Joseph von Lauff
Sinter Klaas
Joseph von Lauff

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5

Er hörte auf die abgehenden Schritte, die sich in der Tiefe des Ganges verloren, auf das Einklinken der Haustür, auf das Rauschen der Frühlingsbäume, das sich inzwischen wieder verstärkt hatte und anmutete wie das ferne Spiel von großen Harfen, die weit drüben in der Niederung von geisterhaften Wesen gespielt wurden, und er lehnte sich in den Sessel zurück und legte die Hände zusammen.

Jetzt gingen die Schritte des Alten über den Hof und dann den Feldweg entlang, der zu den Wassermühlen führte. Es kehrte die vorige Stille zurück. Nur die Wanduhr und die illuminierten Zinnschiffchen, die sich auf dem Zifferblatt bewegten, taten ihren schaukelnden Gang, ohne sich die geringste Ruhe zu gönnen.

Der Einsame hörte die Stille, die durch die weiten Räume des Gutshofes schlich und den Atem anhielt. Die sanfte Helle, die dem grünen Lampenschirm entstrahlte, spann sich zu lichten Fäden aus, zu einem feinen Maschenwerk, auf dem scharfumrissene Bilder erschienen, sonnige und freudige Bilder und solche, von denen man sagen konnte: »O Herr, du mein Gott, warum hast du solche Bilder erschaffen? Denn in ihnen ruht der wehmütige Glanz von heimgesuchten Augen, die nicht mehr weinen können.«

Hans Harkort ließ die Lider herunter, um besser sehen zu können . . . und seine Jugend kam wieder.

Da sah er . . .

* * *

In seiner ganzen soliden Pracht und Herrlichkeit lag der Gutshof unter einem ehernen Himmel. Die Wiesen hatten bereits ihren Grummetschnitt hinter sich. Die Weizen- und Roggenschläge waren abgeerntet, und nur auf den Haferfeldern raschelten die Ähren noch mit ihren glasharten Spindeln. Drüben, von der breiten Wegscheide her, kam das Prusten und Stampfen eines Dampfpfluges, der schon seit etlichen Tagen die brach gelegenen Stücke für die Winteraussaat vorbereitete. Lokomobile und Ankerwagen mühten sich ab, die blanken Messer in gründlicher Tiefkultur durch den schwarzen Boden zu reißen. Gleich fetten Schwarten legten sich die Schollen nebeneinander.

Die Luft war trocken und rein wie Kristall. Die Türme von Emmerich und Kleve sah man scheinbar in Reichweite liegen, so klar und sichtig gab sich dieser glutheiße Sommermorgen, der schon herbstliches Laub um die Stirne trug, aber noch immer frisch genug war, die besten seiner Art in den Schatten zu stellen.

Es ging auf Mittagszeit.

Schwerfällig schritt der alte Adam Harkort, wegen seines würdigen Aussehens auch der ›Marquis‹ genannt, im blauen Leinenkittel, mit weißgestickten Achselzeichen und einem handlichen Kreuzdorn in der Rechten, von seinen Feldern herunter. Er kam nicht allein seines Weges. Sein zweiter Sohn Hans begleitete ihn. Mit dem aalglatten Pontakgesicht, den silbernen Haaren, die sich unter der leichten Mütze hervorstahlen, und dem selbstgefälligen Takt unter dem Leibe, machte der Alte einen stattlichen Eindruck. So wortkarg der Marquis im allgemeinen auch war, er liebte es, sich unter die Leute zu mischen und hier fette Brocken landwirtschaftlicher Erfahrungen an den Mann zu bringen, immer darauf bedacht, sein Ansehen zu stärken und den Großen zu spielen, und wenn sein Schwiegervater, der emeritierte Schulmeister Gerhard Donsbrügge, ihn aufsuchte, schlug er diesem fest auf die Schulter und sagte: »Sieh dich um! Du kennst ja die Gegend. Ohne mich wäre der Kreis in ökonomischer Hinsicht verludert. Jetzt 'ne opulente Sache. Meine Affäre als Kreisdeputierter und Landwirt. Achtung, Sie Knabe!« und dabei war dieser ›Knabe‹ ein Mann, der schwer und mühselig an seinen dreiundachtzig Jahren herumtrug. Protz und tüchtiger Kerl in einer Person, das war dieser Adam, dabei grobkörnig und kratzig wie eine Kardendistel, aber er hatte auch eine Eigenschaft, die ihm gewertet wurde bei Gott und den Menschen. Er liebte sein Weib, wie er sein Anwesen und seinen Augapfel liebte. Mit sorglicher Hand zog er tagtäglich einen Kreis von Aufmerksamkeit und Güte um die ernste und hohe Frau, die er erst nach langer Freite und gegen den Willen seiner Eltern heimgeführt hatte. Sie war sein Stolz und sein alles, und wenn er sie eigenhändig in seinem stattlichen Doppelgespann mit dem silberplattierten Geschirr ins Hochamt kutschierte, dann war es ihm gerade, als hätte er das Heil seines Lebens, sein Glück und seine ganze Reputation zur Kirche gefahren. In ihr wurzelte seine ganze Kraft, seine Bekömmnis und Tüchtigkeit, und er freute sich ihres stillen und emsigen Schaffens. Nur in den letzten Monaten hatte er eine bange Sorge um sie, und allmorgens, wenn er aufwachte, fuhr er ihr liebevoll über Stirn und Augen und sagte: »Kopf oben behalten! Für das da sind noch keine Totenblumen gewachsen. Es wird schon werden, Felicitas.«

Als er mit seinem Begleiter die Einfahrt des stattlichen Hofes erreicht hatte, hielt er den Fuß an und zeigte in die Gegend, aus der noch immer das Stampfen und eigentümliche Schnauben der Lokomobile herübertönte.

»Hans,« meinte er mit sichtlichem Behagen in der ruhigen Stimme, »das wäre geleistet. Der Dampfpflug rentiert sich und schafft mehr als ein Stall voller Gäule. Acht Haferfresser und 'ne Portion Knechte kommen hierdurch in Wegfall. So 'ne Maschine buttert ganz anders, und dein Bruder, wenn er von der Ackerbauschule zurückkommt, wird seine Freude dran haben.«

»Ich habe sie jetzt schon,« sagte der junge Mann mit leuchtenden Augen, und seine Brust hob sich im Hinblick auf diesen neuen Betrieb. »Vater, wenn ich hier so mitmachen könnte!«

»Nix der da!« versetzte der Alte und stieß seinen Kreuzdorn fest in den Boden. »Die Landwirtschaft hat ihre festumzogenen Grenzen, und ein tüchtiger Haushalter hat alle Hände voll zu tun, diese Grenzen zu wahren. Wer drüber hinaus geht, ist als Narr zu verschleißen. Dem Pflug seine Scholle und dem Kalb sein Blöken. Man soll den Gaul nicht beim Schwanz aufzäumen. Das will so die Regel. Jedem sein Teil, und daher: Adrian den Hof und die Wirtschaft mit allem, was drauf ist – und dir das Studium. So hab' ich's beschlossen, so bleibt's. Das ist dreifach verdiebelt. Daran rütteln keine drei Pferde. Auch du nicht. Die Ferien können doch nicht ewig dauern. Wann geht's wieder nach Kleve?«

»In drei Wochen.«

»So, in drei Wochen! Und wann ist das Abiturium fällig?«

»Im kommenden Frühjahr.«

»Und du wirst es bestehen?«

»Ich hoffe.«

»Schön das! – und was gedenkst du zu werden?«

»Ich bin mir noch nicht im klaren darüber.«

»Aber ich,« sagte der Marquis, zog den Kreuzdorn aus dem Boden und tat damit einen energischen Lufthieb. »Das Weitere findet sich im Laufe des morgigen Tages. Denke an Mutter. Komm' jetzt!«

Schweigend gingen sie über den einsamen Hof fort.

Der Schritt des Alten war hart und wie auf dem Amboß geschmiedet. Von den weißgekalkten Scheunen und Ställen kam das Echo zurück. Wie der Schritt, so der Mann. Er hatte seine eigenen Ansichten, seine eigene Weltanschauung, seine eigenen Feste, und wurde im Kreishaus Königs Geburtstag gefeiert, dem er in seiner Eigenschaft als Deputierter beizuwohnen hatte, so war es bei ihm lediglich ein wohlerwogenes Vorbeischleichen. Er hob zu Ehren des Landesherrn den Champagnerkelch, um ihn auf das Wohl und Gedeihen des Papstes zu leeren. Das Patriotische, besonders das Preußische, lag ihm nicht. Das war für ihn ein Ding ohne Schall und Inhalt, ein leeres Gefäß und eine überflüssige Sache. Wie die Menschen sich nur darüber so amüsieren und ereifern konnten! Dieses Anprosten und Hurraschreien! Diese Fräcke und weißen Westen, und der Herr Landrat erst mit seiner wichtigen Amtsmiene und dem roten Kuckuck vierter Güte im Knopfloch! So'n getrommelter und mit Schaumwein begossener Unsinn! Lachhaft, rein lachhaft! Dafür war er aber ein Mann seines Glaubens, ein strammer Katholik, dessen steinharte Überzeugung Berge versetzen und Ströme ablenken konnte. Kopf und Herz steckten ihm voller Heiligenlegenden und Wunderlichkeiten. Er liebte Arme-Seelen-Geschichten. Das Tragen von Skapulieren war ihm zum Bedürfnis geworden. Rosenkranzgebete und das Anzünden von geweihten Kerzen bei besonderen Gelegenheiten, Besprechungen und sinnlich-übersinnliche Erscheinungen gehörten zu seinem Inventar, und als eines Tages in der sogenannten Guten Stube sich ein Geräusch erhob, das plötzlich wie auf stilles Geheiß alle Räume belebte, ließ er eine konsekrierte Hostie von Zimmer zu Zimmer tragen, um auf diese Art den Spuk aus dem Hause zu bannen. Der Exorcismus gelang. Mit eigenen Augen sah der Marquis den Unhold aus einem sich selber öffnenden Fenster verschwinden. Das genügte, den Alten noch halsstarrischer und verbohrter zu machen, und dabei war er sonst ein Mensch von klarem Verstand, hellhörig und sachlich, und mit dem erprobten Grundsatz: Behandelt einen schlechten Kerl wohlwollend, so wird er euch Verdruß machen, drückt ihm den Daumen ins Auge, wird er euch alles zu Gefallen tun – hatte er Zucht und Ordnung auf seinem Grund und Boden gehalten.

In der Nähe des Ziehbrunnens trat ihm ein wunderliches Männchen in hechtgrauem Rock, hohem Zylinder und blendendweißen Vatermördern entgegen. Er war just aus dem Hausflur getreten und führte einen beknopften Bambus in der Rechten.

»Na, Herr Doktor, wie steht's denn?«

Der kleine Herr mit dem Gelehrtengesicht und dem gestutzten Schnurrbärtchen unter der scharfgebogenen Nase zuckte die Achseln.

»Herr Harkort,« sagte er mit einem gewissen Zögern, »ich kann's nicht verhehlen: meine Diagnose trifft zu. Die verdächtigen Symptome mehren sich. Die regenbogenfarbigen Erscheinungen sind nicht mehr zu leugnen. Das Nebelsehen ist stärker geworden.«

»Gottverdammich!«

»Herr Harkort!«

»Ja, so!« sagte der Marquis, während ein Frösteln seinen mächtigen Körper durchrieselte. »Sie müssen mich schon exküsieren, Herr Doktor; aber wenn einer so in der Herznot drin steckt und einem das Wasser bis über das Maul will, da kommt einem schon mal 'n malproperes Wort zwischen die Zähne. Also nichts für ungut, Herr Doktor. Ich bin auf das Schlimmste gefaßt, wenn's mir auch den Verstand aus dem Gelenk dreht. Wie benennt sich die Krankheit?«

»Glaukom.«

»Und so was kann zur Erblindung führen?«

»Offen gestanden . . .«

Das Antlitz des Fragestellers wurde weiß. Alles Pontakartige war von ihm gewichen. Mit dem Kreuzdorn suchte er krause Figuren auf den Boden zu zeichnen.

»Ich weiß schon, Herr Doktor, ich weiß schon! Und wie lange kann's bis dahin noch dauern?«

»Im günstigsten Falle mehrere Jahre.«

»So, so! mehrere Jahre!«

Der Marquis schüttelte den Kopf. Er sah über den Hof fort. Da standen seine Scheunen und Ställe, und sie, die früher wie die eingerammten Pfähle ihren Ort behaupteten, schienen ins Wanken gekommen zu sein. Er fuhr sich über die Augen, aber wie er auch darüber hinfahren mochte, das Bild wurde nicht besser. Dächer und Giebel senkten sich aus Blei und Lot, wollten in Trümmer zergehen und über ihn stürzen. Aus dieser Qual heraus fragte er mit weher und langsamer Stimme, die etwas Schleppendes an sich hatte: »Ist denn überhaupt Rettung möglich, Herr Doktor?«

»Ein Wunder kann helfen.«

Das beglückte ihn und riß ihn wieder zusammen.

»Ein Wunder!«

Er griff nach der Hand des Arztes.

»Ich danke Ihnen. Also ein Wunder!«

Ein helles Glück stand in den Wimpern des ehrlichen Mannes, der sich mit allen Masern und Fasern der Hoffnung an diesen winzigen Strohhalm klammerte.

»Komm', Hans, wir wollen zu Muttern. Und Sie, Herr Doktor, Sie sprechen doch bald wieder vor?«

»In den nächsten Tagen. Auf Wiedersehen, Herr Harkort, Herr Studiosus . . .« und der kleine grauröckige Herr wandte sich seinem Schäschen zu, das im Schatten zweier Kastanienbäume auf ihn gewartet hatte, während Vater und Sohn sich zum Eingang des Hauses begaben.

Hier angekommen, blieb der Alte stehen.

»Hans,« konstatierte er mit fester Stimme, »du hörtest, was der Doktor gesagt hat, und wirst deinen Schluß daraus ziehen. Die Liebelei auf den Wassermühlen wird mit dem heutigen Tage gestrichen. Das Konto ist abgeschlossen, mehr als abgeschlossen. Kein Wort mehr! Dämlichen Plänen, die sich nie verwirklichen lassen, soll man nicht nachgehen. Es ist vergebliche Arbeit, und wer vergebliche Arbeit tut, wird zu den Dummen gerechnet, denn er schöpft Wasser mit durchlöcherter Kelle. Aus! sage ich, oder . . . komm' jetzt!«

Bald darauf standen die beiden vor Felicitas Harkort, der gütigen Frau, die trotz ihrer Heimsuchung einen stillen Frieden um sich verbreitete. Sie saß dicht am Fenster und beschäftigte sich damit, die Perlen eines zertrümmerten Rosenkranzes auf eine neue Schnur zu ziehen.

»Wie geht es denn, Mutter?« fragte der Marquis mit so viel Liebe und Herzlichkeit, wie man es ihm kaum zugetraut hätte. Dabei glitt er ihr sacht über den Scheitel.

»Ich danke dir, Adam. Man muß zufrieden sein. Was der Herr uns schickt, soll man freudig hinnehmen, denn es ist gut von Anbeginn der Tage gewesen. Dabei überdenke ich den ›Beichtspiegel‹, worin gesagt wird: Adam und Eva machten sich nur einer Sünde schuldig und wurden deswegen aus dem schönen Paradiese verwiesen. Die bösen Engel haben auch nur einmal gefehlt, wurden dafür aber zu ewigen Höllenstrafen verurteilt, und ich . . . Ach Gott! ich sündigte gar oft in Gedanken, Worten und Werken . . . Welche Strafe müßte ich dafür empfangen? und siehe: der Herr hat mir nur diese kleine Prüfung gesendet.«

Sie lächelte in sich hinein und legte die schlanken Hände still ineinander.

»Laß man, laß man! Nun wirst du bald wieder.«

»Adam, glaubst du das wirklich?!«

»Ja, Mutter, ich glaube. Das wäre ja noch schöner, wenn sich nicht bald ein Umschwung vollzöge! Das kommt über Nacht, wenn's auch seine Zeit haben will. In 'nem Jährchen vielleicht, aber dann sollst du sehen . . . dann fällt's über dich her mit Sternen und anderen Himmelslichtern, denn Gott läßt die Seinen auf Op gen Oort, und besonders dich, nicht im Finstern sitzen. Das gibt's nicht, wenn solche Leute, wie wir sind, bestraft werden sollten, als hätten wir mit dem Verlorenen Sohn die Schweine gehütet. Nee, Mutter, das properste Gegenteil ist hier Trumpf in der Karte. Wir haben gebetet, daß sich die Balken bogen, wir haben gekniet, bis wir Schwielen bekamen, und wenn der Klingelbeutel vorbeiging, dann hab' ich allsonntags 'nen harten Speziestaler geopfert – und bei so 'nem nobelen Lebenswandel, da sollte uns die göttliche Vorsehung mit Not und Gram unter die Augen treten, sollte alles vergessen, was wir ihr angetan haben?! Nee, Mutter, da kennst du den himmlischen Vater man hundsmiserabel. Gebet und Klingelbeutel, die machen's, und ich verwette Op gen Oort mit allem, was drauf ist, mit Flur und Gemarkung, mit Vieh und Ferkel, mit Mist und Stall gegen die lausigste Katstelle, wenn du nicht wieder so hellsichtig wirst wie der neuvergoldete Kirchturmhahn, der bis nach Holland hineinguckt. Natürlich, Mutter, man muß nur den richtigen, wahrhaftigen und christkatholischen Glauben besitzen.«

»Adam, den hab' ich. Aber immer den Nebel . . . und unsere Pilgerfahrt nach la Salette hat auch nicht geholfen.«

Unmerklich den Kopf schüttelnd, ließ die Ärmste wieder die Perlen durch die Finger gleiten. »Seitdem wir dort waren,« sagte sie traurig, »und sich keine Besserung einstellen wollte, bin ich etwas stutzig geworden.«

»Gott, Mutter, la Salette!« meinte der Marquis so obenhin und zog diesen Gnadenort so lang durch die Zähne, als sei er gewillt, ihn nicht als vollwertig anzuerkennen.

»Da wird auf französisch gebetet, und was die Franzosen so beten . . . Möglich, die himmlische Mutter von la Salette hat uns so recht nicht verstanden, denn deutsch und französisch ist doch nicht ein und dasselbe; möglich, es kommt nach, aber ich denke: wir müssen uns unserm lieben Herrgott aufs frische in Erinnerung bringen. Und das soll morgen geschehen, denn hör' mal,« und er wälzte einen mächtigen Gedanken in sich herum. Als er ihn endlich auf die richtige Stelle placiert hatte, sagte er überzeugungstreu aus seinem blauleinenen Kittel heraus: »Mutter, ich habe mir das so ausspekuliert. Hans und ich, wir wollen nach Marienbaum und dich und uns der allerheiligsten Jungfrau empfehlen. La Salette in Ehren, aber Marienbaum meine besondere Hochachtung. Zwei Pferde ziehen forscher den Pflug als ein Einzelgespann; denn doppelt hält besser . . . und außerdem, Mutter: was man aus dem Inland beziehen kann, soll man nicht anderswoher holen, und Marienbaum ist im Inland gelegen . . . hier vor der Tür . . . kaum zwei Meilen weiter rheinaufwärts . . . und was da schon alles passiert ist, das kann 'ne Kuhhaut nicht fassen. Ich glaube an meine Mission wie an das Feuer des Himmels, wenn ein Wetter heraufzieht, ich hoffe auf sie wie auf die Auferstehung des Leibes. Morgen um sechs brechen wir auf, ich und der Hans. Simon von Cyrene trug das Kreuz des Herrn. Wir tragen das deine . . . und wir tragen es mit Freude . . . und wir tragen es fröhlich« – und seine Stimme schwoll an – »und wir hoffen zu Gott, er werde hierdurch alle Übel von dir nehmen, auf daß du gesundest, von jetzt an bis in alle Ewigkeit. Amen.«

Mit einem jähen Ruck brach er in die Knie und barg sein Haupt in den Schoß seines Weibes.

»Ich höre die Stimme des Herrn und halte meine Lampe bereit,« schluchzte der Kniende, »denn ich weiß, die Erlösung wird kommen.«

»Sie kommt, sie kommt!« sagte Felicitas und fuhr sich mit ihren schmalen Händen über die schönen, lichten, stahlblauen Augen, die voller Helle und doch voller Dämmerungen waren. »Adam und Hans, geht nur und betet für mich; ihr werdet mir den Nebelschleier schon nehmen.«

Andern Tages, als die Knechte ihre Raufen bestellten und die Mägde mit ihren Melkeimern umgingen, lag eine blutrote Sonne am tiefen Horizont. Wie aus einem Krater aufgestiegen, ruhte sie auf der dampfenden Erde, um sich langsam und mit glutender Feuerkrone in den unendlichen Himmel zu heben. Die ersten Rauchkräusel wurden lebendig, die ersten Spatzen, die ersten Lerchen. Op gen Oort erstrahlte im Glorienschein des jungen Morgens.

Harkort und Sohn waren wanderbereit. Bevor der Alte jedoch seinen Kreuzdorn aus der Ecke hervorholte, begab er sich zum Getreidespeicher, griff in die Erbsenkiste hinein und versenkte eine Handvoll glasharter Kügelchen in die leinene Brottasche. Als er damit fertig geworden war, sich den Rosenkranz um die linke Hand gewickelt, den Stock geholt und sein Morgengebet gesprochen hatte, brachen sie auf.

»Freust du dich, Hans?« fragte der Alte.

»Ja, ich freue mich, Vater.«

»Gut, daß es so ist,« gab der Marquis zurück und nahm in seinen derben Transchuhen einen rüstigen Schritt an. »Aber nochmals gesagt: Adrian den Hof und die Wirtschaft und dir das Studium. Du kannst dich auch hierin betätigen. Mist und Ökonomie tun es allein nicht, es muß auch solche geben, die sich mit der Schärfe des Geistes umtun, um auf solche Weise dem Herrn, der Kirche und dem Staate zu dienen. Wie denkst du hierüber?«

»Ich denke wie Ihr, nur läge mir die Landwirtschaft besser, und es wäre mir ein Liebes gewesen, gemeinsam mit Adrian den väterlichen Acker zu bebauen. Darin liegt die Urkraft des Landes und allen Bestehens.«

»Wenn auch,« konstatierte der Alte. »Aber ich habe es anders beschlossen, und was ich beschlossen habe, dem wird Rechnung getragen.«

Hans zuckte unwillkürlich zusammen.

»Wenn ich denn eine Bitte aussprechen dürfte, so möchte ich ein civis academici werden.«

»Was ist das?!«

»Ein Beflissener der Hochschule.«

»Ja, so! Natürlich, natürlich! Wenn man das Abiturium hinter sich hat, kommt dies an die Reihe. Aber ich hörte davon, man kann auch in diesem Falle das Seminar in Münster beziehen. Zum Beispiel: dein Freund und Studienkollege, Andreas Lobbers aus Keppeln, dem alten Schmied Lobbers sein Junge, will ja wohl Geistlicher werden. Stimmt's, oder bin ich fälschlich berichtet?«

»Nein, er will Geistlicher werden.«

»Brav von dem Jungen! Das ist denn doch 'ne vornehme Sache, so direkt aus dem Poweren heraus mit dem lieben Herrgott in Verbindung zu treten! Erst Kaplan, dann Pastor, dann Bischof . . . Da müßte man ja alle Fenster aufreißen und die Fahnen 'naushängen, um so'n Kerlchen zu ehren. Das ist ja, um auf die Knie zu fallen, die Erde zu küssen und neunhundertneunundneunzig Vaterunser zu beten. Allerhand Achtung! Obgleich der alte Lobbers sich man in schwachen Umständen befindet, der Mensch ist reicher als wir Ökonomiker alle zusammen genommen. Ich beneide den Mann, und wenn mir und Muttern so'n unbändiges Glück in den Schoß fallen würde . . . Hans, jetzt aber mal offen und ehrlich gesprochen. Wenn's nun mit dem Landwirt nichts ist, was würdest du dann werden wollen?«

»Arzt oder Jurist.«

»So, so! Arzt oder Jurist. Recht schön das; nur 'ne teure und langwierige Sache. Außerdem: Advokaten und Dokters besitzen keine Primanummer beim himmlischen Vater. Die mit dem Weihwasserpinsel werden höher bewertet. Was hältst du überhaupt von der Gottesgelahrtheit? Denk' drüber nach! So'n paar Stündchen vielleicht. Es wird sich lohnen. Wir sprechen später darüber.«

Mit verstärkter Heftigkeit rumpelte er in seinen Transchuhen weiter.

In der Brust des jungen Mannes war ein Stürmen und Drängen, ein Blühen und Welken. In der einen Herzkammer wohnte das Glück, denn der Gedanke, du pilgerst zur himmlischen Frau, zum Trost der Bedrängten und zur Königin der Barmherzigkeit, die aus der Fülle ihrer Gnade das Licht nehmen wird, um es in die absterbenden Augen deiner heißgeliebten Mutter zu legen, machte ihn selig, während die zweite Kammer ein grimmiges Weh umfaßte, ein Weh, das ihm sagte: Das Licht, so schön und allbefreiend, so hell und rein es auch ist – dieses Licht wird dir leuchten wie die trüben Lämpchen zwischen Gräbern, wenn es nicht noch schlimmer kommt und verlischt und sich eine ewige Finsternis um dich breitet. Und er dachte an das, was ihm sein Vater gesagt hatte, an die zwingenden und präzisen Worte, die keinen Widerspruch duldeten und ihres Weges gingen wie derbe Hufeisen über harte Steine, und dann dachte er wieder . . . Er sah in die Wiesen hinaus, die im Morgentau ruhten, frisch und gesund, und in allen Farben des Regenbogens erstrahlten. Dort bei den Erlen hatte er noch vor wenigen Tagen gestanden, mit ihr, hatte ihre junge Brust gespürt und die größte Offenbarung seines Lebens empfangen. Was konnte ihm die Heimat Köstlicheres und Schöneres bieten? denn die Sehnsucht des erwachenden Weibes war bei ihm, hatte sich ihm in die Arme gelegt und seine Lippen gefunden. Hans und Franziska! und sie wandte sich ab, öffnete ihr Mieder und brachte ein goldenes Herzchen zum Vorschein. An einer seidenen Schnur hatte es bisher zwischen ihren jungen Brüsten gerastet. »Das nimm,« sagte sie leise, »zum Zeichen dafür, daß wir zusammen gehören zeit unseres Lebens, mit Leib und Seele, und uns nicht lassen wollen, bis der Tod uns scheidet,« und wieder spürte er den Druck ihrer Hände und die Süße ihres Mundes, und vereinzelte Sterne standen am Himmel, und ein weiches Mondlicht spiegelte sich in den Wassern, die in der Niederung lagen . . .

Sie mußten an den Mühlen vorüber.

Am Fenster stand Franziska und sah ihnen nach, bis sie untertauchten am Ravelin, wo weite Rohrfelder der Fernsicht ein Ziel setzten.

Ihm wollte das Herz auseinander. Mit beiden Händen umgriff er das Kleinod, das ihm auf der nackten Brust ruhte . . . und sie gingen durch glasharte Stoppeläcker und blanke Wiesen über Hanselaer und Appeldorn, um von hier den Gnadenort Marienbaum zu erreichen. Wortlos schritten sie nebeneinander.

Hinter Hanselaer, just als die erste Morgenglocke verhallte, schob der Marquis die Mütze unter die Achsel und sagte: »Lasset uns beten!« und glaubenskräftig begann er: »Unter deinen Schutz und Schirm fliehen wir, o heilige Gottesgebärerin! Verschmähe nicht unser Gebet in unseren Nöten, sondern erlöse uns jederzeit von allen Gefahren. O du glorwürdige und gebenedeite Jungfrau, unsere Frau, unsere Mittlerin, unsere Fürsprecherin, versöhne uns mit deinem Sohne, empfiehl uns deinem Sohne, stelle uns vor deinem Sohne! Hans, denke an Mutter! Und du, heilige Jungfrau, bitte für uns in der Stunde des Todes!«

Und Hans respondierte: »Auf daß wir würdig werden der Verheißungen Christi!«

Und der Alte sprach weiter: »Wir flehen zu dir, o Herr! Ergieße deine Gnade in unsere Herzen, damit wir, die wir durch die Botschaft des Engels die Menschwerdung Christi, deines Sohnes, erkannt haben, durch sein Leiden und Kreuz zur Herrlichkeit der Auferstehung geführt werden, durch denselben Christus, unsern Herrn. Hans, deine Stunde wird kommen! Und du, allerseligste Jungfrau, sei bei uns, wenn die letzten Seufzer der Seele gebieten, vom Leibe zu scheiden.«

»Auf daß wir würdig werden der Verheißungen Christi!« kam es von zuckenden Lippen.

»Amen, Amen!« sagte der Alte und zog die Mütze wieder über die silbernen Haare.

Die Hitze war mittlerweile unerträglich geworden. Sie lag platt auf dem Bauch und qualmte ihren glühenden Atem über alles, was Leben hatte. Nur mit aller Mühseligkeit vermochten es die Blätter der Gesträucher und Bäume, sich auf die andere Seite zu legen, so schwer kam es dem leichten Windhauch an, die bleierne Ruhe aus den Zweigen zu schütteln. Allmählich stellte er seine Tätigkeit völlig ein, näselte noch einige Male, um mit einem leisen Wispern zwischen den dunkeln Laubmassen zu sterben. Das stumpfe Einerlei des Unbeweglichen schläferte die Gegend ein, machte sie untätig und lautlos. Selbst die emsigen Heupferdchen hatten ihr Geigen eingestellt. Mit ihren starren Flügeln und Glotzaugen hingen sie wie abgestorben zwischen den Gräsern.

Jenseits von Appeldorn waren die beiden aus dem Bereich der Wiesen gekommen. Die saftigen Erlenbestände, die noch eine gewisse Kühle gespendet hatten, blieben zurück. Eine immense Ebene lag jetzt vor ihnen, die sich in ihrer Unabsehbarkeit bis nach Xanten und Wesel erstreckte. Nicht die geringste Erhebung. Alles flach wie ein Teller . . . Kleeäcker und geschorene Felder, ab und zu unterbrochen durch aufgestapelte Weizen- und Roggenmieten, die gierig das Feuer aufsogen, das in gelben Flammengarben vom Himmel niederzüngelte. Eine weißglühende Decke überspannte die Landschaft, die Weiten flimmerten, ließen das Auge nicht zur Ruhe kommen. Es fand keinen Halt in dieser abgeernteten Öde. Kaum daß sich vereinzelte Gehöfte und niedrige Baumgruppen auf dem von der Sonnenglut zerrissenen Boden hinzogen. Nur tief am Horizont hob sich ein spitzer Kirchturm aus dem nackten Gelände, der einzige markante Punkt in diesem Meer von versengten Halmen und Stoppeln. Der Schieferhelm blinkte wie geschmolzenes Silber herüber.

Als der Alte die Gnadenkapelle gewahrte, warf er den Kopf in den Nacken, pflanzte sich nicht weit von einem Roggenschober, der einen blauen Schattenkegel hinter sich warf, breitbeinig auf und sagte mit einem seligen Glanz in der Stimme: »Marienbaum!«

So sahen die Kreuzfahrer Jerusalem liegen und den Ölgarten und Golgatha, den Berg der Erlösung.

In Schweiß gebadet, wischte er sich mit einem blaubedruckten Tuch die heißen Tropfen von der Stirne herunter. Aus allen Teilen des Körpers sickerte ihm die kochende Feuchte. Sein Leinwandkittel dampfte. Wie mit Scharlach war das harte Gesicht übergossen. Kein Baum spendete Schatten; keinen anderen gab es als den der nahen Kornmiete, der wohlig und einladend von der Wegscheide herüberwinkte.

»Wollen wir nicht Rast machen, Vater?« fragte der junge Student, als er den hochroten Kopf des Alten bemerkte. Selbst zerschlagen bis in die Knochen hinein, deutete er auf die einzige Stelle, die nicht unter dem brutalen Feuer der ehernen Kuppel ruhte.

»Was Rast?!« knurrte der Marquis über die Schulter fort und reckte sich hoch, als wären ihm die Muskeln und Sehnen aus Eisen und Stahl geschmiedet. »Gibt's nicht für uns, kann es nicht geben! Pilgern wir im Schweiß unsres Angesichts, oder machen wir 'ne pläsierliche Reise mit Burger Brezeln und Nymwegener Moppen? Ich dächte, wir pilgern. Hat denn der heilige Polycarpus gerastet, als er zum Scheiterhaufen wallfahrtete, oder aber hat der Diakon Laurenz Kühle und Schatten herbeigesehnt, als ihm gesagt wurde: Laurenz, Sie haben den glühenden Rost zu besteigen? Männer waren's mit Mark in den Knochen. Kasteit haben sie sich, um so der ewigen Gnade teilhaftig zu werden. Hans, denke an Mutter! Durch Marter zur Palme! Besinne dich, Hans, nimm das Kreuz auf und wandere! Das Schwerste kommt noch für dich. Für mich ist es jetzt schon gekommen. Hier wird kein Wassersüpplein aufgetischt, sondern Blutsuppe gelöffelt. Seien wir Männer! Ich tue das Meine,« und der absonderliche Mann, der Marquis auf Op gen Oort, der Herr und Besitzer von fünfhundert Morgen Ackerboden, Wiesen und Hutungen, beugte sich nieder, löste die Riemen, zog die schweren Schuhe von den Füßen, tat die mitgebrachten Erbsen hinein und beschuhte sich wieder.

»Was tust du, Vater?«

»Alles für Mutter!« sagte der Alte und stieß seinen Dorn auf, daß die Kiesel, die auf dem Feldweg lagen, Funken spritzten. »Ich tue das Meine,« rief er im Weitermarschieren, »und ich hoffe zu Gott, du wirst in gleicher Weise das Deinige machen. Die Stunde wird kommen. Alles für Mutter! Durch Leiden zum Siege! Durch Marter zur Palme! Durch Nacht und Finsternis zur Anschauung Gottes! Ich sehe das Himmelreich offen. Ich sehe Gott den Vater, den Sohn und den heiligen Geist. Ich sehe die Erzengel, Cherubim und Seraphim, und die großen und die kleinen Propheten – und ich sehe das Licht. Und das Licht soll ihr werden, soll in ihre kranken Augen hinein und soll ihr leuchten wie das Licht von einem hohen und heiligen Berge herunter.«

O! dieser Glaube, diese Andacht, dieses Kasteien und Leiden und diese Hoffnungsfreudigkeit, alles das erschütterte mehr als die Bußpredigt eines Barfüßermönchs, rührte zu Tränen . . . und das junge Gemüt erschauerte vor Bewunderung und Ehrfurcht.

»Folge ihm nach, folge ihm nach!« fuhr es durch seine Seele hindurch. »Bringe ein Opfer, um die Mutter zu retten!« und alles versank vor seinen trunkenen Blicken: die Welt mit ihren leuchtenden Farben, die Wassermühlen mit ihrem süßen Geheimnis und das goldene Herzchen, das ihm auf der Brust ruhte, und immer wieder mußte er auf diesen Bekenner und Bußfertigen schauen, der in seiner Marter und Pein neben ihm herschritt, als wallfahre er der goldenen Pforte des Paradieses entgegen.

Dicht vor Marienbaum, als schon die einzelnen Häuschen aus den mit Phlox, Feuerbohnen und Obstbäumen bestellten Gemüsegärten emporwuchsen, reckte sich der Marquis, daß es in allen Gelenken knackte und krachte, und mit qualverzerrtem Gesicht, mit brennenden Füßen und hämmernden Pulsen, die ihm die Adern zu sprengen drohten, aber ungebrochen und treu auf seinen Heiland vertrauend, stimmte er das gewaltige Lied an, das die Büßenden auf ihren Wegen sangen, wenn der Gnadenort in greifbare Nähe gekommen war. Und also klang es über Stoppelfelder und Kleeäcker, durch Straßen und Obstgärten:

»In Gottes Namen fahren wir
Und pilgern unsere Pfade.
Herr Zebaoth, das Herz zu dir,
Wir suchen deine Gnade.

Ob auch der Satan sinnt auf Raub
Mit List und Höllenkrallen,
Für dich durch Leid und Erdenstaub
Wir wallen, wallen, wallen.«

Hans stimmte mit ein. Sein Vater wurde zum Helden für ihn, zum Glaubensträger, zum Widerpart des Bösen und Schlechten. Der Kern seines Wesens machte ihn in seinen Augen den Blutzeugen ähnlich. Er hörte auf seine Stimme wie auf eine Offenbarung. Er sah in ihm einen Wundertäter, einen Knechter des Fleisches. Was dieser ihm angetan durch seine Härte und Starrheit, vergaß er. Die Stunde regierte. Nur seine Liebe . . . Aber auch diese gewann einen Heiligenschein und schwebte als schleierweiße Taube gen Himmel. Diese Andacht und Weihe! Die Leute, die ihnen begegneten, Büßer und Bittgänger, knieten nieder und zogen die Mützen herunter. So hatte noch keiner gesungen von allen, die zur Gnadenstätte gewandert – so nicht, so nicht geliebt und gelitten.

Von fünf zu fünf Minuten wiederholte sich der mächtige Kantus. Als die vorletzte Strophe einsetzte und die Erbsen in den Schuhen wie die höllischen Geister plagten und bohrten, als die Marter ihren höchsten Grad erreicht hatte und schier unerträglich wurde, zogen die beiden an den Verkaufsläden vorüber, deren Besitzer allerlei fromme Gegenstände feilhielten, als da waren: Skapuliere und Rosenkränze, wächserne Hände und Beine, Kerzen, Gebetbücher und Marienplätzchen, und über das alles bimmelte das magere Glöckchen des Heiles, straffte die Nacken und munterte die zerschlagenen Glieder wieder auf, die sich auf dem holperigen und glutenden Straßenpflaster zum Hort der Bedrängten, zum wundertätigen Bildstock bewegten.

»Da geht der Marquis,« sagten die Menschen und stießen sich an, als sie den Alten mit seinem Sohne kommen sahen. »Großartig, was?!« und mit verklärten Augen folgten sie den Schritten des unbändigen und fanatischen Gutsherrn.

»Der erstickt in der heiligen Dreifaltigkeit, so fromm ist der Mann,« erklärte ein vermickertes Bäuerchen aus der Gegend von Op gen Oort. »Ich kenn' ihn. Der duldet keinen Blitzableiter auf seinen Dächern und Kaminen und dreht allem modernen Schwindel den Hals ab. Ein Kreuzweggang oder 'ne geweihte Kerze tut's auch. Das meint er, und dabei ist er gut gefahren im Leben. Deo gratias

Adam Harkort warf ihm einen dankbaren Blick zu, und wieder polterte das Lied über die Menge.

Als sie mit der letzten Strophe begannen, hatten sie die Schwelle der Gnadenkapelle erreicht. Ein warmer Brodem nach Schweiß und Weihrauch schlug ihnen entgegen. Von allen Seiten strömten die Gläubigen zu. Ha, wie das wohltat! Dieses Brausen, dieses Flehen und Opfern!

Singend traten sie ein, gewannen das Mittelschiff und knieten vor dem Wunderbild nieder.

»Non est in toto sanctior orbe locus,« stammelte Hans und küßte den Boden, während die Orgel aufjubelte und die zermürbten, zernagten und gepeinigten Beter, die die niedrigen Hallen mit ihrem dampfenden Atem, ihrem Dunst nach Stiefeltran und Zichorienkaffee erfüllten, in den marianischen Lobgesang ausbrachen, um das Herz der himmlischen Frau willfährig und gefügig zu machen. Ob sie wollte oder nicht, sie mußte. Von heiliger Begeisterung getragen, aus tiefster Not und Bedrängnis sangen sie alle:

»O piissima,
O sanctissima,
Dulcis virgo Maria!
Mater amata,
Intemerata –
Ora, ora pro nobis!
»

Die Stimme des Alten marschierte durch dieses Gebrause hindurch wie eine streitbare Heldin, als gälte es, Löwen und Drachen und sonstige Ungeheuer in das ewige Feuer zu singen. O sanctissima . . .! Die mit dem Rosenkranz umwickelten Hände hoben sich langsam, und mit ungestümer Inbrunst umgriff er mit stieren Blicken das wundertätige Bild – den mit einem groben Messer bearbeiteten Holzstock von brauner, schmutziger Farbe, mit Edelsteinen umkrustet, mit einem goldenen Krönchen geziert, mit einem steifen Gewand und silbernen Bordüren bekleidet, roh und mißgestaltig und mit brennenden Kerzen, Wachsstöcken und weißen Papierrosenkränzen geschmückt . . . aber in dieser Umgebung, unter diesen Gläubigen, hier in dem Rauschen der Orgel, dem Stammeln inbrünstiger Lippen, dem leisen Geklirr der Medaillenstäbe, in dem Dampfen des Weihrauchs, dem Jammern, Klagen und Bitten wurde das unscheinbare, häßliche Ding zu einem leuchtenden Wesen, zu einer strahlenden Frau, zur Gottesmutter, zur Allerbarmerin, zur Königin des Himmels und der Erde.

»O piissima,
O sanctissima, Ducis vigro Maria . . .
«

Adam Harkort erbebte bis in die derben Schuhe hinein. Sein Blut rauschte. Seine Adern schwollen an. In visionären Bildern zog es an seiner Seele vorüber. Seine Mundecken kauten. In monotonen Sätzen fiel es ihm von den Lippen herunter.

Die Menschen, die in seiner Nähe standen, wurden aufmerksam. Sie stießen sich an.

»Der Marquis will sprechen,« flüsterten sie sich zu. Die Hälse reckten sich. Eine Bewegung entstand, die sich stoßweise fortpflanzte.

»Jungfrau Maria,« begann er zu reden, schwerfällig, abgehackt, eindringlich, dann und wann mit Tränen dazwischen, »daß ich hier stehe, ist um deswillen, daß ich mich entschuldigen möchte von wegen meiner Reise nach Frankreich. Ich war in la Salette, ich und mein Weib, und haben dort keine richtige Bekömmnis gefunden. Daß ich's man sage: La Salette ist nichts, und was sie dir dort angesteckt haben, stank nach dem Öl der Nachtlampe. Franzien ist das Land der Dirnen, das Babel der Neuzeit. Deutsche Männer und deutsche Frauen sollen nicht die französische Muttergottes begrüßen. Die hilft ihnen nicht, weil sie sich nicht auf den französischen Tand und den französischen Schwindel verstehen. Hier allein wohnst du, lebst du, regierst du – hier in Marienbaum, wo wir niederrheinischen Boden unter uns und niederrheinisches Himmelreich über uns haben.«

Ein beifälliges Gemurmel begleitete diese zuversichtlichen Worte.

Der Alte sprach weiter, immer lauter und voller, immer freier und herrlicher: »Jungfrau Maria, du ehrwürdiges Gefäß, du elfenbeinerner Turm, Gottesgebärerin, Mutter der Gnaden und der Barmherzigkeiten, mein Weib will erblinden, will in die Nacht hinein, in ewiges Dunkel . . . O du Wundertätige, nimm ihr dieses Erblinden hinweg, lege ihr die Hände auf, damit sie gesunde; denn siehe: wie Abraham in der Morgenfrühe auszog, dem Herrn zu dienen, so bin ich meines Weges gegangen, um dir ein Opfer zu bieten. Ich bin nicht mit leeren Händen gekommen . . .« und seine Stimme lief wie die eines Propheten durch die Gnadenkapelle, »nein ich bin nicht mit leeren Händen gekommen . . .«

Er riß seinen Sohn in die Höhe.

»Erbarme dich meiner, erbarme dich meines gequälten und zermarterten Weibes, denn wisse: hier dieser, mein Zweitgeborener, will die Freuden des irdischen Lebens von sich tun, will das Kreuz auf sich nehmen und Geistlicher werden.«

»Vater, Vater . . .

Der Alte hörte über ihn fort, wie der Sturm über das bange Leben hinweghört, wenn er die hundertjährigen Eichen rüttelt und schüttelt.

»Dies mein Gelöbnis, dies mein Opfer! und du« – und er legte seinem Jungen die harten Fäuste fest auf den Scheitel – »du willst doch, du bist doch kein Schwächling, du willst deine Mutter doch retten? Und hier im Angesicht des allewigen Gottes, der gebenedeiten Jungfrau Maria sollst du mir schwören: Vater, dein Wille geschehe, oder ich bin verflucht vor dem Herrn!« und der Alte verstummte . . . und es war so, als wenn der Bildstock Odem und Leben gewönne, als ginge ein überirdisches Flammen von dem goldenen Krönchen, als spiele ein seliges Lächeln um den Mund des wundertätigen Gnadenbildes . . .

Ein Schluchzen und Weinen erschütterte die Menschen, als sie das alles sahen und hörten.

Aufrecht stand der Marquis, aufrecht wie der große Leuchter auf der Evangelienseite, das Haupt aufwärts gerichtet.

Hans lag am Boden und preßte die heiße Stirn auf den Estrich . . . und er sah die eigene Jugend zerfließen . . . und sah ein Mädchen verzweifelt die Arme ringen . . . und sah sein Dasein und seine Ideale zertrümmert . . . aber seine Mutter, seine angebetete Mutter ging wieder dem Licht und der Auferstehung entgegen.

»Ich will!« rief er jubelnd.

Dann sah er Sterne und leuchtende Kugeln, Planetenfeuer und himmlische Kronen, und als diese verschwanden, hatte er das Gefühl, als legte sich eine wohltuende Nacht um ihn her. In der Wirtschaft ›Zum glorreichen Rosenkranz‹ fand er sich zu einem neuen Dasein wieder.

Als die Hitze nachließ, der Dunst des Tages sich auflöste und ein stiller Friede die Erde beglückte, traten sie den Heimweg an. Die Welt lag in Gold.

Ums Abendwerden passierten sie die Wassermühlen.

Franziska stand wieder am Fenster. Bleich und mit verweinten Augen, drückte sie ihre Stirn gegen die Scheiben. Ihr Blick war nach innen gerichtet, als wenn sie in das kalte Nordlicht des Schmerzes hineinsähe.

Hinter Op gen Oort lag eine dunkle Wolkenbank. Sie regte sich nicht. In majestätischer Bewegungslosigkeit blieb sie am tiefen Horizont rasten. Von Zeit zu Zeit blinkte sie auf, und eine hellblaue Linie zuckte lautlos über den Boden.

Die beiden traten in den Hof ein.

Bald darauf lagen sie an der Brust eines schluchzenden Weibes.

»Er tat seine Pflicht,« sagte der Marquis, »wie ich es versuchte, dir gegenüber meine Pflicht zu erfüllen.«

»Mutter, Mutter!«

»Mein Junge . . .! Adam und Hans, ich küsse euch beide.«

Segnend hielt sie die Arme gebreitet. –

Im folgenden Frühjahr hatte Hans Harkort das Seminar in Münster bezogen. Gemeinschaftlich mit ihm war Andreas Lobbers, der Schmiedejunge aus Keppeln, desselben Weges gegangen. Die Tonsur wartete ihrer.

* * *

Die Standuhr ließ ein feines, nadelscharfes Tinken vernehmen.

Neunmal schlug sie an.

Gleich darauf klinkte die Tür auf und zu.

Lautlos und mit vorgestreckten Händen war die Mutter ins Zimmer getreten.

Sie berührte ihn mit weichen Fingerspitzen.

»Hans, wir wollen zu Tisch gehen.«

* * *


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