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Doktor Andreas Lobbers . . .!
Als er die Freitreppe erreichte, blieb er unwillkürlich stehen, denn er wähnte, ein Mirakel zu schauen.
Er stand wie in feuriger Lohe.
Der Abend hatte eine Handvoll pupurroter Rosen über das weiße Haus geworfen, die immer voller und verlangender blühten. Die Ziegel brannten, über First und Giebel rieselten schaumige Bäche, aus allen Fenstern und Bodenluken drängten sich flammende Zungen. Ein Scharlachmantel legte sich um Op gen Oort, über seine Fluren und Felder, und Funken waren dazwischen und flirrende Sterne und zuckende Garben. Aus dem Rosentraum war eine glühende Esse geworden, ein Brennen und Leuchten, eine feurige Halle.
Andreas Lobbers warf den Kopf in den Nacken.
Er meinte das Gedröhn von Schmiedehämmern zu hören.
Der versonnene, schlichte Kaplan horchte darauf wie auf eine Offenbarung.
Das weltliche Priestertum fiel von ihm ab. Das innere blieb ihm, aber nichtsdestoweniger: er fühlte sich als Sohn eines Schmiedes, als Sohn des alten Joseph Severin Lobbers in Keppeln – nicht mehr als Vikarius im kleinen benachbarten Kirchspiel, wo er sein tägliches Brevier betete, Beichte hörte und predigen mußte.
Er sah seinen Vater, seinen prächtigen Vater. Der war krumm wie eine Greifzange, zäh wie Tischlerleim, aber gutmütig wie gedroschenes Erbsenstroh, und wohnte an der breiten Heerstraße, die vom alten Posthause über Keppeln fort ins Üdemsche führte. Da wohnte er am Eingang des Dorfes, linker Hand vom Pastorat, wo die breitästige Ulme aufragte, zersplissen und wetterhart und ergraut wie Methusalem. So schrundig und bodenständig sah auch Joseph Severin Lobbers aus, der Dorfschmied von Keppeln. Er beschlug die Pferde der Bauern und montierte ihre Pflüge und legte den schadhaften Rädern die neuen Reifen so meisterlich an, daß sie wieder imstande waren, ohne die geringste Lebensgefahr über die infamsten Knüppeldämme zu rattern.
Ja, er sah seinen Vater, er sah ihn im Schurzfell, in der niedrigen Esse, am Amboß, hämmernd und schweißend, zufrieden in sich, gläubig in Gott, wohlgelitten in der alleinseligmachenden Kirche . . . und Dampf umstrudelte ihn, und Blitze umzuckten ihn, und aus seinen wuchtigen Schlägen predigte die Mission seines Leben.
Qualm und Lohe und Wettern! und es war dem jungen Kleriker, als vernähme er die Bibelworte: »Der ganze Sinai aber rauchte darum, daß der Herr herab auf den Berg fuhr mit Feuer; und sein Rauch ging auf wie ein Rauch vom Ofen, daß der ganze Berg sehr bebete.« Diese Worte waren bei ihm.
So geschrieben im zweiten Buch Mosis, neunzehntes Kapitel, achtzehnter Vers – eine hohe Bibelstelle, in der der Führer der Juden seine leuchtende Sendung empfing, um sie zu seinem Volke zu tragen.
Auch er, Andreas, hatte eine Sendung zu erfüllen, genau so wie Moses, genau so wie sein Vater in Keppeln – und doch war sie anders geartet. Moses trug sie einem großen Stamme entgegen, er sie einem einzelnen Menschen. Sein Vater quälte sich das tägliche Brot für Weib und Kinder zusammen, sorgte und schaffte für die irdische Notdurft. Er jedoch . . . auch er mußte sich quälen, mußte schweißen, genau wie sein Vater, nur nicht für das tägliche Brot und die irdische Notdurft seiner Mitbrüder. Seine Mission wurzelte tiefer, ging mehr ins Seelische hinein und war mit dem weißen Gewand der christlichen Nächstenliebe umkleidet. Er hatte ein grimmiges Weh zu erschlagen, ein niedergebrochenes Gemüt aufzurichten und ihm den Nacken zu straffen; ein zerrissenes Herz war zu heilen und wieder zusammenzunieten. Er mußte hämmern, hämmern, hämmern. Funken mußten sprühen und Sterne blitzen, und aus dieser Arbeit hatte sich das Licht des Friedens zu schälen, das hehre, heilige, allbefreiende Licht der Erlösung.
Ja, alles Priestertum war von ihm genommen, wenigstens das, was man das äußerliche heißt.
Der sonst so schüchterne, schlichte und einfache Mann, der schmalschulterige Kaplan mit dem dunklen Haar, dem mit Sommersprossen gezeichneten Antlitz, den weißen Händen und den gütigen Augen, war nicht wiederzuerkennen.
Noch einmal sah er in den Abend hinaus, ließ er den Blick über das Rosenwunder gleiten, noch einmal riß er seinen inneren Menschen zusammen, rang nach Worten und Gründen, die er vorbringen mußte, überschlug er die vergangenen und die kommenden Tage, um dann mit einem festen Willen unter der bäuerlich zugeschnittenen Soutane über die Schwelle zu treten.
Hans Harkort saß um diese Stunde am Schreibtisch, den ein voluminöser Stoß von Zuschriften, Zertifikaten, Veranlagungen und Flurkarten bedeckte.
Arbeit schaffte ihm Ruhe, gab ihm, wenn auch nur für kurze Zeit, innere Befriedigung und die Lust, Geist und Arme zu regen. Neue Pläne setzten Wurzeln an, rangen nach Freiheit und Luft und strebten ihrer Ausführung zu. Stillstand galt ihm als Rückschritt. An Stelle der menschlichen hatten eiserne, maschinelle Kräfte zu treten. Nicht überall, aber dort, wo es die Schonung erheischte. Der Bodenerschöpfung war Rechnung zu tragen, der Rübenmüdigkeit durch Anbau von Fangpflanzen Einhalt zu tun. Vornehmlich an der brackigen Scheid und weiterhin dem Paternosterdeich zu. Hier lag manches im argen. Dann ferner: der grundlegenden Bedeutung des in den Kreisen Geldern und Kleve geltenden Wasserrechtes war eine Auffrischung an Haupt und Gliedern so nötig wie das tägliche Brot, um die längstgeplante Melioration der versumpften Äcker und Hufen mit Erfolg in die Wege zu leiten. Sein Ringen ging weiter, suchte den gemeinnützigen Bestrebungen helfend zuvorzukommen. In dieser Hinsicht tagte bei ihm bereits die Idee von den späteren Bodenreformen, mit denen die organische Überführung des Realkredits in die öffentlichen Hände, die Besteuerung der unbebauten städtischen Grundstücke nach ihrem Werte und die Erhaltung und planmäßige Erweiterung des Gemeindegrundeigentums angebahnt und ausgebaut werden sollte, und er war gerade dabei, eine solche Eingabe an die zuständige Behörde aufzustellen, als es heimlich anklopfte, die Tür sich geräuschlos bewegte, Andreas Lobbers eintrat und mit gebreiteten Armen stehen blieb.
»Salve, salve, confrater dilectissime!« sagte er mit einem heiteren Anflug in der Stimme. »Pax vobiscum, mein Junge!«
»Andreas!«
»Ja, der bin ich, bin ich noch immer!« und die beiden Freunde hielten sich innig umschlungen.
»Endlich bist du gekommen, Andreas!«
»Aber noch immer früh genug, um dir Leib und Seele aufzurütteln und dir den Frühlingswind um die Nase blasen zu lassen. Augen auf und die Herzen geöffnet! Ich möchte nicht vor tauben Ohren predigen, nicht sein wie der, von dem behauptet wird: Vox clamantis in deserto.«
»Das schmeckt nach der Bibel.«
»Tut's auch und soll's auch, mein Junge! Aber nun mal ehrlich gesprochen. Setze dich dorthin, dort in den Sessel! So ist's recht, und wenn es dir ansteht, wenn ich dir nicht lästig falle, folge ich deinem Beispiel, schlage die Beine übereinander und steh' dir zu Diensten, denn ich sehe: auf deinen Lippen sind die Fragen geschrieben: Quis, quid, ubi, quibus auxilius, cur, quomodo, quando? streng nach der Chria Aphthoniana geordnet. Habe ich recht oder unrecht, mein Junge? Recht habe ich, Hans,« und mit einem feinen Schmunzeln ließ er sich nieder, gerade seinem Freund gegenüber, faltete die Hände auf den Knien zusammen, ließ die Daumen gegeneinander spielen und sagte: »Aber wozu diese Fragen? Alle sind bereits säuberlich erledigt. Kein Titelchen fehlt, und deine Mutter wird die Liebenswürdigkeit haben, dir die entsprechende Auskunft zu geben. Nur eins möchte ich hier an Ort und Stelle bemerken, möchte dich bitten, mir den schuldigen Respekt zu erweisen. Augen geradeaus und Hand an die Hosennaht! denn in mir erblickst du den zweiten ordinierten Kaplan im hiesigen Kirchspiel. Wem Gott ein Amt gibt . . . na, und so weiter.«
»Ich hörte davon.«
»Um so besser, mein Lieber.«
»Und ich gratuliere dir herzlich.«
»Danke dir vielmals, und ich freue mich innig, die hiesigen städtischen und bäuerlichen Schäfchen zu hüten, sie in den Pferch zu treiben, zu waschen, zu säubern, zu scheren und sie nach gottwohlgefälligem Erdendasein auf die himmlische Weide zu treiben . . .. und das gerade hier, hier in der Gegend, wo ich, wenn ich die Ohren spitze, das Keppelner Kirchenglöckchen hören kann, hier, zwischen den Hecken, wo wir umarmen wollten, was gut war, und küssen wollten, was schön war, wo wir . . . Hans, weißt du es noch? Wir sahen Gott schreiten über den Wassern, und wir sahen ihn wandeln durch die Kornfelder . . . und waren froh mit den Lerchen . . . und träumten uns in Ehrenstellen hinein . . . und säbelten Distelköpfe herunter . . . hier im Land unserer Jugend . . . Und später dann, Hans . . . als wir lernten und faulenzten . . . weltbewegende Stürmer und Dränger auf Prima . . .«
»Ja, damals in Kleve,« kam es grübelnd zurück.
»Richtig, mein Junge! Herrgott, diese goldenen Tage! Dieses Tasten und Suchen! Weißt du es noch? Keine Symposien a la Trimalch. Aber diese stillverschwiegene, heimliche Kneipe auf der Stechbahn! Farben und Bänder! Wir singen das Lied: Fort mit den Grillen und Sorgen! Silentium! Das Lied steigt,« und mit verhaltenen Lauten stimmte er an:
»Fort mit den Grillen und Sorgen,
Brüder, es lacht ja der Morgen
Uns in der Jugend so schön!
Laßt uns die Becher bekränzen,
Kränzen,
Laßt bei Gesängen und Tänzen
Uns durch die Pilgerwelt gehn,
Bis uns Zypressen umwehn.
Cantus ex est. Ein Schmollis den Sängern!«
»Fiducit!« lächelte Hans Harkort still vor sich hin.
»Mensch, mußt du glücklich sein!«
»Und du nicht? Fort mit den Grillen und Sorgen! In die Kanne gestiegen! Alles hat seine Bestimmung: Hangen und Bangen, und das Leben, das klingende Leben, sich an die Brust zu reißen. Aber jedes mit Maßen, jedes mit Andacht. Nur das ewige Einerlei ist vom Übel. Die törichte, seligmachende, goldene Zeit darf man nicht aus den Händen lassen. Sie ist eine Welt für sich, das liebe Gedenken an halkyonische Tage. Man muß sie wie ein Heiligtum halten. Wie Fafner den Schatz auf der Gnitaheide; sonst geht uns das Beste verloren. Ich bin nur ein schlichter Mensch, ein Habenichts, ein Kirchenmäuserich und ein armseliges Bauernkaplänchen, das froh ist, die Brosamen vom spärlichen Tische des Patronats zu heimsen; aber in dieser Beziehung: Fafner bin ich, und Fafner will ich bleiben, selbst auf die Gefahr hin, als ein Bruder Lustig in der Soutane verschlissen zu werden.«
»Man kennt dich nicht wieder.«
»Brauchst du auch garnicht, wenn ich nur mir selber genüge und mich selber erkenne. Es tut meiner Priesterschaft keinerlei Abbruch, daß ich mich mit einer gottwohlgefälligen Freude meiner Pennalzeit erinnere. Auch heute noch: ich lasse sie auf Rosenwölkchen segeln; ins Nirwana, ins Dorado hinein. Ich sehe ihr mit glücklichen Augen nach und pfeife sie heimwärts, wie man silberlichte Tauben zurückpfeift. Je nachdem, wie ich's brauche. Aber entrinnen soll sie mir nicht. Jung will ich bleiben, selbst dann, wenn sie mich pfründig machen oder mit dem Pallium und der Mitra beschenken sollten, sonst kann's einem immer passieren, daß man mit Hussa und Hallo und 'ner siebenspännigen Kutsche in den Trübsinn hineinrasselt.«
»Andreas, was ist in dich gefahren?«
Der junge Kleriker schmunzelte.
»Die Zeiten von damals. Laßt uns die Becher bekränzen – kränzen . . . Hans, und wenn die Vakanzen erschienen, wenn wir Arm in Arm durch die Niederung schlenderten, immer weiter und weiter, bis ans äußerste Thule . . .. und wenn dann so ein treuherziges, feinrassiges Mädel, so ein liebes, verträumtes . . .«
Mit einer jähen Bewegung war Hans Harkort in die Höhe gefahren. Sein Antlitz verfärbte sich bis in die Haarwurzeln hinein, während ein hartes Weh sich um seine Mundecken legte.
»Andreas, rühr' nicht daran!« sagte er verstört, »es sei denn: du bist gekommen, alte Wunden aufzureißen und sie aufs neue bluten zu lassen. Das sollte mir leid tun.«
»Hans, keine Sentimentalität, keine weichen Anwandlungen. Oder sollte noch immer . . .?«
»Ich bitte dich, schweige darüber!«
»Nein, ich bin nicht gesonnen zu schweigen, denn wer es tut, wo es geboten ist, die Zunge zu lösen, wer sich ängstlich verkriecht und vor den Folgen einer offenen Aussprache zurückschreckt, ist minderwertig und schlimmer als der lässige Knecht im Gleichnis.«
»Andreas, ich bitte dich nochmals . . .«
Die Stimme des Erregten zitterte. Mit großen Schritten, die Hände auf den Rücken gelegt, durchmaß er das Zimmer, zählte die Dielen und murmelte dabei verloren vor sich hin: »Una salus victis nullam sperare salutem.« Immer dasselbe.
»Ich sehe,« redete Andreas hinter ihm her, »du bist im Lateinischen noch trefflich bei Wege, hast garnichts vergessen und futterst den ehrenwerten Herrn Publius Virgilius Maro wie Apfelschnitze und gebratene Krammetsvögel herunter. Allerhand Achtung! Äneide, zweiter Gesang. Und wie schön das von dem steifleinenen Klassiker gedacht und versifiziert ist: Ein Heil bleibt dem Besiegten allein, kein Heil mehr zu hoffen. Trefflich, sehr trefflich und weise gesprochen! Also du rechnest dich zu den Besiegten, zu den Niedergeworfenen und hast alle Hoffnung verloren? Warum das? Aber sagt nicht der nämliche ehrenwerte Herr Publius Virgilius Maro an einer anderen Stelle, wenn ich nicht irre, in seiner Georgica: Labor omnia vincit improbus? Da hast du's, und ferner . . . mehr als dieser wertet mir der göttliche Quintus Horatius Flaccus. Im zweiten Buch seiner Oden stellt er die Behauptung auf: Aequam memento rebus in arduis servare mentem, was gut übersetzt, sich also darbietet: Bedacht sei, dir in Tagen des Ungemachs Gleichmut zu wahren. Beherzige diese Worte meines Lieblingschriftstellers, nimm dein Kreuz auf, sei gutes Mutes und wandle!«
Mit einem Satz war Hans Harkort bei dem Sprechenden, packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn.
»Du,« sagte er hart zwischen den Zähnen, »ich kann nicht vergessen, und es wäre besser gewesen . . .«
Matt sanken ihm die Arme herunter.
Andreas Lobbers erhob sich. Fest und mit zugreifenden Blicken sah er seinen Freund an. Äußerlich blieb er ruhig, obgleich sein Inneres stürmte.
»Was wäre besser gewesen?« fragte er tonlos.
»Andreas, du kennst meine Lebensgeschichte. Jedes Buch, jede Seite hast du gelesen. Kein Buchstabe, nicht die kleinste Spalte blieb dir verborgen. Das irdische Dasein soll schön sein, behaupten die meisten. Ich bin anderer Ansicht. Für mich ist es kein Rosenpflücken gewesen.«
»Trotz aller Nöte und Bedrängnisse – Hans, das ist leichtfertig geredet, um nicht frevelnd zu sagen.«
»Schon möglich, aber es wäre mir lieber, du ließest mich aussprechen.«
»Hans, du lieber, du guter, dein Name ist Grobheit. Auch das soll ertragen werden um deinetwillen. Ich werde deine Beichte nicht mehr stören. Nur noch eine einzige Frage.«
»Bitte.«
»Dann künde mir an: Bist du gewillt, dich als ein Simeon Stylites auszubilden oder als ein Weltflüchtling mit den Einsamen in der Wüste Thebais zu leben?«
»Wie kommst du darauf?!«
»Weil es grau um dich ist, weil es um dich geistert und deine Jugend verzehrt, und weil ich sehe: die dürren Blätter der Entsagungsphilosophie beginnen um deine Schläfen zu rascheln. Wo sind die köstlichen Erinnerungen an unsere Pennalzeit und die Stechbahn geblieben? Cantus ex est. Nichts mehr, nichts mehr. Aber ich sage dir, so geht das nicht weiter.«
Hans Harkort lachte bitter auf.
»Du triffst schon ins Schwarze,« sprach er abgerissen und wie aus einem tiefen Sinnen heraus. »Aber wie soll ich mich der Marter entwinden, wie ihr zurufen: Kusch dich, du Untier? Glaubst du, das ginge so einfach, wie man sich einen schäbigen Rock abstreift, um sich einen neuen um den armen Kadaver zu legen? Da müßte schon ein Stärkerer kommen und mir dieses Kunststück vormachen. Ich bin dazu nicht mehr imstande. Versetze dich in meine Lage, Andreas. Damals, vor Jahren! Die Welt ging mir auf, und diese Welt leuchtete mir aus zwei glücklichen, schuldlosen Augen entgegen, die mich fliegen lehrten und zwar direkt in den Himmel.«
»Ich weiß, ich weiß,« bestätigte der Kaplan, nahm seine Schärpe und zählte die einzelnen Seidenfransen. Seine weißen Finger spielten damit wie im Traum.
»Ich glaubte, durch einen ewigen Sonntag zu schreiten,« klang es ihm aufs neue zu, »wenn ich mich niederließ und wieder bodenständig wurde, durch blumige Wiesen, und das Bewußtsein war in mir: du wirst dir ein bukolisches Dasein zusammenzimmern, und hier wirst du leben, mit ihr, an ihrer Seite, und der Worte gedenken: Ille terrarum mihi praeter omnes angulus ridet. Es kam anders, mein Lieber. Das unerbittliche Schicksal wies mir dornige Pfade. Mit Keulenschlägen fiel es über mich her. Dazwischen waren süßselige Stimmen und solche, die hart wie Granit waren und unbarmherzig wie die von Sterbeglocken. Ich sah meine Mutter . . . sie lag auf den Knien . . . sie tastete in einen ewigen Nebel hinein, und ihre stumme Bitte war bei mir: Rette mich, hilf mir! – und mein Vater gebot, und die heilige Jungfrau flehte mich an . . . Ich mußte, Andreas. Mir blieb keine andere Wahl. Ich tötete meine junge Liebe und die einer Standhaften. Ich würgte sie ab. Das Seminar nahm mich auf. Hinter mir donnerten die Tore der Welt und die der Freiheit zu. Deus lo vult! sangen die alten Kreuzfahrer, die armen Büßer und Bettler, die Verzweifelten und Gottsucher. Ich sang wie die, die auf dem Weg nach Jerusalem waren. Und also geschah es: all meine Tapferkeit riß ich zusammen, beugte den Nacken und duckte mich wie ein armseliges Knechtlein.«
Er machte eine wehe Handbewegung und warf sich in den nächsten Korbsessel nieder.
Der junge Kaplan trat vor.
»Wem sagst du das alles?«
Hans Harkort hob langsam den Kopf.
»Komische Frage,« versetzte er heftig. »Ich dächte doch, es wäre an deine Adresse gerichtet, und wenn du diese Trauerepistel auch kennst wie dein Brevier und die biblischen Psalmen, es verschlägt nichts und tut unserer Freundschaft keinerlei Abbruch; denn so etwas muß immer und immer wieder erzählt werden, so etwas muß man erleben, muß man sich immer und immer wieder zwischen die Schläfen hämmern, um es begreifen zu können. Gut also, ich wollte. Immer tiefer glitt ich in die Mysterien der Evangelien hinein, baute am Turm der Dogmatik, verschmierte die losgebröckelten sophistischen Ziegel, erquickte mich an den Schriften des gottseligen Martinus von Kochem, studierte Suso und Tauler und ergründete die Kirchenweisheit des heiligen Franz von Assisi. Ja, ich wollte, ich wollte . . . und betete laut und inbrünstiglich: Gib mir Gnade und Einsicht, heiliger Gott! und von den Anfechtungen des Fleisches und der irdischen Dinge – libera nos, Domine! Den Feuerbrand, der mein junges Blut umstrudelte, kämpfte ich nieder und suchte in dem grauen Häuflein der übriggebliebenen Asche Resignation und die Ruhe des Herzens zu finden. Es ist ein' Ros entsprungen . . . Sie blühte mir zu. Äpfel reiften mir entgegen, rotwangige Äpfel, doch als ich sie genauer ansah, waren es Sodomsäpfel, staubgefüllte, trügerische Sodomsäpfel« – und seine rechte Faust knöchelte über den Tisch hin – »und da eines Tages . . . genau wie du sagtest: ein treuherziges, feinrassiges Mädel, so ein liebes, verträumtes, schaute wieder in meinen grauen Alltag herein . . . wurde zur Jungfrau . . . wurde zum Weib . . . lieblich anzusehen und schön wie die Blumen, wie sie blühen unter dem Himmel des heiligen Landes . . . und breitete die Arme . . . und war wie eine, die gekommen war, einem das Blut aus den Adern zu nehmen. Du, da wurde die tote Asche lebendig, da kam es in mich gefahren wie Flammen und Schwertstreich. Trotz der niederen Weihen, die ich bereits empfangen hatte – es war ein Stürmen und Drängen in mir, ein Reißen und Aufbegehren. Als springe mir ein eisernes Band von der Seele, so war es; als zermürbte die Decke, die mich eisig umklammerte, so ließ es mich an. Das Schermesser, das mir die Tonsur auf den Hinterkopf zirkelte, war mir verhaßt, all die mit heißen Gebeten durchstammelten Nächte versanken, die Soutane, die ich mit Ehren getragen hatte, ich riß sie mir vom Leibe herunter, und eine Glocke heulte mir zu: Suche die Freiheit, die Freiheit! Dränge dich an die Brust und in die Arme des gottwohlgefälligen Weibes . . . und so gläubig und kirchlich ich war, so innig und warm ich auch meiner armen Mutter gedachte – die Türe des Seminars schlug hinter mir zu, und siehe da: ich war dem lachenden Land, der Freude und der Herrlichkeit wieder gegeben. So schien es.«
»Hans, das ist furchtbar.«
»Nur furchtbar, Andreas? Das Furchtbarste kommt noch, denn all das lachende Land, die Freude und die erträumte Herrlichkeit, sie stürzten zusammen wie der jüdische Tempel, wurden zu Lavabrocken, wie sie liegen am Meere des Todes.«
Er riß sich auf und suchte nach Atem.
»Und so ist denn das Heute gekommen, und nochmals gesagt . . .«
»Was du?«
»Es wäre besser gewesen, ich wäre Priester geworden.«
»Nein,« flammte der junge Kleriker auf, »es wäre nicht besser gewesen!«
»Andreas, ich kann nicht vergessen. Aber jetzt weiß ich: die Kirche kann Wunder tun. Man muß nur harren und hoffen. Schließlich kommt doch die Erkenntnis, daß alles eitel und nichtig war und leeres Spreuicht. Ich hätte die Dornenkrone tragen und mir das Stigma des Cölibats aufdrücken sollen, hätte ringen sollen gegen die Anfechtungen des Fleisches, gegen die Lockungen und Reize des Weibes, gegen alles das, was den Menschen aus Senkel und Blei wirft, hätte die Martinizinsen meiner Seele bezahlen und mich mit unersättlicher Gier hineinstürzen sollen in die Geheimnisse und Tiefen der Mystik – vielleicht hätte ich Ruhe gefunden.«
»Vielleicht auch nicht. Nein du – du bist nicht zum Lehramt bestimmt, nicht zum Hirten berufen. Wohl dem Manne, dem eine innere Stimme gebietet: Gehe hin und lehre den Völkern! Bekleide das Amt eines Gesalbten! Es ist das höchste auf Erden. Segne und weihe und gib denen das Brot des Lebens, die nach dem Brot des Lebens verlangen! Ein solches Amt kommt von Gott und liegt dem Auserwählten im Blute. Du aber gehörst nicht zu den Auserwählten; die heilige Prädisposition hierzu hat dir niemals im Blute gelegen. Du kannst mit deinen theologischen Weltanschauungen keine Berge versetzen, keinen Strömen gebieten, talaufwärts zu fließen. Du hättest die Prüfung nicht bestanden, nicht vor dir selber, und wärest zu leicht befunden worden; denn wer in den Armen des Weibes gelegen, an seiner Brust gerastet, wer heiße Liebe gekostet und verzehrende Küsse empfangen hat, wer sich da sagte: Nur so steht mir das Himmelreich offen – der kann sich nicht mehr ein Auge ausreißen, weil es ihn ärgert, für den ist der Palmsonntag eines Hirten dahin, der kann kein Priester mehr werden.«
»Nicht!«
»Nein – du, der kann wohl noch den weltlichen, aber nicht mehr den göttlichen Acker bebauen. Dixi et salvavi animam meam.«
»Also denn nicht.«
Ein dumpfes Schweigen tat sich aus, war in ihnen, war um sie.
Der Rosenschimmer, das Leuchten und Glänzen war längst von der Erde gewichen. Durch die weißen Gardinen schob sich das Dunkel des Abends, die große Andacht der Einsamkeit. Die Gegenstände des Zimmers flossen sacht ineinander. Die Rehstangen und die Hirschgeweihe, die Stiche nach Landseer, die an den Wänden hingen, die Glasservante mit ihren seltenen Stücken aus Meißen und Delft waren kaum noch zu sehen. Die ernste Stille ließ sich mit Händen greifen.
Plötzlich zerriß sie.
»Gut,« knirschte Hans Harkort, »da doch nichts mehr übrig bleibt, mag kommen, was wolle. Das Rätsel von Theben hat noch keiner ergründet. Auch ich nicht. So mögen mich denn seine Tatzen verderben.«
»Du . . .!«
Andreas Lobbers pflanzte sich dicht neben ihm auf.
»Das hat schon deine Mutter befürchtet. Du – willst du sie auch hierhin umnachten? Sei doch barmherzig! Was hast du eigentlich vor? Bist du denn gänzlich von Sinnen und unterfängst dich, die Vorsehung herauszufordern? Willst du Sturm laufen gegen den gesunden Menschenverstand und deine Arbeit, dein Glück und dein Ansehen zerfleischen? Willst du dich unselig machen und dein Capua finden? Sapere aude! Wage es, weise zu sein, und gehöre nicht zu denen, die sich in ihrer Bitterkeit anheischig machen, den Pelion auf den Ossa zu türmen, sonst – die Stunde kommt, wo du aufschreien wirst: Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa!« und strack reckte er sich auf, und in jäher Bewegung warf er ihm die Arme um den Nacken, drückte ihn an sich und stammelte, tiefes Weh in der Brust und Tränen in den Augen: »Hans, du lieber, du guter, du treuer! sei doch nicht völlig verzweifelt, denn siehe: der Himmel kam dir zu Hilfe. Franziska ist frei. Du selbst bist dein eigner Herr und keinem verpflichtet. Willst du, daß ich hingehe zu ihr, um deinem Kummer ein Ende zu machen?«
»Andreas, wo das alles passiert ist?!«
Da ließ der junge Kaplan von ihm ab und sah ihm tief in die Augen.
»Hans,« sagte er gütig, »denke an den Zimmermannssohn aus Nazareth, an das sündige Weib, das die Pharisäer und Schriftgelehrten ihm zuführten. Sie hatte die Ehe gebrochen, die andere aber nur die Brautschaft von sich getan. Und der Nazarener sagte zu den Pharisäern und Schriftgelehrten: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie! Und er bückte sich und schrieb in den Sand, stumme Zeichen und Runen. Und er richtete sich auf, und da er niemand sah denn das Weib, sprach er es an: Weib, wo sind deine Verkläger? Hat dich niemand verdammt? Und sie erwiderte ihm: Herr, niemand. Und da sagte er tröstlich: So verdamme ich dich auch nicht, und er bückte sich nochmals und schrieb in den Sand, Zeichen und Runen. So der Nazarener. Es gibt Dinge, über die man nicht rechtet und richtet, die man in den Sand schreibt, in den eilfertigen, raschen, auf daß sie vergehen. Der schlichte Zimmermannssohn tat es, unser Herr und Erlöser. Glaubst du denn, besser zu handeln als dieser? Du Unbesonnener. Wage es nicht, vielmehr: folge ihm nach und tue desgleichen!«
Er wandte sich ab und hörte auf die Stimmen des Abends, die gedämpft und verschwommen vom Hof aus herübertönten. Irgendwo sang einer das Lied vom guten Kameraden. Alle Strophen wurden gesungen, innig und eindringlich. Dann kamen derbe Schritte gegangen und schienen in den Hausflur zu treten. Hier verstummten sie plötzlich.
Lautlos hatte sich Hans Harkort an die Seite des abgekehrten Freundes begeben.
»Andreas . . .!«
»Was willst du? Erinnere dich des judäischen Weibes und gedenke der andern. Jene war sündig, diese nur vom Unglück geschlagen. Willst du dich niederbücken und in den Sand schreiben, Zeichen und Runen?«
Er griff nach der Hand des Insichgekehrten. Sie war fiebrig und heiß.
»Ich möchte dir eine Geschichte in Briefform erzählen,« sagte Hans Harkort. »Sie hat noch keiner erfahren. Nur du sollst sie wissen. Willst du sie hören?«
Seine Worte waren trocken und eingerostet und von einer seltsamen Eisigkeit.
»Ja, ich will hören.«
»So höre Wort für Wort und Zeile für Zeile. Aber höre genau zu, damit dir auch nicht das Geringste entschwindet. Suche die Frauenseele zu erkunden, zu deuten, und wenn es geschehen ist, wenn du mit dir im reinen bist, dann überlege dir nach bestem Gewissen und Wissen, ob du noch gesonnen bist, mir zu gebieten: Tue das, was der Herr getan hat, als sie ihm die Verlorene zuführten – beuge dich nieder und male in den Sand, Zeichen und Runen!«
»Es geschehe nach deinen Worten,« versetzte Andreas, während Hans Harkort an den Schreibtisch trat, ein mittleres Gefach öffnete und es mit einer heftigen Bewegung aufriß. Einem Bündel von Briefen entnahm er das oberste Schreiben.
In diesem Augenblick ließ sich draußen eine schüchterne Stimme vernehmen: »Darf ich vorsprechen, Herr Harkort?«
»Wer ist da?«
»Ich bin es, Herr Harkort.«
»Herein nur, Johanna!« und als sie eintrat und das brennende Licht auf den Tisch stellte, sagte sie scheu vor sich hin: »Madam wollte es so. Ich sollte die Lampe . . . und dann noch, Herr Harkort . . . Draußen sind welche, die wollen Sie sprechen.«
»Wer denn, Johanna?«
»Herr Höfkens, Pitt Lörksen und Dores Schweißgut. Sie hätten es eilig, meinten die Herren, und könnten nicht warten. Was sie vorzubringen hätten, sei wichtig. Sie wären extra deswegen den weiten Weg herübergekommen.«
Unwillkürlich, den Brief in der Hand, wandte sich Hans Harkort an seinen Jugendgenossen: »Was meinst du, Andreas?«
»Gott ja! laß sie kommen! Es sind prächtige Menschen. Man weiß nicht, was sie für ein dringliches Anliegen haben. Deine Sache dann später – in aller Ruhe und Überlegung.«
»Gut denn, ich lasse bitten, Johanna.«
Das Schriftstück warf er wieder in die Lade zurück und stieß das Gefach zu.
Hinter Johanna klinkte leise die Tür ein.
* * *