Joseph von Lauff
Die Seherin von der Getter
Joseph von Lauff

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6

Trotz des erzwungenen Übermutes und Lautseins des Gastgebers wollte die Stimmung unter der Hirschgeweihkrone so recht nicht mehr aufkommen. Allerdings: die Laubgirlanden hatten noch nichts an ihrem herbstlichen Schmuck verloren, die Gesichter glühten noch immer, frische Lichter waren aufgesteckt worden, allein der etwas unvermittelte Aufbruch der Damen und die seltsamen und geheimnisvollen Andeutungen Hilles ließen den prickelnden Schaum des Frohsinns mehr oder weniger verschalen. Etwas Bedrückendes trat in die Erscheinung, und als es dann noch im Uhrgehäuse rumorte, das Gangwerk ausholte und neun einzelne Schläge durch die Diele zitterten, machten verschiedene Gutsbesitzer Anstalten, unauffällig Abschied zu nehmen.

Auch Emmerich Dinklage war unter ihnen.

»Ich denke, Bernd, wir können das weidmännische Symposion für heute beschließen. Offene Herzen, treffliche Reden und eine wohlgelungene Jägerei! Es war prächtig bei dir. Schöneres kann die Getter nicht bieten. Ein Mehr wäre vom Übel, und morgen ist auch ein Tag.«

Bernd sah ihn verständnislos an.

»Du, wo die Bowle noch aussteht?«

»Sie verdirbt nicht bis morgen. Außerdem: denke an deine Mutter!«

»Du hast doch gehört, was sie sagte.«

»Gewiß . . . ihre angeborene Höflichkeit . . . ihr feines Empfinden . . . aber in dieser Courtoisie lag ein stummer Hinweis, der meiner Ansicht nach auf Hille zielte. Ihr Zustand, die Art und Weise ihres Sprechens, eine Erregung, die ich nicht zu deuten vermag . . .«

Bernd winkte ab. Ein Unwetter braute unter seiner Schädeldecke.

»Weiberlaunen! Lediglich eine Entgleisung ihres allzu regen Geistes. C'est tout! Du mußt sie doch kennen. So ist sie schon früher gewesen, und es wäre das Verkehrteste, was wir aufstellen könnten, wollten wir diese Marotte, diese kleinliche Irrung auf die Goldwage legen. Nichts wäre bedenklicher. Man würde sie nur in ihren Grillen und Ideen bestärken. So was darf ihr nicht durchgehen. Es ist einfach niederzubügeln oder wie'n Gockel aus der blauen Luft zu pulvern. Nur kein Aufhebens machen. Glühende Asche soll man nicht anblasen. Sich selbst überlassen, fällt sie schließlich zusammen und wandert ab wie'n feiner Staubregen vor dem Winde. Ich geh' noch weiter und erkläre schlankweg heraus: sie würde es als quälend ansprechen, wenn wir aufbrechen wollten und ihretwegen den Knalleffekt unter den Tisch fallen ließen. Kein Gedanke daran. Der Abend wird mit 'ner Bowle beschlossen.«

»Wenn du denn meinst . . .«

»Aber selbstverständlich. Fort mit den Fledermäusen. Sie riechen nach Dämmerung und Talglichtern. Griechenmann, Heros von Mykenä und Leukas, du hast es ja am eigenen Leibe erfahren. Wer hat denn den Toten geleuchtet? Du nur allein, und das ist dir, wie du selber gestandest, hundsmiserabel bekommen. Na, also! Ich aber . . . Meine Herren, Sie hörten. Es lebe das Leben! Die Hauptsache kommt noch. Das Stück muß ausgespielt werden. Sonst wäre ich ein jammerseliger Schmierendirektor, den man mit 'nem Schlüssel von den Brettern spektakelt. Hiergeblieben, zusammengerückt und keine miesen Gesichter! Hövelkamp – Zigarren! Fräulein Johanna – die Hubertusbowle und pläsierliche Augen!«

»Natürlich!« konstatierte Ohm Gideon, der als erster den schaurigen Mantel abgestreift und sich im Hinblick auf den zu erwartenden Punsch bereits mit der Rolle eines Feuersalamanders vertraut gemacht hatte. »Jawohl, ja, die Bowle und pläsierliche Augen! Und wenn Sie, Fräulein Johanna, auf Ihrem Heimgang 'nen Cavaliere servante gebrauchen könnten . . .«

Der Lapis lazuli hofierte.

Fritz Garke trat näher heran.

»In diesem Falle, Herr Travelmann . . . Ich möchte bemerken: Altrogge brauchte gar nicht zu warten. Ich könnte ja Fräulein Johanna . . . wir haben denselben Weg . . . der Kotten liegt auf der halben Strecke nach Hiltrup . . .«

Gideon wiegte sich auf seinen putzigen Kavalleristen-Beinchen. Dazu schnipfte er mit Daumen und Mittelfinger.

»Bonus, melior, optimus! Brav gepfiffen, Herr Forstrat! Was die von der grünen Farbe sich doch menschlicher Zicken bedienen! Das sollte ihm passen! Nee, mein Guter, du barmherziger Samaritan der Seele und des eingeborenen Fleisches, da werde ich selber . . . jawohl, ja . . .« und seinen Arm in den des drallen Mädchens schiebend, sagte er mit verschmitztem Blinzeln und gehobener Grazie: »Wir zwei beide . . . du und ich . . . zwar ohne Acker und Halm, aber Lebenskünstler wie wir sind . . . Mädel, ruck', ruck', ruck' . . .«

»Streich' ihm eins über!« lachte der Gutsherr, »und, Gideon – du, wahre die Zunge. Fräulein Johanna, die Bowle! Auch 'ne angemessene Portion deinem Alten; dasselbe der andern Gesellschaft. Sie sollen's gut haben und auf den Hubertustag trinken. Aber mit Andacht.«

»Merci, Herr Travelmann,« und keine zehn Minuten vergingen, da brannten die Kerzen wieder in ihrer freundlichen Helle, tat der Perpendickel in der alten Kastenuhr seinen gewöhnlichen Gang, lag der Gutshof in Glanz und Schimmer, und war ein Friede unter dem Mondlicht wie unter dem Marienleuchter in der Kirche zu Amelsbüren. Hüben und drüben streckte man behaglich die Beine, kräuselten bläuliche Rauchwölkchen zur Decke, duftete es nach Arrak und Zitronen, dachte kaum einer mehr an das, was ein ängstliches Menschenskind schmerzlich bewegt hatte . . . und war doch wie ein Schmetterling, den die Nacht überrascht hatte, und der nicht mehr wußte, wo er ausruhen sollte.

Menschenkind, armes Menschenkind!

* * *

Eine Stimme wie aus einem leeren Ölfaß heraus: »Loben wir den Herrn von der Getter!« und da weder Jans Schwarte, dessen Haare aussahen, als wären sie durch lehmiges Wasser gezogen, ebenderselbe, der die Blässe zu dem Bullen geleitet hatte, noch der Mensch mit dem Kuhantilopengesicht den Mund auftat, sondern beide nur beifällig grinsten, responsierte Barthlemes Altrogge seinen eigenen Anruf.

»Loben wir ihn, loben wir ihn!« kam es dick und fett wie Engerlinge aus seinem blauleinenen Kittel heraus, »denn es ist ein Wohlgefallen vor Gott, also zu handeln. Punsch mit Zitronen! Unsereins kriegt höchstens 'nen Ollen Klaren unter die Nase. Aber Punsch mit Zitronen?! Loben wir ihn, loben wir ihn!« Und da erhoben sich alle, Knechte und Mägde, auch das muntere Ding mit den fuchsroten Haaren, stießen an und setzten sich wieder.

Barthlemes saß wie ein Starker unter den Leuten, die nicht nötig hatten, bei Tisch zu bedienen. Über ihm hing der Sturz des Herdfeuers. Hinter ihm brodelte der Wasserkessel. Neben ihm flinzelte noch immer das Licht der Laterne, die er mitgebracht hatte. Sein brutales Gesicht, das wie ein Flambeau glutete, umrahmte eine straffe, graumelierte Bartfräse. Die Glieder erinnerten an die eines Stiers, und wenn er seine Hände faltete und gegeneinander schurfelte, knackte es in den Fingergelenken, als wenn dürre Stäbchen zerbrächen. Als einziger Sohn des verstorbenen Küsters in Hiltrup, war er dazu bestimmt gewesen, dessen Folger im Amt zu werden. Das behagte ihm nicht, denn wider Willen und Wollen zertöpperten ihm die Kirchengeräte wie Nürnberger Spielzeug zwischen den Fäusten, und als er eines Tages in Vertretung seines Vaters einer Beerdigung beizuwohnen hatte und dabei einem mißliebigen Vikarius mit dem Weihwasserquast auf den Leib rückte, da waren für ihn die küsterlichen Akten für immer geschlossen. Die Kleriker wiesen ihn ab. Dafür hatte er Glück bei den Weibern, und als die unselige Geschichte mit dem Weihwasserpinsel sich anschickte, in das nebelhafte Reich der Mythen zu rücken, war er Besitzer eines Kottens mit zwanzig Morgen Ackerland eines üppigen Weibes, zweier melkenden Kühe und einiger Schweine geworden. Nun wähnte er, den Baron spielen zu können, und er tat es mit Anstand und 'ner gewissen Noblesse, wenn dabei auch die Hypotheken wie Elstervögel zu lärmen begannen. Seine Frau, die nebenher noch mannstolles Blut hatte, half ihm redlich dabei, und als sie mit Tod abging, kam Barthlemes immer mehr auf die Fusel- und Rutschbahn. Alles zerkrümelte ihm, nur nicht die Lust, den Großhans herauszukehren und andermanns Häschen niederzuschroten, auch nicht das Feierliche und Pastorale, das er aus dem Küsterhause mit in die Ehe gebracht hatte. Sonst aber . . . Gutmütig war er geblieben, und Humor hatte der Kerl, wie nicht auszudenken; denn wenn er im Krug saß, ein Spezial Aquavit oder 'ne Buddel Rotspon in Reichweite vor sich, sprach er die ihm verbliebenen Ackerländereien und Hutungen als Krumme an, die vor Korn und Kimme gehörten. Unter dem Gejohle seiner Freunde und Altersgenossen hielt er allsonntags seine Kesseltreiben ab, mit der stoischen Ruhe eines Weltweisen und den blanken und fidelen Äugelchen eines sanftmütigen Trinkers.

»Also los denn dafür!«

Das erste Treiben.

Mit einem scharfen Ruck fuhr der gekrümmte Zeigefinger der rechten Hand an die Backe.

»Tatterata!«

Hei, wie sie liefen, die Wiesen und Stoppelfelder!

»Druff, druff! Himmel, Gewitter! Da löpt he! Piff, paff!« und Barthlemes salutierte und goß sich ein Glas hinter die Binde, um dann mit dem gewichtigen Ton eines Kapuziners zu sprechen: »In nomine patris . . . die Strecke für die Nönnchen in Dorsten, weil sie meine Tochter Johanna belernen.«

Die Freunde wieherten.

Acht Wochen später: das zweite Treiben.

»Tatterata!«

Dieselbe Fingerbewegung.

»'raus aus dem Pott! Da löpt he! Wo? Dichte bi? So'n Aasknochen von Acker, so'n krummer! Päng, päng! Hat ihm schon!« Und wieder salutierte der Alte, trank und dozierte wie ein Kanzelredner in die Schnapskorona hinein, die sich vor Lachen den Bauch halten mußte, um ihr Zwerchfell vor dem Zerplatzen zu hüten: »Et filii . . . nimm ihn, Siegfried Rapünschen, Sohn Elkans, aus dem Stamme Ephraim, näsiger Mann von Amelsbüren, und zieh' ihm das Fell über die Löffel. Wo die Kuh ist, mag auch der Kleeacker hinmachen. Meine feinste Parzelle! Dann hat sie Gesellschaft. Fort mit Schaden! Es riecht nach Knoblauch. A votre santé, meine Herren!«

»Tatterata!«

Immer neue Treiben wurden angeblasen: das dritte, das vierte . . . und das letzte um Pfingsten.

»Tatterata!«

Es ging um den Kotten.

Barthlemes Altrogge thronte wie ein gewaltiger Nimrod im Krug. Es war Sonntag und die Luft voller Lerchenjubel. Seine Kumpane umdrängten ihn, animierten ihn, 'ne Runde zu geben.

»Warum nicht? Butter bei die Fisch'!« und neue Bouteillen erschienen, solche mit Ruhrperlen und solche mit dem Zauberwasser von Haselünne,

Damit die Augen klar und rein
Und die Hasen größer sein . . .

Der Wirt wälzte sich bereits wie ein übermütiges Füllen hinter der Anrichte.

»Barthlemes, Achtung!«

»Wo denn?«

»Dichte bi! Druff, druff!«

In Wirklichkeit und Wahrheit: da kam der Kotten gehoppelt, mit dem gesamten Inventar und den noch übriggebliebenen Ferkeln.

Hand an die Backe.

»Nicht durchziehn!«

»Denke nicht dran!« Gleichzeitig knallte er los: »Päng, päng! Der wäre geliefert – in nomine patris et filii et spiritus sancti . . .« und der stiernackige Zinsbauer, der nunmehrige Herr und Verwalter von Garnichts, erhob sich wie ein Gesalbter von den Binsen und legte gottergeben seine zitterigen Fäuste zusammen. Die kleinen gutmütigen Augen glänzten wie Holzmulm. In jedem glitzerte eine sanfte Träne, und seine Zunge lallte in heller Begeisterung: »Das wäre geleistet. Ehre sei Gott in der Höhe! Ich habe das Meine getan. Johanna hat Bildung, und ich für meine Person habe 'ne fette Hypothek auf dem Kotten. De profundis! Aber das tut nichts. Der Herr wird weiter helfen, und wenn er's nicht kann, wofür haben wir denn 'ne Regierung in Münster? – von jetzt an bis in alle Ewigkeit, Amen.«

Dann brach er unter dem frenetischem Beifall seiner Freunde zusammen, voll der Ruhrperlen und voll des edlen Wassers von Haselünne.

Um diese Zeit kam Fräulein Johanna aus Dorsten zurück.

Heute nun paradierte er mit gespreizten Beinen, hochrotem Kopf und Stielaugen vor seinem Punschglas auf Getter, neben sich die brennende Stallaterne, hinter sich den näselnden Wasserkessel: er, der verunglückte Anwärter einer pompösen Küsterstelle in Hiltrup, der gewesene Siedelungsbauer, der heruntergekommene Patron und Großsprecher – und freute sich seines verlotterten Lebens, des vor ihm stehenden Gebräus und der wenigen Silberlinge, die er seinen Gläubigern nichtsnutzigerweise abgeluchst hatte, als Hövelkamp erschien, um auch seinerseits eine Atempause zu machen und einen ›Lütten‹ zu heben.

Schwerfällig warf er sich an den Tisch.

Sein Blick fiel auf die Stallaterne.

»Jesses! warum brennt sie denn noch?« fragte er lauernd, wobei seine behaarten Finger das vorgestoßene Kinn schabten.

»Ich will doch nach Hause, später mit Johanna nach Hause.«

»Oller Döskopp! wir haben doch dreiviertel Licht auf der Heide. Drum puste das Dings aus!«

»Hat sich was mit 's Auspusten!« fuhr ihn Barthlemes an. »Das geht nicht so pieplings,« und seine Stimme gefiel sich in einem Ton, als käme sie aus einem Sargdeckel heraus. »Wo was stirbt, muß 'ne Lampe doch brennen.«

»Gotts den Donner noch mal! Ihr wollt doch nicht ausklamüsieren . . .

»Ich sage nur das, was mir Johanna gesagt hat. Die hat's gehört auf der Diele. Auf Getter soll's ja 'nen Toten bald geben.«

Der Oberknecht verfärbte sich. Ihm war so, als liefe ihm ein breiter Eisstrom über den Rücken. Dennoch erklärte er mit aller Bestimmtheit: »Schiete, segg Lepper. Immer men sachte. Herr Travelmann ist andrer Meinung, und was Herr Travelmann so in der Meinung gepackt hat . . .«

Seine platte Hand fiel hart auf den Tisch: »Das hat dreifache Naht. Abgemacht, fertig!«

»Möglich,« gab Barthlemes in unerschütterlicher Ruhe zurück, »aber man soll alles in Berücksichtigung nehmen. Christus! wer jetzt wohl heran muß? Ich glaube der Dicke, der Paderborner. Er hat ganz so das Aussehen. Drum lasset uns beten: Oremus!« und der vierschrötige Bombastikus hub an, einzelne lateinische Brocken unter die Leute zu streuen.

Dann schlug seine Stimmung um.

Quietschvergnügt sah er auf Hövelkamp, bei dem noch immer das Eiswasser triefte. Gleichzeitig ergriff er sein Punschglas.

»Warum sollte es auch der Dicke nicht sein? Der hat Speck unter der Schwarte. Das lieben die Maden. Oremus! Aber das schadet nicht weiter, denn der Herr ist barmherzig, und seine Werke sind herrlich wie am ersten Tage. Besonders sein Punschwerk. Ein angenehmes Pröstchen, Herr Hövelkamp! möchte aber bemerken: ich bin sonst 'n Radikaler. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! und vertrete den Grundsatz: wer hinterm Ochsensterz herstolpert, muß jetzt vierelang schassieren, und wer in 'nem Kotten oder in 'nem Schweinekoben herumnast, hat von heute an ein Palä zu beziehen. Nur die von der Getter nicht. Die estimieren 'nen Menschen im Menschen.

Er schwenkte sein Glas der Diele zu.

»A votre santé, Herr Travelmann! denn in dir wohnt die Kraft und die Macht und die Herrlichkeit und alles, was dein ist. Zum Wohl, meine Herren und Damen!« und während sie anstießen und tranken und ihm Beifall zollten, flüsterte die Kleine mit den fuchsroten Haaren ihrem Partner zu: »Du – es geht schon auf zehne. Ich hab' nichts mehr zu schaffen und mache mich dünne.«

Damit war sie heimlich aus der Tür gewuschert.

»Men to,« dachte der Invitierte und betrachtete nachdenklich seine Transchuhe, die er in einer Viertelstunde ausziehen mußte, um ungestört in das Allerheiligste über dem Kuhstall zu manövrieren, indes Barthlemes weiter agierte und nicht Worte genug finden konnte, dem Gutsherrn ein Credo nach dem andern zu singen.

Er machte sich breiter und größer, stand auf und streckte seine klobigen Arme wie Waschhölzer. Das tat er immer, wenn er predigte oder etwas Bedeutsames an den Mann bringen wollte. Ebenso mächtig gestikulierte sein schwarzer Schatten auf der gegenüberliegenden Wand, trocknete ein, um sich abermals ins Gigantische zu heben. Dabei flatterte es wie graue Flügel über die kalkige Fläche.

»Oremus!« begann er von neuem, »beten wir auch für Herrn Travelmann; er kann's gebrauchen. Nicht, daß ihm was passieren tun täte. Bei Gott nicht! Aber das Wort eines Gerechten hat noch keinem geschadet. Wir sind ihm zu Dank verpflichtet, denn er hat so was Kavaliermäßiges an sich und versteht Bowlen zu brauen . . .«

Schwer sank er auf den Holzstuhl zurück: »Bowlen . . .! – Weiß der Zackerzucker noch mal! Krechting und Knipperdölling konnten's nicht besser, und das waren doch Kerle.«

»Und erst ihre Weiber!« rief Jans Schwarte dazwischen, der bisher mit aufgestemmten Ellbogen und draufgestütztem Kinn der Unterhaltung gefolgt war, stumm wie ein Spiegelkarpfen und mit Glotzaugen. »Die verstanden's erst recht. Ich hab's in 'nem alten Geschichtenbuche gelesen. Und wenn sie's taten, auf dem Domplatz und so, dann stand Jan van Leyden hinter ihnen und kuckte zu und sagte: Bravo! und trank und schlug ihnen dann die Köppe herunter, braune und blonde, schwarze und solche, die aussahen, als wären sie von rotem Flachsgarn gewesen, denn so schön die Menscher auch waren, sie waren noch immer nicht nobel genug, mit ihm 'ne Polka Mazurka zu tanzen.«

»Höhö!« lachte das Kuhantilopengesicht und machte verliebte Nasenlöcher. »Barthlemes, hätte deine Tochter damals gelebt, die wäre 'ne Königin von Sion geworden.«

»Die?!« fragte Barthlemes in heller Begeisterung. Er wuchtete sich umständlich und schwer in die Höhe. »Wäre die durch Münster gezogen . . . in Gala . . . 'ne Krone auf dem Kopp und 'ne Schleppe hinter sich von hier bis nach Billerbeck zu – ich sage euch, Kinder: alle Wiedertäufer hätten Hosianna gerufen. Hosianna, die da kommt im Namen des Herrn, und ich verwette meinen Kotten dagegen: der Kopp wäre ihr nicht von den Schultern gepurzelt. So reich ist das Weibsbild. Rasse, Kreuzung zwischen Heidschnucke und Rambouilletbock. Solche Waden, knüppeldick und gauskendick, und Paradiesäpfel, als wären sie aus dem Bungert vom Grafen Galen bezogen.«

Mit der Rechten hämmerte er sich auf den blauleinenen Kittel.

»Exquisites Produkt meiner Firma. Ich . . . ich . . . ich . . .

Sein Atem ging dämpfig. Gedunsenen und verschwitzten Gesichtes suchte er die Runde ab, ob jemand es unternähme, eine gegenteilige Meinung aufzustellen.

Alle schwiegen.

Nur der Invitierte hatte sich an die Türe geschlichen und den Drücker ausgeklinkt. Von hier aus rief er über die Schultern: »Gratuliere! Die wäre ein Fressen . . .«

»Für wen denn ein Fressen?«

»Ihr wißt, wen ich meine.«

»Für dich etwa?«

»Höhö!« grinste ihm eine breite Visage entgegen.

»Hundebraten, verfluchter! Schick di in die Welt oder scher di herut.«

Die Tür knallte zu.

Barthlemes tobte wie ein französischer Proviantmeister hinter dem Ausreißer her, bezähmte sich aber, wurde bittersüß, setzte sich wieder und hielt seinem Nachbarn das Glas hin: »A votre santé!« sagte er mit einer Stimme, die im Punschertrakt und dem Zauberwasser von Haselünne zu schwimmen schien. »Ihr versteht mich, Jans Schwarte. Meine Tochter wäre berufen gewesen, mit dem auserwählten König 'ne Partie Sechsundsechzig zu spielen. Die hat Öl auf der Lampe und Mumm unter der Weste. Das kann jeder hier hören; denn wenn einer etwas Besonders hat, braucht er es nicht unter den Scheffel zu placieren, und daher: die Königin von Sion . . .«

Er schwieg erwartungsvoll.

Der Angeprostete wußte nicht, was er antworten sollte, aber seine Schlußfolgerungen nahmen eine Richtung an, die weder mit dem Katechismus noch mit den Heilswahrheiten der christkatholischen Kirche das Geringste zu tun hatten, während der Alte tiefsinnig vor sich hinstierte und wieder zu lärmen begann: »Rasse, Kreuzung zwischen Heidschnucke und Rambouilletbock . . . exquisites Produkt meiner Firma: Barthlemes und Kompagnie . . . nicht mehr zu haben. In diesem Sinne: die Königin von Sion . . . Oremus! Beten wir für sie, auf daß sie teilhaftig werde eines Paläs oder 'ner Glaskutsche mit vieren. Mein erbärmlicher Kotten ist zu klein für sie. Sie muß 'ne opulente Betätigung finden. Kutschpferde vor! – Eingestiegen! und 'rin ins Vergnügen! In nomine patris et filii et spiritus sancti.«

Seine Worte überstrudelten sich, gingen unter in einem wirren Tobel des Unsinns und der Selbstberäucherung.

Hövelkamp zuckte die Schultern und griemelte verloren in sich hinein:

»Bändken von Gaolen,
Kann puchen un praolen,
Kann fiesten, kann leigen
Un de Lüde bedreigen,

aber der ist ihm über. Man müßte 'nen Zölligen schneiden, um ihm das Fell zu versohlen.«

Dann sagte er laut: »Das ist alles dumm Tüg mit Johanna. Die hat's Gloria bei die Nönnchen gelassen und ist mit's Miserere wieder nach Hause gekommen.«

»Christus, das mir?!«

»Bleibt dabei,« versetzte Hövelkamp. Den Rest von dem, was er noch anbringen wollte, verschluckte er und betrat wieder die Diele, um das Kaminfeuer munter zu halten.

Hier hatte sich mittlerweile die Stimmung gehoben, obgleich Emmerich Dinklage noch immer still vor sich hinbrütete und mit einer gewissen Befangenheit zu kämpfen hatte. Auch das ging vorüber, denn die amüsanten Bilder und Bildchen, die der unergründlichen Jagdtasche der Diana mit stets neuen Varianten entstiegen, machten warm und heiter und ließen das Ärgerliche des heutigen Abends allmählich in Vergessenheit kommen. Die Gäste wurden zuversichtlicher, die Unterhaltung nahm einen jovialeren Ton an und fühlte sich behaglich inmitten der quirlenden Rauchwölkchen, die alles mit bläulichen Spinnweben austapezierten.

Ohm Gideon beteiligte sich eifrigst an diesem Tapeziergeschäft. Man hätte ihn für den Oberpriester Vitzliputzlis ansprechen können, so opferfreudig blies er den Dampf seiner dicken Zigarre zu den flackernden Kerzen auf, mit solcher Andacht und solchem Wohlgefallen folgte er den emsigen Bewegungen Johannas, die mit Takt und seltener Zurückhaltung die Herren bediente und gleichsam durch eine feine Gaze von aromatischen Düften dahinschwebte. Hinsichtlich der Bewertung ihrer Person gingen seine Ansichten und die ihres Vaters weit auseinander. Dieser ließ sie als Königin von Sion auf vaterländischem Boden, Gideon hingegen verpflanzte sie kraft seiner ausschweifenden Phantasie in das fabelhafte Gold- und Märchenland der Azteken. Er hielt sie für eine Blume der Prärie, für eine Tänzerin Vitzliputzlis, nur leicht bekleidet, das mit seltenen Steinen umkrustete Mieder voller Reichtum, ja für die Tochter des unglückseligen Königs Montezuma selber, und der Wunsch machte sich rege, diese Blume zu brechen, zu umschmeicheln und in den eigenen Wigwam zu tragen. Nur genierte es ihn, daß der Förster von Hiltrup sich offenkundig mit ähnlichen Erwägungen beschäftigte, denn durch die mächtige Punschterrine gedeckt, folgte er unentwegt und mit offenen Lichtern den leichtfüßigen Schritten des üppigen Mädchens, stets bemüht, durch eine zufällige Wendung des Armes mit dem jugendlichen Körper in Berührung zu kommen.

Hier war Einhalt geboten. Der schrankenlosen Gier des Zölibatärs in grüner Watt mußte ein Ziel gesetzt werden.

»Herr Forstrat,« rief er ihn an, »wo wird morgen gekesselt?«

Fritz Garke fühlte sich ertappt. Verlegen strählte er seinen Spitzbart.

»Zuerst an der hintersten Wegscheid, dann mehr nach dem Königlichen hin, bis wir wieder den ersten Kessel erreichen.«

»Bong! dann bitte ich um die ergiebigsten Stände. Ich verlaß mich auf Sie. Immer ventre à terre. Der morgige Tag muß dem heutigen sagen können: du Schafskopf.«

»Tut er,« lachte Fritz Garke. »In der Dawert gibt's Wild. Ich garantiere für die doppelte und dreifache Strecke.«

»Soll mir angenehm sein, aber wohlgemerkt, mein lieber Herr Forstrat . . .

Er unterbrach sich, schlug die Säbelbeinchen übereinander und wandte sich an den Gutsherrn: »Bernd, ich habe dir 'nen Vorschlag zu machen.«

»Schieß' los!«

»Du,« sagte er nachdenklich, indem er die tiefgebrannte Zigarre beiseite legte, »irgendwo heißt es:

Ich seh' dich an und muß den Schmerz verwinden,
Der wieder sich um Karlomann erneut . . .

Zuvor jedoch: heda, Fräulein Johanna! 'ne frische aus 'nem andern Kistchen,« und als dieses ihm anpräsentiert wurde und bald darauf eine dickleibige La flor de Henry Clay wie ein Pfahl in seinem linken Mundwinkel klebte, verabschiedete er die Tochter Montezumas mit einer gnädigen Handbewegung und zitierte aufs neue: »Der wieder sich um Karlomann erneut . . . und dieser Schmerz, Freisassenhöfer?! Du hörtest, was der Hiltruper Forstrat behauptete. In der Dawert gibt's Wild. Gut! dann aber ist es deine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, dem Schüsseltreiben 'ne angenehmere Folie zu geben. Ich meine: ein Pereat den verfluchten Gespenstergeschichten!«

»Du denkst an Frau Hille?«

»Das weniger. Aber das mit dem geheimnisvollen Kommen und Gehen. Was bedeutet das alles? Ich bin keine Bangbux, aber so was schlägt auf die Nerven, muß abgeschafft werden, sonst geht alle flotte Jägerei elendiglich pleite.«

Der Gutsherr nickte.

»Ganz meine Ansicht.«

Mit einer raschen Geste schnippste er den zierlichen Aschenkegel von seiner Havanna herunter.

»Man sollte überhaupt hinsichtlich der Nervosität der Frauen nicht so viel Aufhebens machen, dem Sensitiven gegenüber mehr gesunden Menschenverstand und Rückgrat besitzen.«

Emmerich Dinklage sah auf.

»Es gibt Dinge, mein Lieber, die schauern unter dieser Sprache zusammen.«

»Was, diese Ansicht?! Und du willst zu den Aufgeklärten zählen?«

»Eben, weil ich es tu', bin ich gerne bereit, vor meine Behauptung zu treten.«

»Auch vor die des ›Zweiten Gesichtes‹?«

»Ja, denn es gibt zweifellos Menschen, die infolge eines rätselhaften intuitiven Vermögens, bei äußerlich verschlossenen und toten Augen, die Fähigkeit besitzen, Vorgänge zu sehen und vorauszusagen, die gewöhnliche Sterbliche nicht wahrnehmen können.«

Bernd schien unangenehm berührt. Seine Brauen rückten näher zusammen.

»Das heißt also?« fragte er mit skeptischem Lächeln, während die übrigen Herren heranrückten, um besser hören zu können.

»Nichts weiter als das. Die Seele existiert als reales Wesen für sich, unabhängig vom Körper. Sie ist mit Eigenschaften begabt, die der Wissenschaft bis heute noch fremd sind. Sie kann wirken und schauen, ohne Vermittlung der Sinne.«

»Und sind diese schwerwiegenden Axiome auf deinem eigenen Boden gewachsen?«

»Keineswegs.«

»Und bist dennoch der Ansicht: sie können vor der wissenschaftlichen Sonde bestehen?«

»Vollkommen, wurden sie doch von einem Manne gezeitigt, dessen Lauterkeit, dessen Liebe zur westfälischen Scholle einwandfrei feststeht. Klaren und entschlossenen Geistes hielt er mit den ›Blassen‹ im Lande Verbindung, hörte sie an, tröstete sie in ihrer Not und Bedrängnis, registrierte nach bestem Wissen und Gewissen und fand ihre Gesichte in fast allen Fällen bestätigt. So vermochte er auch, frei von jeder Beeinflussung, aber übereinstimmend mit ernst zu nehmenden Forschern, die nachstehenden Thesen aufzustellen. Zum ersten: das zweite Gesicht ist das plötzliche Hervortreten eines hellsehenden Traumes im wachen Zustande. Zum andern: es gibt eine aus dem Unterbewußtsein der Seele aufsteigende Ahnung wieder, ein Zustand, worin dem großen Orgelwerk unseres Organismus ein neues, im normalen Dasein nicht gebrauchtes Register aufgezogen wird. Soweit mein Gewährsmann, und läßt du diesen nicht gelten, vor Arthur Schopenhauer, diesem kühlen Erwäger und Denker, wird deine Zweifelsucht nicht standhalten wollen.«

»Nun, und was behauptet dieser Strelitze einer schroffen Lebensweisheit?«

»Zweites Gesicht, Wahrträumen und ähnliche Dinge geben sichere, unabweisbare Anzeige von einem Zusammenhang der Wesen, der auf einer ganz anderen Ordnung der Erscheinungen beruht, als die Natur ist, die zu ihrer Basis die Gesetze des Raumes, der Zeit und der Kausalität hat.«

»Und die Erklärung hierfür?«

»Erklärung? Ignoramus et ignorabimus! Darauf gibt Goethe die Antwort:

Geheimnisvoll am lichten Tag,
Läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben,
Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag.
Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.

Da hast du's, und wohin wir in dieser Beziehung fühlen und tasten – es bleibt für uns ein unerforschliches Etwas, ein mimosenhaftes Geschehen, ein Suchen nach jenem Unbegreiflichen, von dem sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt.«

»Worte, nur Worte!«

Bernd Travelmann fuhr unwillig auf. Ein grausamer Zug prägte sich seinen Mundecken ein. Die Blicke nadelscharf in die seines Freundes gerichtet, fragte er mit harter Betonung jeder einzelnen Silbe: »So, und was haben diese feinausgeklügelten Probleme überhaupt mit Hille zu schaffen?«

Emmerich Dinklage zuckte die Schultern, scheinbar gewillt, das Gespräch zu beenden.

Schweigen umgab ihn. Keiner wagte zu sprechen. Die fast lautlosen Schritte Johannas wurden zu einem Gleiten über Schneedaunen. Ohm Gideon, der bisher nur mit halbem Ohre zugehört, dafür aber um so tiefgründiger die Tochter Monzezumas hinsichtlich ihrer körperlichen Vorzüge bewertet hatte, spitzte plötzlich die Löffel.

»Hm, hm!« sagte er leise.

»Du,« meinte der Jagdherr, »ich bin gespannt auf die Antwort.«

»Bernd,« klang es ihm zu, »bei sachlicher und ruhiger Prüfung der obwaltenden Vorgänge wirst auch du dich der Einsicht nicht verschließen dürfen, daß wir in der verehrten Herrin des Hauses ein Wesen vor uns haben, das, in Kraft seines potenzierten Seelenlebens, mit jenen in verwandtschaftlicher Beziehung steht, die den Helweg aufsuchen. Eine unwiderstehliche Notwendigkeit, ein kategorisches Müssen zwingt sie, so und nicht anders zu handeln. Ihr Wissen erhebt sich zum Schauen, ihr Schauen zur Selbstqual . . . und dieses Empfinden ist grundverschieden von Angst. Es ist ein Ringen und Grausen, eine furchtbare Gabe, ein entsetzliches Suchen . . . und daher: wir haben Rücksicht zu nehmen . . .«

»Rücksicht, worauf?«

»Bernd, du siehst mich an, als hegtest du Zweifel, Zweifel an meinem gesunden Menschenverstand.«

Der Gutsherr machte eine schroffe Bewegung, als sollte sie den gesponnenen Faden zerreißen.

»Eigentlich ja.«

»Dann sollst du es hören . . .«

Emmerich Dinklage hatte sich gleichfalls erhoben. Den Mund dicht an das Ohr des Freundes gerückt, sagte er hastig: »Du, sie trägt ein ergreifendes Zeichen. Ich sah es.«

»Welches?«

»Den Skarabäus.«

Eine Stille hielt an. Wurde greifbar. Lautlos duckte sich das Kaminfeuer zwischen die Kloben. Nur ein unbestimmtes Geräusch schien aus der Höhe zu kommen, kaum hörbar und doch mit der Dringlichkeit eines unabwendbaren Schicksals. Es war wie das Trapsen von aufgestöberten Ratten über den Balkensielen, ein Fallen und Gleiten, das sich zeitweilig verstärkte, um dann wieder abzuflauen und gänzlich zu schweigen.

Dazwischen harte, abweisende Worte: »Das ist ja um die Kränke zu kriegen. Bleibe mir mit deinem höheren Unsinn vom Leibe. So was gibt's nicht auf Getter.«

Ein jovialer Ton war dazwischen.

»Spotte nicht, Bernd! Es könnte sich das Unerhörte begeben.«

»Gottverdammich, rufe mir den Tod nicht ins Haus!«

In diesem Augenblick pochte es im Uhrkasten. Dann elf einzelne Schläge. Gleichzeitig wurde es in den benachbarten Ställen unruhig. Halfterketten klirrten. Das Rumpeln der Lattierbäume klang deutlich herüber.

Ohm Gideon drehte sich um. War es plötzlich so dunkel geworden? Tanzten die Gläser um ihn? Versank ihm die Welt unter den Füßen?

»Was ist denn hier los?!«

Er stierte zu Boden.

»Dunnerwetter noch mal! seh' ich weiße Mäuse oder kriecht da 'ne tote Hand über den Estrich?!«

Selbst der wilde Travelmann erbleichte.

»Du bist wohl verrückt!«

»Ich . . .?!«

»Herr, du mein Jesus!«

Ein abgerissener Schrei lief wie ein lähmender Pfiff durch alle Räume des Hauses.

Von der Küche und Gesindestube her kam ein dumpfes Poltern, ein Schmerzensruf, dem ein kurzes Wimmern folgte.

»Da muß ein Unglück passiert sein!«

Alle drängten dorthin.

Knechte und Mägde liefen zusammen.

Die Herren folgten.

Die kleine Stallaterne hatte noch Leben, aber neben ihr, den Fuß des zersprungenen Glases zwischen den Fingern, lag Barthlemes Altrogge gestreckt auf den Fliesen.

Ihm zu Häupten kniete Johanna, indessen Hövelkamp die borkenrissigen Hände faltete und sagte: »Der kommt nicht mehr aufrecht. Die Madam hat richtig gesehen. Lasset uns beten: Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes . . .« und während sie beteten, trat Judith Travelmann zu ihnen, gefaßt wie immer, nur noch straffer und hoheitsvoller als früher.

Mit fester Hand berührte sie die Schulter der Knieenden.

»Steh' auf, Johanna!« und als diese sich erhoben hatte, zog sie sie an sich und sagte: »Der Tod ist im Hause. Daran ist nichts mehr zu ändern. Von nun an: zur Getter gehörst du.«

* * *

Eine halbe Stunde später, nachdem die Gäste Abschied genommen und Emmerich Dinklage und Gideon Hasenklever ihre Zimmer aufgesucht hatten, wurde Barthlemes Altrogge von vier Knechten des Hofes, unter Führung Hövelkamps, nach seinem Kotten getragen. Eine schlichte Bahre, mit einem gespreitetem Tuch darüber, brachte ihn heimwärts.

Als der kleine Zug die Getter verließ, stand Judith vor der großen Dielentür, über sich das Gewirr von goldenen Schildereien, um sich das kalte, blanke Mondlicht und sah den Männern nach, die stumm wie Lemuren dem nahen Helweg zuschritten, um dort in den weißen Schwaden allmählich unterzutauchen.

»Mußte das kommen?« sagte sie bedrückt vor sich hin. »Du trugst den Schmuck der Travelmänner, bist gebenedeit unter den Weibern – und nun diese Fügung! Ich bin irre geworden, und meine Seele ist betrübt bis in den Tod. Herr, führe uns nicht in Versuchung. Lasse deinen Kelch vorübergehen. Zieh' deine Hand nicht von uns, deine milde, wundertätige Hand, sonst: ich muß bangen und Sorge tragen um Getter.«

Als sie wieder auf die Diele zurücktrat, fand sie ihren Sohn am Kaminfeuer stehen.

»Was hast du befohlen für morgen und die folgenden Tage?« fragte sie mit geschlossenen Augen. »Selbstverständlich, ich will nicht vorgreifen und deine Kreise nicht stören.«

»Ich gab bereits Order an Garke. Das Jagen ist abgesagt. Die Heide hat Ruhe.«

 


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