahen des heiligen Mannes verkündet. Ein großes Wunder in der Winternacht! Es ist wie ein Ewiges, Unsagbares, Allumfassendes, so recht dazu angetan, den heutigen Abend als Kind zu begehen,« und wieder legte er seine weiße Hand um das Glas, hob es auf und sagte: »Mögen wir Kinder bleiben in diesem Sinne, Kinder unseres Vaters im Himmel, den Frieden im Herzen. Ja, meine Getreuen, und wir wollen derer gedenken, die diesen Frieden nicht haben, und zu Gott beten, daß er ihnen einen solchen verleihe. Noctem quietam et finem perfectum concedat nobis Dominus omnipotens. Das füge eine liebe Vorsehung,« und sie tranken aufs neue und stellten ihre Gläser wieder stumm vor sich hin, als wenn sie etwas Geweihtes auf den Tisch setzten.

»Herr Kaplan, das war lieblich geredet,« begann Kosman zu sprechen, wie aus einem Traum und aus einem schönen Erinnern heraus. »So was vergißt sich nicht wieder und kommt einem vor wie 'ne Ansicht aus 'nem feinen Bilderbuch, wobei einem ein freundlicher Herr 'nen Guckkasten vorhält und einem zuwinkt: Man immer frisch in die Röhre gesehen! Da findet ihr alles, was euch glücklich machte: die Jugend und Vater und Mutter und Sinter Klaas und all die kleinen Sächelchen des Lebens, aneinander gereiht wie die niedlichen Steinchen in einem Baukasten. Und als Ihr so spracht, da war es mir gerade, als säße ich in dem kleinen Häuschen zu Bethanien, bei Maria und Martha, und hörte die Stimme des Herrn und das, was er zu sagen hatte. Besonders das eine: Wir wollen derer gedenken, die diesen Frieden nicht haben, und zu Gott beten, daß er ihnen einen solchen verleihe. Ja, Herr Kaplan, da habt Ihr den Nagel direkt in die richtige Bordwand getrieben. Da führen viele Stationen zum Ölberg, und da stehen Kreuze bei Kreuze, hölzerne und eiserne und solche von Stein, schwarze und weiße. Und einige hängen windschief und wollen über die Grabschollen fallen.«

Mit einem dumpfen Laut ließ er die Hand auf den Tisch poltern.

»Äh, diese Kreuze!«

»Aber, mein Bester, weshalb diese Erregung?« fragte Andreas.

»Herr Kaplan,« fuhr der Alte unbeirrt fort, »und all diese Kreuze gehören zu denen, die nicht das Leben mehr haben, die tot sind, und andere wieder werden noch von lebendigen Schultern getragen . . . und eines ist drunter, das schleift und zieht durch den Schnee und die jetzige Stunde . . . und der Mann, der es trägt . . .«

Eine rasche Gebärde des jungen Geistlichen unterbrach ihn.

»Kosman,« sagte er mit zuckenden Lippen, »zu ihm will ich jetzt. Ich will nach Op gen Oort. Das ist mein Barmherzigkeitsgang. Als Simon von Kyrene muß ich versuchen, ihm seine Bürde leichter zu machen. Ihr denkt an Hans Harkort?«

»An ihn denke ich. Aber da ist noch ein anderes Kreuz –« und der Alte straffte sich hoch und fuhr sich mit der Hand über die Stirn und die eisgrauen Haare, – »da ist noch ein anderes Kreuz . . . das schleppt sich von den Wassermühlen herunter . . . das kommt den Fahrweg herauf . . . und pilgert an der Mergelgrube vorbei . . . und geht über den Hof fort . . .. und ist noch schwerer als das von Hans Harkort . . . und die, die es trägt, läßt blutige Spuren hinter sich . . .«

»Franziska Simonis!« rief Andreas und faltete die Hände. »Sursum corda! Lasset uns beten!« – und draußen schlug die Hausglocke an, und Stimmen waren im Flur, und wie von einem Geist in Bewegung gesetzt, drehte sich langsam die Angel.

Entsetzt und mit allen Zeichen des Schreckens sahen die drei auf den Eingang, wo das ernste Gesicht der Mamsell erschien und ein verstörter Mund die Worte hervorstieß: »Mynheer Höfkens, hier neben . . .«

Aber sie kam nicht weiter.

Franziska Simonis stand bereits auf der Schwelle, von den Unbilden des Wetters mitgenommen, barhaupt, die Blicke geweitet, als wenn sie in eine Ewigkeit sähe, und nur ein dünnes Tuch um die Schultern geschlagen. Ihre Brust ging hart und stürmisch, und ihr gelöstes Haar hatte sie mit kalten Fingern darüber gezogen.

Mechanisch drückte sie die Tür hinter sich zu. Sie mußte sich gegen die Füllung lehnen, um nicht niederzusinken. Ein schmerzlicher Laut rang sich auf; dann sagte sie tonlos: »Ist Herr Höfkens zu sprechen?«

»Hier bin ich, Madam.«

Ganz fassungslos war Cornelis nähergetreten.

»Mein Gott, Frau Simonis! Womit kann ich dienen? Ist etwas passiert auf den Mühlen?«

Sie gab keine Antwort; nur ein trauriges Lächeln war bei ihr.

Andreas und Kosman winkten sich zu und machten Anstalten, das Zimmer zu räumen. Sie wollten nicht stören.

Da hob sie den Kopf und sagte mit tränenerstickter Stimme: »Nein, Hochwürden . . . lassen Sie das . . . bleiben Sie . . . gehen Sie nicht! Auch Ihr, Kosman . . . auch Ihr dürft nicht gehen . . . auch Ihr müßt bleiben, um mir diese Augenblicke leichter zu machen . . .« und dann holte sie tief Atem, zwang ihre Erregung nieder und sagte, indem sie ein erbrochenes Schreiben aus ihrem Mieder holte und es zwischen den Händen zerknitterte: »Das hier wurde mir von Amts wegen zugestellt. Vor wenigen Stunden erst. Es enthält die Herzensschreie eines Mannes, dem die Not bis an den Hals ging und dem alles daran gelegen war, seine bürgerliche Ehre über Wasser zu halten. Und dieser Mann ist mein Vater.«

Eine Erschütterung lief durch die Umstehenden.

Sie dachten an den Verstorbenen.

Franziska Simonis fuhr fort: »Nicht, daß ich das bittere Geständnis des Heimgegangenen anzufechten gedächte, bin ich gekommen. Nicht der geringste Zweifel wandelt mich an. Jede Silbe, die er niederlegte, gilt bei mir, als wäre sie den Evangelien entnommen. Sein Wort ist mir heilig und kann Berge versetzen. Ich gehe durch offenes Land und durch eine leuchtende Helle, und diese leuchtende Helle soll auch denen werden, die durch Finsternis gingen. Alles Dunkel, das ihn während der letzten Jahre umdrängte, das ihn quälte und zermarterte und ihn irre werden ließ an der Vorsehung Gottes, möchte ich von ihm nehmen mit liebevollen und kindlichen Händen, möchte mich aufrichten am geläuterten Bildstock meines armen Vaters, mir gegenüber und der Welt gegenüber, und so spreche ich denn: Herr Höfkens« – und ihre Blicke waren fest und innig auf Cornelis gerichtet – »es handelt sich bei mir um den letzten Wunsch des Verstorbenen. Sie sollen ihm Schwurhelfer sein, Zeuge sollen Sie sein . . . und ich frage Sie dringend: Wollen Sie ihm und mir diese Bitte verstatten und ihm das zukommen lassen, worum er Sie anruft – jetzt in dieser Stunde und in Gegenwart dieser mir befreundeten Männer?«

»Ich will,« versetzte Cornelis, und seine Hand hob sich und senkte sich wieder, »und ich sage schon jetzt: Alles, was mein Kamerad und Solokollege Christian Franz Malthus getan hat, ist ebensogut für mich, als hätte er es im Angesicht seines Erlösers getan und gesprochen.«

Sie nickte ihm zu und fragte: »Herr Höfkens, Sie erinnern sich wohl noch der Deichschöffensitzung, in der meinem Vater das Amt eines Kassenwarts zugedacht wurde?«

»Genau so, als wäre es erst heute geschehen.«

»Und daß am nämlichen Tage Herr Simonis vom Aukamp die Bestallung eines Revisors für die pflichtigen Kreise Geldern und Kleve erhielt und diese auch annahm?«

»Kein Titelchen fehlt daran.«

»Das muß festgestellt werden, um das Weitere verstehen zu können, denn über die Wassermühlen, die seit Menschengedenken das Korn brachen und einen behaglichen Wohlstand verbürgten, spreitete sich die Heimsuchung, und aus dieser Heimsuchung wuchs das Feuer heraus, das Haus und Speicher und den Segen von zweihundertundfünfzig Äckern verzehrte. Das wäre nicht das Schlimmste gewesen. Aber durch dieses Mißgeschick zischelten die Stimmen der Neider, der Einfältigen und Boshaften im Geiste, jene Stimmen, die es unternahmen, dem Schwergeprüften das Ehrenkleid des lauteren Mannes abzustreifen und ihn sündig zu machen.«

»So ist es,« bestätigte Cornelis und hob abermals die Hand, um sie mit einer schmerzlichen Geste wieder sinken zu lassen.

»Und Verpflichtungen stellten sich ein,« fuhr sie in ihrer abgeklärten Weise fort, »Verbindlichkeiten, die mit der Tätigkeit der Baugewerkler ins Ungemessene wuchsen. Allerdings, die Speicher erhoben sich wieder, das niedergelegte Wohnhaus stieg aus der Asche, der Neuzeit angepaßt und mit allen Bequemlichkeiten, die Mühlen arbeiteten mit verdoppeltem Atem, aber die Lasten häuften sich mit jedem Tage und waren kaum zu ertragen. Und dennoch hielt mein Vater die Faust energisch am Steuer und blieb stark und gesund wie ein kerniger Baum mitten im Frühlingswald. Die Krone dieses Baumes begann wieder zu grünen, im herzhaften Splint kreiste der Saft wie in früheren Tagen, und alles wäre auch zu einem erfreulichen Gedeihen gekommen . . . allein da erschienen die heimlichen Mächte, die Finsterlinge, die Menschen mit den gierigen Fingern – und mit ihnen der Mann, der meinen Leib begehrte und meine Seele zerquälte. Und sie kamen wie die Diebe in der Nacht, ringelten den ragenden Stamm und legten Hand an seinen Wurzelstock . . . und da deckte sich ein schwarzes Tuch über die Wassermühlen, über mich und den Vater . . .«

Ihre Worte sanken in sich zusammen. Ihre Blicke schauten nach innen, und langsam fielen ihre Lider über die Augen. Nur ein schmaler Streifen, fein wie ein Seidenfaden, schimmernd wie die zarte Tönung eines Wasserblattes, war übriggeblieben . . . und unter lechzender Spannung, unerbittlich und mit selbstquälerischer Offenheit entwirrte sie das Gespinst, das ihr Leben und das des Verstorbenen umstrickte. Nichts hielt sie davon ab, die Geschehnisse bei ihrem wahren Namen zu nennen. Sie wollte nicht irre führen, nicht die Dinge beschönigen. Folgerung setzte sie neben Folgerung wie die Figuren auf einem Schachbrett. Nichts verhehlte sie, auch das nicht, wo Jan van den Birgel vorsprach, Simonis seine Daumschrauben anzog und ihr Vater schuldig wurde, um doch nicht schuldig zu werden . . . und mit der Energie eines Weibes, das um sein Höchstes und Heiligstes ringt, um Ehre und Ansehen, um die Makellosigkeit von Haus und Herd und das Heil der Familie, riß sie ihre letzten Kräfte zusammen, und mit kühler und sachlicher Erwägung sagte sie tonlos: »Dies mein Geständnis und das meines seligen Vaters, und es handelt sich nur noch darum: war er im schwersten Augenblick seines Lebens stark genug, die ihm aufgebürdeten Lasten zu tragen und seinen Verpflichtungen nachzukommen? Vor allen Dingen jedoch: hatte er Kredit und Reserven, seine geschäftliche Reputation und die seines Hauses über Wasser zu halten? und deshalb, Herr Höfkens« – und ihr Antlitz war bleich und gespenstisch wie der Zipfel eines Sterbehemdes geworden – »auf den dringlichen Wunsch eines Toten hin und in Gegenwart dieser Zeugen und ehrenwerten Männer frage ich Sie: Ist mein Vater kurz vor der Katastrophe in Ihrem Hause gewesen?«

»Er war es.«

»Und hat er Sie gebeten, zehntausend Taler bereit zu halten, um hierdurch allen Eventualitäten begegnen zu können?«

Alle Blicke waren auf Cornelis gerichtet.

Da blitzte ein Wetter auf in den Augen des Angerufenen, ein schönes und heiliges Wetter, und seine Fäuste ballten sich, und seine Stimme rollte: »Wer das bezweifelt und für nicht wahr haben will, dem breche ich das Rückgrat und alle Knochen im Leibe. Auf Parol und so wahr mir Gott helfe, Malthus war bei mir! Die zehntausend Taler lagen bereit . . . standen zu seiner Verfügung . . . waren so gut wie sein Eigentum . . . er brauchte nur die Hände zu strecken . . . alles für Malthus . . . meinen letzten Groschen und Pfennig . . . meinen letzten Sparren und Ziegel . . . Aber er kam nicht und kam nicht, und darüber ist dann Gras gewachsen und Gottes Wasser gelaufen . . .«

»Und an dem kritischen Tage . . .

»Jesus!« rief er fassungslos, »wo ich alles jetzt weiß . . . wo jetzt alles vor mir liegt wie am hellichten Tag . . . ich war fort in Geschäften . . . 'ne Woche oder zwei . . . aber wer konnte denn ahnen . . .«

»Ah!« stammelte Kosman und umkrampfte die Lehne eines Stuhles, um Halt zu gewinnen, während Andreas . . . Er sah es glänzen wie am Ostermorgen, er sah eine feiertägliche Sonne auf den Bergen liegen, und die brachte die Wahrheit . . .

Seine Blicke hoben sich aufwärts.

Sie aber . . . ihr Leib straffte sich in majestätischer Schöne und Reinheit, und ein Schrei kam von ihren Lippen wie der Schrei der Erlösung: »Ewiger Gott, du mein Herr und mein Heiland! Dich rufe ich an . . . zum Zeugen ruf' ich dich an . . . mein Vater ist schuldlos!«

Und sie streckte die Hände.

»Hochwürden, Kosman, Herr Höfkens – er ist kein Verbrecher, nein, er ist kein Verbrecher! – und alle sollen es hören. Hans, auch du sollst es hören . . . nein, er ist kein Verbrecher!« und ihre Arme breiteten sich, als wollten sie das Verlorene wieder an sich reißen, um es nie mehr zu lassen . . . »Hans, Hans, Hans! aus falschem Ehrgefühl heraus bin ich dein Unheil geworden, warf ich dich nieder, zertrat ich mein Glück . . . Hans, kannst du verzeihen?! Vergib mir, vergib mir!«

Die Starre wich von ihr. Ohne einen Laut von sich zu geben, schwanden ihr die Sinne, brach sie wie ledlos zusammen, von Andreas und Kosman gehalten, die sie unter Beihilfe der Mamsell, die eiligst ins Zimmer stürzte, sorglich betteten – dort, wo das Bild des Reitergenerals von der Wand herabgrüßte und das helle Licht der Lampe ihren Leib nicht berühren konnte.

Alles Leid und das letzte Fleckchen der eingebildeten Schande war von ihr genommen.

Und Andreas erhob sich.

»Sursum corda!« sagte er wie aus dem Garten des Paradieses heraus. Wartet auf mich! Bleibt hier! Geht nicht fort! Ich bringe Segen und Freude.«

Gleich darauf fuhr er im raschen Schlitten durch den weißen Sankt Nikolaus-Abend.

* * *


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