Joseph von Lauff
Die Seherin von der Getter
Joseph von Lauff

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20

Ein leises Wispern von Seide im Zimmer, wo Hille sich niedergelegt hatte.

Vor dem Zubettgehen war Stephanie von Boeselager noch einmal erschienen, um nach ihrer Nichte zu sehen.

Ein Nachtlicht brannte auf einer kleinen Servante. Eine spärliche Helle ringsum, die das große Himmelbett mit den düstern Vorhängen, seinen Quasten und hohen Säulen mit Perlmutterglanz umschmeichelte. Das kränkliche Flämmchen, das an einem schwimmenden Docht zehrte, malte zitternde Kringel gegen die Decke, hatte aber nicht Kraft genug, die Gegenstände des niedrigen Raumes sattsam erkennen zu lassen.

Das dreiteilige Fenster, jetzt mit leichten Gardinen verhangen, sah wie eine transparente Myrrhenscheibe ins Zimmer, bleich und matt, von dem dunstigen Licht des Mondes angehaucht, der ernst und gemessen wie ein Totenansager über den herbstlichen Wäldern heraufstieg. Die Wände mit den eingedunkelten Tapeten standen gleich Lemuren daneben.

Auf den Zehenspitzen trat Stephanie näher.

Sie hielt den Atem an.

Ein weicher Teppich dämpfte die an und für sich fast lautlosen Schritte.

Hille lag mit gefalteten Händen zwischen den Kissen, die Blicke weit offen, die Haare gleich einer weizenblonden Krone um Stirn und Schläfen gelegt. Bläuliche Ringe umschatteten ihre Lider. Das war deutlich zu sehen, denn trotz der schwachen Beleuchtung umgab das Antlitz eine wächserne Blässe. Sie schien auf das Rauschen der Bäume zu hören.

»Hast du noch irgend einen Wunsch, Hille?«

»Keinen. Ich danke dir herzlichst.«

»Auch nichts, was dich beängstigen könnte?«

»Nichts.«

»Und du denkst nicht mehr an die traurige Sache.«

»Nein, meine Liebe.«

»So kann ich mich beruhigt schlafen legen?«

»Ganz ruhig.«

»Sollte etwas sein, ich bin dicht nebenan. Die Türe bleibt angelehnt.«

»Was du tust, ist wohlgetan, und nochmals: ich danke dir innigst.«

Zwei welke Lippen legten sich auf den Mund der Ärmsten.

Dann wieder das Wispern von Seide.

Gleich darauf zerfloß das Freifräulein in einer seinen und doch undurchdringlichen Gaze, ohne Geräusch, ohne auch nur den geringsten Laut von sich zu geben.

Hille glaubte, eine Erscheinung gehabt zu haben.

Sie lag noch immer gestreckt auf dem Rücken, regungslos, die Augen wie im Schauen geöffnet, jetzt gefaßt, müde von Tränen und Leid und das Geschehene als etwas Unabänderliches hinnehmend. Für Raum und Zeit hatte sie keinen Begriff mehr. Die Ereignisse, gute und böse, nahmen sich bei der Hand, kehrten sich ab, wurden kleiner und unbedeutsamer, bis sie untertauchten und ihrem Gesichtskreis entschwanden. Sie vermochte es nicht, ihre Glieder zu regen, eine andre Lage einzunehmen. Eine Art von Betäubung hatte sich ihrer bemächtigt und führte sie in eine graue, weite Ebene, wo das Vergessen sich heimisch fühlte, eine Handvoll Sand vom Boden raffte und die einzelnen Körner mit stumpfem Beten durch die Finger rieseln ließ. Mit jedem niedergleitenden Sandkorn schien ihr ein Stein vom Herzen zu stolpern. Immer freier fühlte sie sich, immer leichter und weltferner. Der hölzerne Baldachin mit den in schweren Falten herabfließenden Vorhängen wurde ihr zum Himmelsgewölbe. Dort flinzelte es auf. Erst kaum zu sehen, dann lichter und sichtiger. Einzelne Fünkchen begannen zu schimmern. Ihnen gesellten sich mehrere, hunderte, tausende. Hier und dort brannte eins mit besonderer Stärke. Zuckende Flämmchen waren dazwischen, Sterne und solche, die einen roten Glanz hinter sich herzogen. Es strahlte von Sonnen, von dem Feuer kreisender Planeten. Sie strebte ihnen zu. Die Erde rückte von ihr ab. Alle Nöte und Ängste blieben hinter ihr. Immer mehr glitt sie ins Wesenlose hinein, in eine Pracht der Anschauung, die ihresgleichen nicht hatte. Sie vernahm Marienlieder, Psalmen, Chöre der Engel, das Singen einer gewaltigen Domorgel. Für das Irdische hatte sie jede Teilnahme verloren. Nur das zunächst Liegende erregte noch zeitweilig ihre Sinne. Sie hörte auf das trauliche Hantieren nebenan, auf das Rücken eines Stuhles, das Auf- und Zumachen von Schachteln und Schächtelchen. Sie verfolgte den Lichtschein, der aus dem Nebenzimmer durch den Türspalt blinzelte, sie sah sein Verlöschen und hörte noch, wie die Wälder wiederum lauter zu rauschen anhuben. Dann vernahm sie nichts mehr, obgleich sie noch wach war und ihre Augen sich nicht schließen wollten.

Leib und Seele trennten sich völlig.

Wie spät es eigentlich war, wußte sie nicht.

Hatte sie überhaupt schon geschlafen?

Ja, wer das sagen könnte!

Wo war sie überhaupt?

Sie tastete wie mit einer Stange durch endlose Schwaden, ohne wissend zu werden. Nur über ihr stand das Leuchten in unverminderter Klarheit, zogen die Himmelspilger ihre geruhsame Bahn, klangen die Marienlieder, die Chöre der Engel, tönte die Domorgel, als würden die Register von Geisterhänden gemeistert.

Plötzlich war Stille um sie, eine Stille, die sie seltsam bewegte und ihre Brust lauter pochen ließ. Und durch diese Stille hindurch zitterte ein eigenartiges Klingen, ein Nachhall, ein Geräusch, das sich anließ, als müßten ihm noch verschiedene folgen. Das Klopfen wiederholte sich. Sie horchte darauf. Tickte das Totenührchen im Holz, oder was hatte es sonst zu bedeuten? Ein zweites Geräusch kam von draußen her, von Darfeld, dem nahen Kirchspiel, das jenseits des großen Gehölzes in den Wiesen schlummerte. Vom Turm drangen einzelne Schläge. Sie zählte sie in sichtlicher Spannung und bestätigte zwölf einzelne Laute.

Also Mitternacht.

Mit dem Verhallen hüllte sich das Gemach in ein eintöniges Kleid. Das bemerkte sie deutlich. Das Nachtlicht hatte seinen Schein eingebüßt. Der Docht glimmte nur noch, ähnlich einem Würmchen in warmen Sommernächten. Das Planetenfeuer über ihr, die Funken und Sterne, die einen roten Schweif hinter sich hergezogen hatten, waren erloschen. Alles trug ein ödes und verfallenes Aussehen. Dafür stand das große Fenster wie eine fast taghelle Scheibe zwischen den dunklen Wänden.

Ihre Blicke richteten sich darauf. Deren Starrheit nahm zu. Sie weiteten sich maßlos.

Sie konnte von der transparenten Fläche nicht lassen. Alles Licht, das von ihr ausging, schien auf ihrem Antlitz haften zu bleiben. Das schmale Gesicht war schneeweiß geworden, durchscheinend wie Porzellan; ebenso die Hände, die noch immer gefaltet auf der Bettdecke ruhten. Eine magische Kraft richtete sie steil in die Höhe. Sie erhob sich, warf einen Mantel über, trat ans Fenster und scheitelte die Gardine mit scheuen Fingern auseinander, ohne dabei den leichtgewirkten Musselin aus den Händen zu geben.

Alle Bewegungen machte sie in der Art unschlüssiger Frauen, die zwecklos Dinge verrichten, von denen sie nicht wissen, was sie eigentlich mit ihnen anfangen sollen. Sie waren zögernd, unsicher, als wenn sie sich mit einem andern Gegenstand beschäftigten.

Vor ihr lag die Nacht wie aus einem Zauberspiegel genommen.

Der volle Mond stand hoch unter dem Himmelreich. Unter ihm ruhten die Wälder gleich schwarzen Lavamassen. Die einzelnen Baumgruppen tauchten wie Inseln aus dem seichten Nebelmeer, das die große Wiese lautlos umspülte. Lichtblaue Mondfüßchen trippelten darüber hin, versanken spurlos, um wieder aufzutauchen und weiter zu tänzeln. Ein kaum wahrnehmbares Wogen und Wiegen. Spinnwebartige Tücher wellten sich gegen das Herrenhaus an, überfluteten den Hof, umschleierten die Grundmauern und versuchten es, sich an den Wänden emporzuarbeiten.

Durch den Nebelsee aber watete jemand . . .

Er kam geradenwegs aus dem dunkeln Gehölz auf den Hof zu.

Sie verfolgte sein Nahen mit heimlichem Grausen.

Jetzt war er bei den Eichen, bei den Eichen der Annette von Droste.

Sein Kopf war von einem großkrempigen Hut bedeckt. Hinter ihm flatterte ein mausfahler Mantel. Die Arme bewegten sich taktmäßig. Sein Schritt ging ruckweise, hatte etwas Rhythmisches an sich, ähnlich dem, was die Schnitter an sich haben, wenn die reifen Halme ihr Sterbelied singen.

Und er schwang eine Sense.

Sie blinkte wie ein Rasiermesser und sichelte lange Dunstfetzen aus den Schwaden heraus. Sie senste sich an den Eichen vorbei, überholte die Wiese, senste sich in den Hof hinein, bis dicht an die Haustür.

Hier machte sie halt.

Der Mäher selber hob langsam den Kopf. Seine hohlen Blicke waren auf Hille gerichtet.

Er schien ihr zu winken.

Vom Grauen gepackt, an allen Gliedern fröstelnd, verließ sie das Fenster, streckte sich wieder und zog sich die Decke über die noch immer sehenden Augen. Ähnliches war einem der besten Freunde ihres Vaters geschehen, auf einem schottischen Hochsitz, zur Jagdzeit, als die Moorhühner in die Birken einfielen. Als Kind hatte sie dem Erzähler, einem Herrn von Mutzenbecher, atemlos gelauscht und alles in sich aufgenommen. Und dieser erzählte . . . Drei Tage währte das Jagen. Am Abend des letzten, als der Dudelsackpfeifer am Kamin eingenickt und der Hausherr, Sir Patrik Aberdeen, höchsteigen den ›Pibroch of Donald Dhu‹ angestimmt und gesungen hatte:

»Weg den Plaid, zieht das Schwert!
    Vorwärts, ihr Leute!
Donuil Dhus Kriegsgesang
    Töne zum Streite . . .«

geleitete der ehrenwerte Sir seinen Gast bis an die Schwelle des einsamen Zimmers, das auf die Zufahrt und das Hochland hinausging, und wünschte ihm ein geruhsames Schlafen. Bald darauf herrschte tiefste Lautlosigkeit auf allen Fluren und in den anstoßenden Kammern. Er selber lag zwischen Träumen und Wachen. Vom nahen Moor her rauschte das Schilf, kamen die Stimmen, die zwischen Ried und Heidekraut wohnten, als er plötzlich hörte, daß sein Name gerufen wurde. Der Anruf wiederholte sich in bestimmten Intervallen, ähnlich dem Fallen von bleiernen Tropfen in eine Messingschale. Er hob sich zwischen den Kissen, fuhr sich über die Augen, sammelte seine Gedanken, um jede Täuschung von sich zu weisen. Da wieder. Ganz deutlich kam die unheimliche Stimme herüber: zweimal, dreimal, viermal hintereinander . . . von draußen . . . dicht über der Anfahrt. Das Blut gefror ihm. Er trat ans Fenster und riegelte auf. Helles Mondlicht schlug ihm entgegen. Unter ihm aber, gerade vor der Schloßtür, hielt ein dunkles Gefährt – ein Leichenwagen, mit schwarzen Pferden in silberplattierten Geschirren bespannt . . . auf dem Bock ein vierschrötiger Mensch, von dessen Dreispitz die beiden Enden der Pleureuse im Nachtwind schaukelten. Der Dreispitz senkte sich rücklings. Ein entsetzliches Gesicht kam zum Vorschein. Die umflorte Peitsche machte eine nicht mißzuverstehende Bewegung, von einer häßlichen Aufforderung begleitet: »Come in, I am waiting for you.«

Daran mußte sie denken, immer und immer wieder.

»Come in, I am waiting for you.«

Immer und immer wieder, bis ein barmherziger Schlaf das traurige Bild aus ihrem Gedächtnis nahm und sie auf eine blumige Au führte, wo Hirtentäschlein standen und gelbe Himmelschlüsselchen sich im laulichen Winde bewegten.

Sie geriet in dieses Blühen hinein, in das Duften und Sichselbervergessen. Dann wähnte sie, eine Postkutsche käme auf der nahen Landstraße gefahren, unter fröhlichem Hufgetrappel und feierlichen Hornklängen. Ach, wer da mitreisen könnte . . .! Freundliche Dörfer lagen im fernen Grund. Lichte Rauchfäden standen über den Dächern. Alles und jedes atmete Frieden und ernste Beschaulichkeit. Sie konnte sich nicht satt genug daran sehen und streckte die Hände aus, um diesen Frieden und diese Beschaulichkeit in ihre Arme zu schließen. Und Bläulinge flogen hierhin und dorthin, über die Gräser, über Wiesenschaumkraut und nickende Simsen. Und als sie genauer zusah, waren es die blauen Augen der Annette von Droste, der hohen, sinnierenden Frau, der Heidegängerin, von der ihre Mutter und Stephanie so viel des Lieben erzählt hatten.

»Annette von Droste! Annette . . .!« Und dann wieder das entsetzliche: »Come in, I am waiting for you!«

Ein Klingelzeichen weckte sie auf, das durch alle Gänge tönte und sich bis in die entlegensten Winkel des Hauses verzweigte. Es mußte einen Resonanzboden haben, so hallte es weiter.

Aber keine menschliche Seele nahm Notiz davon, schien überhaupt auf das merkwürdige Zeichen zu hören.

Gleich darauf waren Schritte im Zimmer, so deutlich und dennoch so heimlich, als gingen sie auf Nebelschuhen über einen filzigen Moorgrund . . . bald näher . . . bald ferner . . . aber immer von einem schmerzlichen Seufzen begleitet. Die Geräusche waren mit Händen zu greifen, legten sich wie ein Alp auf die Seele.

Wirklichkeit und Wahngebilde wechselten ab.

Sie saß aufrecht im Bett, den Rücken gegen eine der flandrischen Säulen gelehnt, die den Baldachin trugen. Ringsherum fielen die Vorhänge in düsteren Falten zur Erde. Tücher und Fransen eines Katafalks. Nur eine schmale Stelle war offen geblieben. Durch sie hindurch sah sie das noch immer erhellte Fenster in Form eines Kreuzes.

Ihre Augen erschlossen sich in Erwartung eines nahen Geschehens. Sie brannten wie Kirchenscheiben, hinter denen das ewige Licht geisterte.

Die Nacht war um eine Stunde älter geworden.

Das nahe Geschehen mußte jetzt kommen.

Das fühlte sie deutlich.

Etwas Weißes, Unbestimmtes trat näher.

In diesem Augenblick wurden die schweren Gardinen auseinandergeschoben.

Sie stieß einen gellenden Schrei aus.

Bernd stand vor ihr, in seiner ganzen Größe und Mannesherrlichkeit. Nur sein Antlitz war bleicher . . . über die Stirn lief eine furchtbare Wunde . . . und die linke Gesichtshälfte war rot überlaufen. In dunkeln Fäden sickerte und tropfte es nieder . . . ein Sturz von Blut quoll heraus . . .

»Bernd . . .! Bernd . . .

Sie streckte ihm die Hände entgegen.

Er gab keine Antwort.

Nichts regte sich an ihm, nicht das geringste.

Nur die abgestorbenen, glanzlosen Blicke waren um Verzeihung flehend und um der Barmherzigkeit willen auf sie gerichtet . . . unsagbar gütig . . . unsagbar traurig . . .

Als wäre gar nichts geschehen, sanken die Gardinen wieder zusammen.

Aber ein zweiter Schrei ertönte, der das ganze Haus durchgellte: »Er ist tot! Er ist tot! Bernd wurde erschlagen!«

Alle Räume wurden lebendig. Türen gingen auf und zu. Unten regte es sich. Über den Hof fort, dort wo Hövelkamp die beiden Gäule eingestallt hatte, hellten die Fenster auf. Von allen Seiten drängten die Leute heran, kamen beim Pächter zusammen.

Hille selber fand sich in den Armen Stephanies wieder.

Im Vorzimmer harrte Emmerich. Rastlos durchmaß er die Stube nach Länge und Breite. Das tobende Blut in seinen Schläfen drohte ihm die Adern zu sprengen. Er wußte, was geschehen war. Seherin! Sie gehörte wieder zu den ›Blassen‹ im Lande.

Dann wieder das Wimmern und Schreien: »Dort . . . dort . . . dort . . .! Anspannen lassen . . . sofort . . .! Christus, mein Christus, Bernd wurde erschlagen . . .! Der Tod sühnt alles, nimmt alles fort . . .! O du Barmherzigkeit Gottes, zur Getter . . . zur Getter . . .! O du Lamm Gottes, das du hinwegnimmst die Sünden der Welt!«

Dann nichts mehr.

Gleich darauf erschien Stephanie, trat auf Emmerich zu, verlähmt, als bäte sie darum, die Sterbesakramente empfangen zu dürfen. Sie wechselten einige Worte, die über die kommenden Stunden entschieden.

Handeln, energisches Eingreifen war nötig.

Er begab sich nach unten, zu den Pächtersleuten. Dann suchte er Hövelkamp auf.

Er fand ihn, als hätte er auf dem Helweg gestanden, die offenen Blicke dorthin gerichtet, wo die Hallüh ungefähr liegen mochte, wie einer, dessen Augen Entsetzliches sehen.

Kurze Order und ein zustimmendes Nicken.

»Ich hab's gewußt, Herr Baron. So mußte es kommen, so und nicht anders. Gute Wacht ist wie der Stern Gottes; aber der Stern Gottes ist untergegangen. Lasset uns beten!«

Er legte seine harten Hände zusammen.

»Herr, sei der armen Seele barmherzig!«

Eine halbe Stunde später trabte ein einsamer Reiter unter dem dunstigen Mond hin.

* * *

Kurz vor Tau und Tag und just um die Zeit, als ein falbes Band den tiefen Horizont der Heide abgrenzte, sich mit jeder Minute verstärkte und sichtiger wurde, gingen harte Schritte um den Freisassenhof, dessen eintöniger Schattenriß sich noch so recht nicht aus der Dämmerung herausschälen konnte. Bald schluckte die Ferne sie auf, bald machte die Nähe sie wieder lebendig, und wenn es geschah, waren sie unduldsam, verzweifelt und von dem Hall eines Stockes begleitet. Dazu klangen die Worte: »Herr, erbarme dich unser! Christe, erbarme dich unser! Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber. Aber nicht mein, sondern dein Wille geschehe.«

Dann näher, ganz nahe: »Sie haben deine Hände und deine Füße durchbohrt. Deine Seite durchstoßen. Alle deine Gebeine haben sie gezählet. Christe, erbarme dich unser! Weib, sieh deinen Sohn. Und du, Sohn, sieh deine Mutter. Nennet mich nicht Noëmi, die Heitere, sondern Mara, die Bittere, und alle, die ihr vorübergehet, habet acht und schauet, ob ein Schmerz sei gleich meinem Schmerze.«

Das Gebet entfernte sich, war aber immer noch sattsam zu hören: »Wir bitten dich, o Herr, steh' uns bei im letzten Kampfe und verlaß uns nicht in der Stunde des Todes, damit wir deine Barmherzigkeit preisen in Ewigkeit, durch denselben Christum, unsern Herrn.«

Judith schritt fürder, ein gewaltiger Schatten, der in den Morgenhimmel hineinwuchs, begleitet von Griesgram und Grau, die gleich Wölfen neben ihr hertrabten, ab und zu belferten, stehen blieben, sicherten und Wind einholten, um dann wieder in ein gleichmäßiges Trotten zu fallen.

»Christe, erbarme dich unser!«

Jetzt war das verlorne Beten im Hof zwischen den Scheunen, dann im Grasgarten, dann am Kommunalweg, der der Hohen Fuhr zutrödelte, wo der Nebel in langen Fetzen durch die schwarzen Fichten wanderte, jetzt bei der einsamen Gräfte, wo die dicken Blasen aufstiegen und mit heimeligem Glucksen zerplatzten, ohne aufzuhören, immer dasselbe.

So war sie schon seit einer Stunde gegangen, nur mit dem quälenden Gedanken beschäftigt: »Wo er nur bleiben mag, und warum ist Hille gegangen?«

Sie zog ihre kummervollen Pfade, als trüge sie ein Marterholz, als wären ihre Schläfen mit einem Kranz von Christusdornen umflochten.

»Herr, erbarme dich unser!«

Dazwischen begannen die Hirsche zu orgeln, in der Moorwiese drüben, dicht hinter dem silbernen Birkengatter, zwischen den Krüppelfichten, die den tiefen Osten begrenzten.

Der Mond war untergegangen, das Morgengrauen im Wachsen begriffen. Der fahle Strich glänzte, sog die Dünste ein und betipfelte die blühende Heide mit goldenen Lichtern und Reflexen.

Die Kammern erwachten. Vereinzelte Knechte wiewackten den Scheunen zu, unter ihnen Jans Schwarte, der an Stelle Hövelkamps nach Ordnung sah und die Arbeit verteilte.

Die Laterne, die in der Werkstatt des Stellmachers gebrannt hatte, verlöschte.

Der Tag regierte, und der Freisassenhof strahlte im Frühschein.

Geräuschlos öffnete sich das große Tor an der Diele.

Einer trat in das Morgenleuchten hinaus.

Ohm Gideon.

Um seine Verstörtheit und Erregung niederzumeistern, hielt er eine brennende Zigarre zwischen den Zähnen. Er rieb die verklammten Hände zusammen. Ihn fröstelte. Fahrig wiegte er sich von einem Fuß auf den andern, als der schwarze Schemen wieder auftauchte und hastig herankam.

Er trat ihm entgegen.

»Frau Judith, noch immer keine Nachricht gekommen?«

Sie schüttelte den Kopf, daß sich ihre Ohrgehänge klingelnd bewegten.

»Nichts,« sagte sie traurig.

»Herr Jeses nochmal . . .

»Gideon, still! Wir wollen nicht das Unglück beschwören. Vielleicht ist es nur ein unbarmherziges Bangen gewesen. Immer nur Ruhe. Aber was ich gestern abend schon fragte, muß ich noch einmal besorgen. Wann habt ihr zwei euch zum letztenmal gesehen, und wo seid ihr auseinander gegangen?«

»Gestern um fünfe zwischen den Schilfkaupen. Ich machte zur Hohen Fuhr und er zur Hallüh hin.«

»Und kein Schuß ist gefallen?«

»Nein, kein Schuß ist gefallen, weder hüben noch drüben.«

»Und kein Irrtum ist möglich?«

Er zögerte.

»Keiner, absolut keiner,« sagte er schließlich.

Sie atmete auf.

»Und als ihr beiden von hier ginget,« fragte sie weiter, »ich meine: ist da nichts vorgefallen zwischen ihm und meiner Schwiegertochter?«

»Ich sagte schon gestern: nicht das geringste. Jawoll, ja. Im Gegenteil, so viel ich beurteilen konnte, war alles in der schönsten Verfassung. Die reinste Harmonie. Christus nochmal! aber ich weiß nicht, mir bekäme es besser, in der Wüste Ziegel zu streichen, als hier auf der Getter . . .«

Er verstummte und warf sich herum.

»Frau Judith . . .

Der ganze Mensch erschauerte.

Eisig lief es ihm über den Rücken.

Griesgram und Grau schlugen an, hechelten und begannen lange Fäden zu ziehen.

Hinter den Obstbäumen, die sich jenseits des großen Wassers erhoben, war ein Schnauben und Traben. Dann kam es um die Gräfte herum und weckte ein lautes Echo zwischen den Wirtschaftsgebäuden und den Geschirrkammern. Bei den Ställen hielten Roß und Reiter.

Jans Schwarte sprang zu und faßte Trense und Bügel.

Die Travelmännin und Ohm Gideon glaubten nicht richtig zu sehen, als der Reiter herantrat.

Der Paderborner hielt sich nicht länger.

»Alle guten Geister . . .! Endlich! Hast du Nachricht von ihm?«

Eine stumme Handbewegung.

»Emmerich, Emmerich . . .

Sie streckte ihm ihre Rechte zu.

Die Dargereichte stand bleich im Frühlicht.

Er nahm sie und berührte sie mit kalten Lippen.

»Frau Judith, ich habe eine Botschaft zu bringen.«

Ihre Augen brannten.

»Von Darfeld?« fragte sie heiser.

»Von Darfeld.«

»Und Hille?«

»Kommt wieder. Hövelkamp bringt sie.«

»Und wann?«

»In einigen Stunden. Möglich schon früher.«

»Heiliger Gott! Großer Gott . . .

Sie tat einen Atemzug, als wäre ihr neues Leben gegeben.

»Und Emmerich – sonst . . .

»Wollen wir nicht alles in Ruhe besprechen?«

»So kommt.«

Da sahen sich die verstörten Menschen an, reichten sich die Hände und gingen dem Herrenhaus zu.

Alles und jedes tat seinen Gang, wie das Schicksal es vorschrieb, mit der Ebenmäßigkeit des Perpendikels im altmodischen Uhrkasten, der mit seinem monotonen Hin und Her die Diele und die benachbarten Räume durchgeisterte. Diesem unaufdringlichen Tönen und Klopfen gesellten sich befremdliche Klänge, die bald von draußen, bald aus dem Innern des Hauses zu kommen schienen, gedämpft und von kaum wahrnehmbarem Trommeln begleitet . . . eine seltsame Musik, die anhub, um wieder zu schweigen, sich aufs neue verstärkte, abflaute, um sich im Tempo eines Trauermarsches immer mehr zu entfernen. Aber ganz verstummte sie nicht . . . erst dann, als die Heide in vollem Glanz lag und die warme Sonne den Tau von Gräsern und Rispen genommen hatte.

Du bist die Ruh'.

Aus der kleinen Kammer, die Frau Judith mit Emmerich und Ohm Gideon teilte, drangen die Worte: »Ich habe meine Hände nach dir ausgebreitet. Und meine Seele dürstet nach dir. Die ganze Nacht habe ich nach dir gerufen: Herr, sei barmherzig! Christus, du bist gehorsam gewesen bis zum Tode. Ja, bis zum Tode des Kreuzes. Sehet das Holz, an dem das Heil der Welt gehangen und seinen Geist aufgab im Namen der Barmherzigkeit!«

Das Gemurmel ging weiter.

Während das Gebet noch andauerte, verließen die beiden Männer das Zimmer, das die Botschaft mit angehört hatte, begaben sich auf den Hof und riefen die verfügbaren Leute zusammen. Jans Schwarte wurde zu Ludgerus Hölscher gesandt und dem Kuhantilopengesicht anempfohlen, Hövelkamp sofort nach seiner Rückkehr von Darfeld in Höhe des Hasenfanges zu schicken. Dort solle er warten, in aller Heimlichkeit und ohne Aufsehens zu machen.

Jans Schwarte trottete los, während der andre nochmals seinen Auftrag an den Fingern abzählte und heilig versprach, die empfangene Order in sachgemäßer Weise in Bestellung zu nehmen und weiter zu geben.

Emmerich und Ohm Gideon traten beiseite, wechselten einige Worte und zogen alsbald, von etlichen Getreuen des Hofes begleitet, in den Morgen hinein, dessen Antlitz erstrahlte, als vernähme er die Stimme des Unsichtbaren und das Walten der Vorsehung.

Ohne eine Silbe zu wechseln, schritten sie über heimatliche Erde.

An vielen Stellen war das Land schon umbrochen, harrend des Sämanns und der goldenen Körner, die da niederrieseln sollten im Namen der Satzung: »Wachset und mehret euch wie der Sand am Meere, ein Wohlgefallen vor Gott und den Menschen.« Wo noch Stoppeln und Brache waren, schnitten bereits verschiedene Pflüge ihre schnurgeraden Furchen. Saatkrähen folgten ihnen und stießen ihren grindigen Schnabel in den feuchtwarmen Boden. Vorgehölze, goldig verbrämt und von roten Zungen durchflammt, gürteten das offene Land ein. Darüber hinaus wuchs die blauschwarze Silhouette der Hallüh wie ein drohendes Wahrzeichen gen Himmel, ein mächtig aufgebautes Totenmal, den aufglühende Wipfel wie brennende Fackeln umstanden.

Das war ihr Ziel, dem schritten sie zu und erreichten es nach einstündigem Marsch.

Dort, in Nähe des Birkengatters angekommen, hielt Emmerich den noch immer durch eine Wirrnis taumelnden Paderborner am Ärmel zurück und fragte ihn heimlich: »Gideon, hast du wirklich keine Ahnung gehabt?«

Dessen Augen stülpten sich vor.

»Ich bitte dich, Emmerich, nicht die geringste.«

»Auch da nicht, als du gestern abend heimkehrtest und er noch immer nicht da war?«

»Auch da nicht.«

»Und während du weidwerktest, ist dir da nichts aufgefallen? Auch vorher nicht, im Gespräch mit ihm?«

Ohm Gideon wackelte mit Kopf und Spielhahnfeder.

»Niente,« versetzte er traurig.

»Und später: du hörtest keinen Schuß im Revier?«

»Eigentlich – nein. So sagte ich wenigstens, um ihr nicht alle Hoffnung zu nehmen und sie noch tiefer ins Elend hineinzudrücken. Aber wenn ich so alles bedenke . . . ich glaube, ja – ein Schuß ist gefallen, wenn auch man schwach und so, als wäre er mit Baumwollengarn umwickelt gewesen.«

»Wann war das ungefähr?«

»Gestern abend so gegen neune herum, als ich den Hochsitz verließ, verklammt und verärgert, ohne den Kapitalen angesprochen und bestätigt zu haben. Nebenbei bemerkt: das Büchsenlicht war unter aller Kanaille.«

»Und wann bist du nach Hause gekommen?«

»Zwischen zehne und elfe.«

»Und ihr habt noch lange zusammen gesessen?«

»Ja, mit Frau Judith. Gegen eins bin ich bedrückt in die Klappe gezogen und mußte immerzu denken: Ich hatt' 'nen Kameraden . . .«

Der Paderborner sah in die dunkeln Fichten hinein, deren dürre Äste in einer laulichen Brise rasselten

Emmerich ergriff seine Hand.

»Gideon, um diese Zeit ist er auf Darfeld gewesen.«

Der Kleine in grüner Watt schreckte auf.

»Menschenskind, wer denn?«

»Bernd.«

»Du bist wohl des Satans! Mach' doch bei helllichtem Tag die Pferde nicht scheu.«

»Ich sage dir, er ist auf Darfeld gewesen.«

»Bei wem denn?«

»Bei Hille.«

»Christus, Christus! Charles, zwei Bouteillen . . .«

Der Paderborner stand mit keuchendem Brustkorb.

Emmerich rüttelte ihn.

»Gideon, keine Geschichten. Nur Nerven. Die haben wir nötig. Sonst gar nichts. Jetzt heißt es: die ganze Hallüh muß abgesucht werden. Durchdrücken bis auf den Hasenfang zu, und wenn alles nicht hilft – dann Ultima ratio . . .«

»Hand ans Türschloß, wenn's auch auf Hausfriedensbruch herauskäme,« ergänzte Ohm Gideon und rückte sich den Filz in den Nacken.

»Los denn dafür!« und auf verschiedenen Schneisen traten sie in die Waldpracht der schwarzen Tannen ein, wo die Tageslichter ängstlich zusammenschmolzen, der Specht hämmerte und der Eichkater von Ast zu Ast holzte.

Im Schweiße ihres Angesichts ging es über Tümpel und Gräben, Barrieren und Wege, durch Altgestelle und Windbrüche. So verrannen Minuten um Minuten, Stunden um Stunden. Nichts blieb abseits liegen: keine Schonung, keine von Schilf und Porst umstandene Suhle. Überall Zurufe, ein Rascheln und Rauschen, ein Brechen und Knistern. Der verfilzte Boden keuchte unter den Schritten, dem Tasten und Suchen. Immer weiter durch Dickicht und Blößen; aber keine Spur ließ sich finden. Nichts, nichts, nichts! Abgehetzt und wegmüde traten sie gegen zwei an der Mulde aus dem Walde heraus, wo Bernd an jenem verhängnisvollen Abend geruht hatte, als ein Weib sich über ihn beugte und der Tag einschlafen wollte.

Dicht unter ihnen lag die Garkesche Wohnung zwischen welken Feuerbohnen und Obstbäumen, deren Früchte sich schon zu färben begannen.

Am Eingang stand Hövelkamp und machte ein Zeichen.

Er hielt einen schweren Feldstein in der Rechten.

Als sie herankamen, packte er ihn mit beiden Händen.

»Der hat's getan und das Türschloß erbrochen. Aber nichts mehr zu machen. Den Rest hat der da zu sagen.«

Über die Schwelle trat Ludgerus, gefaßt aber verstörten Gesichtes.

»Das Spiel ist zu Ende,« sagte er tonlos.

Er deutete auf das gelbe Bohnenlaub, das an den Stangen emporkroch.

»Dort liegt er . . . und drinnen das Weib . . . und wie alles geschehen, kann Gott nur ermessen . . . Nur das eine . . .«

Er hielt einen Fetzen beschmutzten Papiers zwischen den Fingern, auf dem etliche Zeilen niedergelegt waren.

»Das hier fand ich aufgespießt auf der Mittelsprosse eines frischen Geweihs, das in einer Ecke herumlag.«

Dann las er mit einer Stimme, die über sich selber erschreckte: »Dem Weib die Kugel. Ihm aber das, was ihm zukam. Er wurde im ehrlichen Kampfe erschlagen. Regelrecht und Auge in Auge. – Ihr seht mich nicht wieder. Der eigene Rächer seiner Ehre.«

Finsternis sank über die Männer. Jeder einzelne vernahm seinen eigenen Herzschlag, während Ludgerus sagte: »Bürgermeisteramt und Polizei wurden verständigt. Gleich müssen sie hier sein, und Ihr, Hövelkamp, tut mir die Liebe und bringt die Botschaft zur Getter. Wir folgen, wenn's an der Zeit ist. Gott mit Euch und gehet in Frieden!«

Da nahm Hövelkamp die Mütze herunter und zerknüllte sie zwischen den schwieligen Fingern.

»Wollen's besorgen, Hochwürden, wenn es auch schwer fällt und einem der Verstand aus den Nähten gedrückt wird. Gott, dieses Elend! und das ihnen beizubringen – den Frauen. Aber wie Sie meinen, Hochwürden,« und er ging wie einer, der eine Bagnokugel hinter sich herschleppte.

Punkt vier erschien die Gerichtskommission, nahm den Tatbestand auf und legte Siegel an.

Die Leiche des Freisassen wurde freigegeben.

Währenddessen hatten die Getreuen eine Bahre gezimmert und sie mit Tannenzweigen gespreitet.

Bald darauf war alles erledigt.

Ohm Gideon sah feuchten Auges in die niedrige Sonne.

Geruhsam sank sie tiefer und tiefer.

 


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