Joseph von Lauff
Die Seherin von der Getter
Joseph von Lauff

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19

In den nun folgenden Nächten war des Schreiens kein Ende.

Bis gegen Tagesanbruch dauerte das Rufen und Röhren. Besonders im Königlichen, das im weiten Bogen die Gettersche Flurkarte umkesselte. Im Sternenglanz nahmen die Kronenträger ihre Äsung in den benachbarten Klee- und Kartoffeläckern, um vor Tau und Tag wieder den vertrauten Kirchgang anzutreten, vom Feld in die Holzung zu ziehen.

Platzhirsche und geringere taten ihr Bestes. Bald klang es wie das Grollen eines Bullen herüber, bald wie das Röcheln eines halbverendeten Tieres, durch Kreuzgestelle und Altwege hindurch, über moorigen Boden, junge Fichtenspitzen und Kiefernschonungen, bis es die rote Heide aufnahm und es in ihrer unermeßlichen Öde versinken ließ.

Aber wie seltsam! Der Waldkönig, den Bernd noch in der Hallüh an der großen Suhle mit eigenen Augen angesprochen hatte, schien unversehens aus der Liste der großen Orgelmänner gestrichen. Seit der schlaflosen Nacht, in der, wie er wähnte, der Schuß gefallen war, ließ sich der Kapitale auf seinem eigenen Grund und Boden nicht mehr vernehmen. Um so reger liefen die garstigen Trenzer durch die Nachbarbezirke. Unermüdlich wechselten die Kämpfer, die sich nach dem Mutterwilde sehnten oder den Gegner auf Tod und Leben herausforderten, von Jagen zu Jagen. Ein Brechen und Forkeln.

Bernd horchte darauf wie auf ein Liebesorakel, kaum seiner Herr, gerüttelt an Leib und Seele und der Stunde gedenkend, wie er, von Arbeit und Anstrengung dampfend, in der schattigen Mulde ruhte, über sich das Wispern der alten Kiefer und das Aufglühen des majestätischen Schirmes. Und das nicht allein . . . Die Sünde war bei ihm, die sich mit weizenblonden Kuppeln über ihn beugte, verlangend und heiß und gebieterisch wie die Brunftschreie, die ihn nicht zur Ruhe kommen ließen.

Das gekniffte Zettelchen brannte wie Feuer und zwang ihn, es immer wieder zu lesen. Nur wenige Worte: »Gegen meinen Willen, hier verändert sich manches. Er will ins Bückenburgische . . . in seine Heimat zurück . . . in eine ähnliche Stellung. Ich kann's ihm nicht ausreden. Mitte September macht er dorthin, um sich vorzustellen; aber nur für einige Tage. Wenn Du mich noch einmal sehen willst: gib Obacht! Hängt ein Zeichen zwischen den Stangen im Krautgarten, dann bin ich allein . . . und wenn dann ein Licht brennt . . . im Giebelfenster . . . Ich warte. Deine . . .«

Die steilen Buchstaben streckten sich aus, wurden zu Fangarmen, zogen ihn um die kritische Zeit in die Gegend des Hasenfanges, um, wie er vorgab, die weidgerechten Tiere abzuhören und ihre Brunftplätze festzustellen. Eines Morgens kam er erregt von der Streife zurück. Den braven Hirsch hatte er auch jetzt nicht bestätigen können, doch zwischen den Bohnen . . . Er vermochte es kaum, seine stürmische Drangsal niederzuhalten. Bald in den Ställen, bald in den Fluren suchte er nach unnützen Dingen, herrschte das Gesinde an, um gleich darauf wieder in die fröhlichste Laune zu verfallen. Er trank hastig und viel. Das Blut drang ihm zu Kopf. Mit emsiger Freude machte er sich am Gewehrschrank zu schaffen. Er wählte lang und bedachtsam. Endlich hatte er die ihm zusagende Waffe gefunden. Sie lag ihm handgerecht. Beim Mittagessen war er heiter und aufgeräumt. Er versprach sich bei den mondhellen Stunden einen trefflichen Ansitz und gutes Büchsenlicht. Bald darauf glaubte er, vom Hohlweg her ein übermütiges Singen zu hören.

Das verstörte ihn.

Er kannte die Stimme.

»Ohm Gideon!« und richtig: der Paderborner rückte im Kriegsschmuck und feldmarschmäßig an, zwar den linken Ständer noch etwas nachziehend, im übrigen aber frisch und munter wie eine rotpunktierte Forelle im strudelnden Bergwasser. Sein Anpirschen war weidmännisch, frei von jedem Zweifel. Nichts fehlte. Alles war da: von der Spielhahnfeder am neuen Jagdfilz über den Krimstecher bis zu einem Büchschen mit Hirschtalg, das er vorsorglich seinem Rucksack einverleibt hatte. Auf seinen Bülow Krawallo gestützt, bummelte er gesinnungstüchtig und froh seines Weges. Endlich war der Tag erschienen, wo er das seinem Freund und Gönner feierlichst gegebene Versprechen einlösen durfte. Das verlieh ihm eine getragene Haltung. Seine Kulpsaugen strahlten.

Obst- und Grasgarten füllte er mit seiner metallenen Stimme: »Es diente mein tapferer Vater . . .« nein, diese anmutige Weise sang er nicht. Andre Zeiten, andre Lieder. Ein funkelnagelneues hatte er auf die Walze gezogen, ein Lied, das er bei seiner Heimreise von Salzschlirf über Wiesbaden an den warmen mattiakischen Quellen eingeheimst hatte. Im Kurhaus nämlich, am Spieltisch, wo er ein ganz winziges Jeuchen riskierte, war ihm einer begegnet, ein Franzose, der mit dem Chevalier Riccaut de la Marlinière, Seigneur de Pret-au-val, de la Branche de Prensd'or eine verteufelte Ähnlichkeit aufweisen konnte. Nicht das ›Corriger la fortune‹, aber einen allerliebsten Singsang aus einem Pariser Vorstadttheater hatte er diesem Ehrenmann abgeluchst und mit heller Befriedigung in die heimischen Gaue verpflanzt, um jetzt damit auch die Getter und ihre Umgebung glücklich zu machen. Aus voller Kehle, in den Hof marschierend, gab er den französischen Kantus zum Besten:

»Mon père est à Paris,
Ma mère est à Versailles,
Et moi, je suis ici
Et couche sur la paille.
L'amour, l'amour,
La nuit est comme le jour.
Eh joup, joup, joup, eh joup, joup, joup,
Eh joup, joup, joup, tirallalala!
L'amour, l'amour,
La nuit est comme le jour.
«

Aus! – nur noch ein leises Jodeln durch die Korridore, und der gewesene Salzschlirfer, Gideon aus der Fremde, hatte sich im Überschwang seiner Gefühle an die Brust seines noch immer etwas verstörten Gönners geworfen.

»Freund, Herzensjunge, da bin ich, gestiefelt und gespornt, genau so wie es der Paragraph zwei der Kriegsartikel vorschreibt: Die unverbrüchliche Wahrung der im Fahneneide gelobten Treue ist die erste Pflicht des Soldaten. Hier ist sie. Nächstdem erfordert der Beruf des Soldaten: Jagdfertigkeit, Mut bei allen Pirschgängen, propere Flinte, Gehorsam gegen den Vorgesetzten, ehrenhafte Führung in und außer Dienst, gutes und rechtliches Verhalten gegen die Kameraden. Alles vorhanden. Jawoll, ja. Liebchen, was willst du noch mehr!«

»Also doch?«

Ohm Gideon sah Bernd erstaunt in die Augen.

»Wie – ›also doch‹? Ich dachte, dir eine unbändige Freude zu machen, gewissermaßen ein Geschenk, das dich aufmöbeln sollte . . . und nun? Außerdem bin ich Herrn Stienen verpflichtet. Charles, zwei Bouteillen, mild temperiert . . . Oder« – und die Kulpsaugen des Paderborners nahmen einen tieftraurigen Glanz an – »Bernd, bin ich dir ungelegen gekommen?«

Der Gutsherr riß sich zusammen. Seine Hand legte sich dem Treuherzigen in grüner Watt derb auf die Schulter.

»Du? – und das ungelegen gekommen?! Mann, sammle Einsicht! Mein Schreiben hätte dich eines Bessern belehren sollen. Es war doch verbindlich genug.«

»Allerdings.«

»Na, also, und ich meine nur: wirst du bei deiner Verfassung auch können? Die hohe Kanzel und ähnliche Schosen . . .«

»Ach, du grundgütiges Herrgöttchen von Bentheim! ich und nicht können?« und Ohm Gideon ging in Paradestellung über, breitbeinig und mit den Allüren eines Sergeanten aus den glorreichen Zeiten des preußischen Soldatenkönigs.

»Glaubst du denn, ich hätte beim heiligen Bonifazius auf der faulen Sauschwarte gelegen? hätte nicht gegen das infame Zwicken und Zwacken angekämpft wie ein nubischer Löwe? Mensch, an der Quelle saß der Knabe, und gesoffen hat er wie'n Dromedar aus 'nem Oasentümpel, wie'n abstrapazierter Maulesel in 'ner asturischen Ausspannung. Jawoll, ja. Immer nur saufen, saufen von morgens bis abends . . . immer nur Wasser . . . Hunyadi Janos ist Tokaier und Aquavit dagegen; aber das Wasser des heiligen Mannes, das Wasser der Gnade, bis die harnsauern Salze in flüchtige Atome zergingen – das tat es. Und selbst gegenteiligen Falles: ich wäre auf Krücken erschienen, um den versprochenen Palmhirsch auf die Decke zu legen.

L'amour, l'amour
La nuit est comme le jour . . .

Wann fahren wir ab?«

»Fahren?«

»Warum denn nicht?«

»Wir wollen doch das Wild nicht vergrämen.«

»All right! Ich Schafskopf. Also zu Fuß. Und wann soll's losgehen?«

»In 'ner Stunde vielleicht. Wir haben 'nen langen und mühsamen Anmarsch. Du hast die Wahl: Hohe Fuhr oder Hallüh. Nur: im letzten Bezirk steht der Kapitale nicht. Du bist mein Gast. Also bestimme.«

»Dann Hohe Fuhr. Selbstverständlich: ich möchte nicht unbescheiden sein.«

»Wie du willst. Ich kann mich einrichten und bin schon mit 'nem geringen zufrieden.«

»Herzensjunge . . .

»Schon gut, schon gut. Ein Tobak gefällig?«

»Her mit dem Rauchspargel. Gott segne dich, Bernd, und auf ein fröhliches Weidwerk!« –

Zur festgesetzten Zeit brachen sie auf, nachdem Ohm Gideon die junge Herrin noch kurz zuvor begrüßt und ihr seine alleruntertänigsten Huldigungen zu Füßen gelegt hatte. Das Wiedersehen mit Frau Judith mußte er sich zu seinem größten Leidwesen auf die späten Abendstunden versparen, denn nach alter Gewohnheit hielt sie ihr Mittagsnickerchen in der behaglichen Kammer neben der Diele, wo eine einlullende Dämmerung herrschte und buntes Weinlaub einschläfernd vor dem Fenster auf und nieder schwankte. Hier drang nichts in ihre Traumwelt hinein, weder das geschäftige Treiben der Hausangestellten, noch das Raspeln des Stellmachers und das Zufahren der Wagen, die die letzten Hafergarben einbrachten. ›Du bist die Ruh‹, war über der niedrigen Tür geschrieben.

Frau Hille stand noch immer am Fenster im Herrenzimmer, wo sie sich von den beiden verabschiedet hatte, jetzt abgeklärter als sonst, von einer fraulichen Anmut umgeben. Sie hatte manches vergessen, und vieles war abgeblaßt im Verlaufe der Erntewochen. Sie hatte Bernd arbeiten sehen, von morgens bis abends, seine stählerne Natur und seine Tatkraft bewundert, ihm die heiße Stirn gekühlt und heimlich Trost geschöpft aus dem langsamen, aber stetigen Wandel der Ereignisse. Wo ein Wille, da ist auch ein Weg, findet sich schließlich der Fuß aus einer trostlosen Öde heraus in den Garten der Wiedergeburt und der Reue, wo es dem bösen Sämann verwehrt ist, seinen giftigen Flugsamen in das geheiligte Erdreich zu senken . . . So folgerte sie, so reihte sie alles sorglich nebeneinander, was geeignet war, ihren Gedanken eine heitere Seite abzugewinnen und wieder an eine ersprießliche Gemeinschaft des zerrütteten Ehelebens glauben zu können, obgleich der fade Geruch nach welken Klosterblumen noch immer nicht abflauen wollte. Sie hoffte, um gleich darauf über diese Hoffnung zu grübeln. Sie konnte sich freuen und hatte doch einen bittern Geschmack auf der Zunge. Sie sehnte sich nach Liebe und der Umarmung des Mannes und hatte den Mut nicht, ihre geheimsten Regungen auch nur anzudeuten, nur leise schwingen zu lassen. Nein, alles Vergessen und alles stille Bewundern brachten ihr das nicht, was sie nötig hatte, um schließlich zu sagen: »Gib mir die Hand, wir sind wieder die alten geworden.« Darüber konnten noch Wochen und Monde vergehen, mußte ein Stiller und Großer erscheinen, um ihr dieses Geschenk mit gütigen Worten an Herz und Seele zu legen.

Hochaufatmend sah sie in den langsam sich senkenden Tag hinein.

So herbstlich schon und noch so früh in der Jahreszeit!

Vom nahen Wäldchen her, das schon hellgelbe Atlasstreifen umsäumte, kam eine muntere Weise:

»Mon père est à Paris,
Ma mère est à Versailles,
Et moi, je suis ici
Et couche sur la paille.
L'amour, L'amour . . .
«

Ohm Gideons Gassenhauer. Sie hörte, wie die Strophe gemächlich feldeinwärts zog, um dort zu verhallen:

»L'amour, l'amour,
La nuit est comme le jour.
«

Sie lächelte und wollte das Herrenzimmer verlassen.

Als sie den Gewehrschrank passierte, trieb ihr Fuß ein geknifftes Papier vor sich her, das sich in dem bauschigen Teppich verfangen hatte, aufknisterte und sie empfindlich mit seiner kreidigen Farbe berührte. Zögernd, das Verhängnis sehend, mit spitzen Fingern hob sie es auf, um nach wenigen Herzschlägen . . .

Es gibt Gesichter, schmerzzerrissene, entstellte, Gott und alle Heiligen verfluchende, als hätte sie ein unbarmherziger Meißel aus kaltem Marmor gehauen . . . und solch ein Gesicht . . .

Sie griff sich an die Brust, als wollte sie ihr Mieder zersprengen.

Ihre Arme fuhren steil in die Höhe.

Dann brach sie zusammen, wie hingemäht, und stieß einen Schrei aus, als würde ihr Letztes auf den Gottesacker gefahren.

Jetzt wußte sie alles. Das Ende . . . ein Ende mit Schrecken, wo nichts mehr war als das Grauen.

Und aus diesem Grauen heraus wuchsen entschlossene Hände, hoben sie auf und führten sie gebieterisch und ohne Verzug an die Stätte, wo sie zu richten und zu rechten hatte.

Noch einmal überkam sie die Zeit ihrer Jugend und die ihrer Liebe, bis der Tod hinter ihr her war. Dann schrieb sie kurz und in abgerissenen Sätzen. Hierauf las sie mit erfrorenen und doch glutheißen Lippen:

»Mutter! Mutter!

Schlafende und Tote soll man nicht stören. Ich will Dich nicht stören und darf Dich nicht stören. Das Schicksal ist stärker als wir beide gewesen. So wahr ich hoffe selig zu werden – ich will Dir nicht weh tun. Und wenn es dennoch geschieht: vergib mir, vergib mir! Ich kann ja nicht anders. Frage bei Deinem Sohn an, weshalb ich von hinnen mußte, um für immer Abschied zu nehmen. Deine Liebe und Güte nehme ich als Reliquien mit mir. Mutter, Mutter! – ich küsse Dich.

Hille.«

Sie kuvertierte und siegelte. Bald nachher ließ sie Hövelkamp kommen.

* * *

»Post/Tenebras/Spero/Lucem. Nach der Finsternis des Lebens erhoffe ich das ewige Licht.«

Über die in Stein gewetzte Inschrift der Einfahrt auf Darfeld legten sich die herzförmigen Blätter des immergrünen Efeus. Leise plauderten sie, seidenweich spannen sich die Marienfäden darüber hin, die, vom laulichen Wind getragen, gleich anmutigen Schlängelchen gegen sie antrieben. Ein Glitzern und Gleiten! Es war ein Gewirr in den Lüften, ein Häkeln und Haspeln, als gölte es, der müden Natur, ihrem letzten Grüßen und Atmen, das Sterbelinnen zu weben, um ruhig einzunicken und nach totenähnlichem Schlaf wieder aufzuerstehen zu neuen Freuden, Blumen im Haar, geschmückt wie eine junge Braut am Altar, weiß und grün, umduftet von rauchenden Ährenfeldern und hoch zu Häupten die Jubelpsalmen unsichtbarer Lerchen.

Das schlichte Herrenhaus, ein zierlicher Rokkokobau aus der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, von Meister Schlaun aus Kalkstein und grauen Ziegeln aufgerichtet, lag so wohlig und weltvergessen inmitten gelber und rotgestreifter Laubmassen, als hätte eine liebevolle Hand es mit weichen und bunten Daunenkissen umbettet. Es träumte und ruhte verwunschen in der westfälischen Landschaft, und unwillkürlich horchte man auf, ob nicht von irgendwo der melancholische Ruf einer Flöte ertönen würde. Vielleicht auch der eines Waldhorns, das Signal der Piqueure.

Aber nichts geschah, nicht einmal die sanfte Stimme Pans drang in diesen Winkel hinein, in diese verlorene Abgeschiedenheit, in dieses sachte Drehen und Schweben niederfallender Blätter, die gleich goldenen Nichtigkeiten sich hoben und senkten, um sich wie Apollofalter auf Wege und Raine nieberzulassen. Nur über den ehrwürdigen Eichen, unter denen noch Annette von Droste gewandelt und die Mutter Hilles manche Stunde verweilt hatte – den nämlichen Eichen, die das Freifräulein von Boeselager so erfolgreich gegen die Axt und die spontanen Angriffsgelüste Ohm Gideons verteidigt hatte, zog ein scharfer Punkt seine einsamen Kreise, und ein weithin schallendes »Hiäh! Hiäh!« klang aus einer andern Welt, aus dem atlasfarbigen Himmelreich hernieder.

Seitdem der rote Spiegel mitsamt seinen Schlichen und Winkelzügen das Feld geräumt, Klemens von Darfeld das Zeitliche gesegnet, Hille das Jawort gesprochen und der Freisasse Hand auf den Edelsitz gelegt hatte, bewohnten ehrsame Pächtersleute das Erdgeschoß, verfügten über Wirtschaft, Ackerland und Hutungen, pflügten die Felder und bestellten die zum Allodium gehörigen Wiesen, während durch ein freundliches Entgegenkommen Bernds Stephanie von Boeselager die oberen Räume innehatte und hier voll Dankbarkeit und Ergebung in den Willen ihres Herrn und Erlösers das immer tiefere Sinken ihres Lebensabends verfolgte.

Sie lebte nur noch ihren Erinnerungen, dem Andenken ihrer Lieben, die nicht mehr waren, ihren schlichten Neigungen und Gepflogenheiten, verehrt von allen, die ihr näher traten, und in der ganzen Nachbarschaft als ›Unser Fräulein‹ begrüßt und empfangen.

In ihr verkörperte sich längst Dahingegangenes, und wenn ihr Seidenes über der Krinoline sich bauschte, mit subtilem Stimmchen durch die einfachen Zimmer zwitscherte, die weißen Schläfenlöckchen sich neckisch bewegten, dann mutete es an, als würde Mozarts Weise lebendig, als sänge es irgendwo aus einer verlorenen Ecke heraus:

»Als ich noch im Flügelkleide
In die Mädchenschule ging . . .«

so traulich und heimlich war es dann zwischen den abgeblaßten Tapeten, denen ein feiner Hauch nach Melissengeist und Lavendelwasser entströmte.

Und ihr anspruchsloser Salon erst! Allerorts liebe Geschenke, verblichene Nippes, Meißener Püppchen aus grauen Zeiten, als der Großvater die Großmutter nahm, Figürchen auf Goldkonsolen, preziöse Sächelchen . . . und wer hören wollte, der hörte. Unter den Klängen eines altmodischen Spinetts begann es zu lispeln:

»Damon saß auf grünem Rasen,
Angelte am Erlenbach;
Chloë ließ die Schäfchen grasen,
Sah den Rosenwölkchen nach,
Und sie rief, ganz weiß umflockt:
Hörst du, wie der Kuckuck lockt.

Damon, so nach Schäferweise,
Schob sich durch den Blumenflor,
Tändelte ihr sacht und leise
Bis zum Zwickelband empor,
Säuselte im Abendglanz:
Honi soit, qui mal y pense!

Damon, du zerknüllst mein Rischchen.
Fi donc! nein, du böser Wicht.
Angle lieber Silberfischchen;
Im Korsettchen sind sie nicht.
O mon dieu! läßt du's nicht sein.
Muß ich wie der Kuckuck schrei«.

Damon hat ihr nichts zu leide,
Sie mit Schrein ihm nichts getan,
Denn sie waren alle beide
Aus dem feinsten Porzellan.
Draußen nur vom lichten Flur
Kuckuck! rief die Kuckucksuhr.«

Von hier sah man gleich auf den Hof. Darüber hinaus erstreckten sich von Baumgruppen umsäumte Wiesen, die schon im aufsteigenden Herbstnebel schwammen.

Ein matter Sonnenstrahl grüßte ins Zimmer, vergoldete die schlichten Mullgardinen und spiegelte sich in dem hergerichteten Teegeschirr wider.

Unter der Spiritusflamme erhoben sich zirpende Geisterlein, und in dieses Sprudeln und Singen ließ sich eine wohltuende Stimme vernehmen: »Mein Gott, Emmerich, daß du mir diese Freude noch machtest! O mon dieu, mon dieu! vous êtes bon, und ich war schon nahe daran, dir einen Nekrolog zu schreiben, der damit enden sollte: Ohne Stephanie Boeselager noch einmal aufgesucht zu haben, ist er dahingegangen wie Spreu vor dem Winde, oder wie ein Stern, der sich auf seinem Himmelswege verirrte, oder wie ein Echo von einer Stätte her, die man liebgewonnen hat. Nun aber – ich danke dir, Emmerich, ich danke dir innigst, De tout mon coeur. Ein Wermutströpfchen ist allerdings in dieses Begegnen gefallen – und das heißt Scheiden. Vielleicht auf Jahre hinaus, und ich frage mich immer: Warum das alles? Ist dein Entschluß denn unabänderlich? Ist keine Möglichkeit vorhanden, irgendeinen bessern Ausweg zu finden, zu bleiben, auszuharren und deinen Wander- und Forschungstrieb auf spätere Zeiten zu verschieben?«

Emmerich von Dinklage machte eine abwehrende Handbewegung.

»Keine, Stephanie.«

»Entsetzlich! Wie soll ich da Contenance behalten? Ist es Freundschaft, Mitleid, die Furcht vor Kommendem, Suggestion . . .? Ich kann es nicht sagen. Oh, mon cher, wie konntest du nur?! Allerdings, ich wußte um deine Pläne; daß sie sich aber so bald verwirklichen würden, daß du schon in diesen Tagen . . . Ich bin ganz verstört und finde nicht den Weg zu mir selber zurück. Mir ist so, als zerbräche mir ein Kristall zwischen den Händen. Nein, ich kann mich nicht fassen,« und während sie all das Traurige und Wehmütige vor sich hinseufzte, durch ihre Tränen hindurch kaum die netten Porzellantäßchen zu unterscheiden vermochte, wisperte ihr Seidenes in schmerzlichen Lauten, pendelten ihre Hängelöckchen gleich Espenblättern auf und nieder, schenkte sie ein, reichte sie Sahne und Zuckerzange und ließ ihr Löffelchen gegen das chinesische Schälchen klimpern.

»O mon ciel! ils sont passés, ces jours de fête. Es waren ja keine eigentlichen Feste; die sind lange dahin, aber wenn du früher kamst und deine Nähe mich berührte, wurde einem doch wohlig ums Herz, konnte man sich der Stunden erinnern, wo Gott einen lieb hatte und einen ganz wunderlich und schmerzlos die Sehnsucht betrachtete. Noch habe ich dich, aber wie lange? und drum möchte ich eine Frage an dich richten: Wann fährst du? Wie lange bleibst du heute auf Darfeld? Darf ich es wissen? Denn jede Minute, die ich mir erübrigen könnte . . . mit ihr möchte ich geizen, geizen, immerzu geizen . . .«

Sie sah ihn erwartungsvoll an.

»Bis sieben. Dann ist die letzte Post nach Münster fällig.«

»Also bis sieben. Immer noch zwei Stunden und doch nur zwei Stunden. Willst du nicht später . . .? Ich kann ja die Glaskutsche anspannen lassen.«

»Du bist gütig, Stephanie. Aber es geht nicht. Ich habe noch viel zu erledigen. Noch dieses und jenes zu besorgen. Der morgige Tag stellt seine Anforderungen. Die mir dann verbleibenden noch größere. Es drängt mich fort, unwiderstehlich . . .«

»Mein Gott, konnte es denn nicht Tübingen sein? Der Ruf war doch ehrenvoll, und du wärest nicht ganz aus der Welt, wärest doch in einer erreichbaren Nähe geblieben. Aber so! Immer diese griechischen Trümmerfelder, dieser assyrische Staub, dieses Suchen und Ringen nach Scherben und einem längst Dahingegangenen . . .«

Sie verstummte plötzlich. Ihre Blicke liebkosten ihn.

Über das eherne Gesicht Emmerichs liefen dunkle Schatten.

»Thanatos,« sagte er hart. »Der Kampf ist zu Ende. Tübingen ist immerhin Deutschland, und Deutschland ist Heimat, ist engere Heimat. Jenes wunderseltsame Wort ›Zuhausesein‹, mit dem sich alles verknüpft, was an Liebe erinnert, einem Weg und Steg vertraulich macht, die Bilder heraufziehen läßt und einen in das verträumte Land der Jugend zurückgeleitet – alles das hat für mich seinen Reiz verloren oder besser gesagt: ist mir wie Sand unter den Händen zerrieselt. Was soll mir da die hiesige Scholle noch? Tote Erde. Sie hat mir nichts mehr zu bieten.«

»Das kann doch dein Ernst nicht sein?«

»Mein voller.«

»Und das mit deiner Rückkehr? oder bist du gesonnen auf unbestimmte Jahre hinaus . . .

Die Lippen des alten Fräuleins wurden schmal und zogen sich leidvoll zusammen.

»Emmerich, wie denkst du darüber?«

Er zuckte die Achseln.

»Ich weiß nicht, kann es heute nicht wissen. Der erste Versuch, den ich machte, scheiterte kläglich. Ich war noch nicht gefestigt genug, noch nicht ganz im reinen mit mir. Die draußen verlebten und durchlittenen Jahre reichten nicht aus, das aus dem Blei gekommene Gleichgewicht wieder in Lot und Senkel zu bringen. Es blieb alles leer und verwaschen um mich. Eine unerträgliche, immer schwerer lastende Bürde drückte mich nieder. Immer nur Tiefen, keine Höhen. In der Nacht jedoch empfingen meine Gedanken Leben und Farbe, aber dieses Leben und diese Farben waren entsetzlich. Hart auf hart muß es kommen. Thanatos. Durch die rußige Lampe, die den Abgestorbenen leuchtet, zum Licht. Hunger nach Erlösung, Befreiung und Frieden – das ist es. Die Heimat brachte mir nichts, die Freunde fand ich anders geartet, Tübingen kann mir nichts geben. Also fort. Und wie lange? Bis das hier . . .«

Seine Hand ballte sich, legte sich auf die Herzgrube.

Seine Züge waren noch schärfer und kälter geworden.

Stephanie seufzte.

»Tu l'as voulu!« sagte sie traurig. »Ich sehe: es ist nichts mehr zu ändern. Die Ecossaise ist aus. Ich fürchte, es beginnt ein Intermezzo alla danza macabra. Das glaube ich wenigstens in deinen Worten zu finden. Will aber hoffen und nicht gänzlich verzweifeln. So geh' denn mit Gott, und denke zuweilen an Darfeld, an mich . . . und wenn du kannst, an die andern . . .«

Sie glättete die Fältchen ihres Kleides.

Mit wehem Kopfschütteln sah sie in ihr Schälchen hinein. Ihre schmalen Finger verschränkten sich, lösten sich, um sich aufs neue ineinander zu flechten. Von ihren Wimpern tropfte es. Lichte Perlen rannen über ihre Wangen.

Der letzte Glanz des Tages trennte sich von der Teemaschine und den chinesischen Täßchen, streifte noch einmal die Silhouetten, die wohlgeordnet an den vergilbten Tapeten hingen, berührte ein Pastellgemälde neueren Daseins, ein wohlgelungenes Porträt des Freisassen, das dieser seinerzeit nach Darfeld gestiftet hatte, glitt über die Dielen, um sich von hier aus durch die weißen Gardinen zu schleichen. Mit ihm war die sonnenbehagliche Freundlichkeit, das Lächeln des lieben Herrgotts aus dem Zimmer des alten Fräuleins verschwunden. Ein fahles, ungewisses Zwielicht bedeckte die Wände und machte die Herzen frösteln, während draußen das Rosenmal des Abends noch an den Wipfeln haftete, wenn auch matter und unbestimmter und anfing, in einen Bronzeton überzugehen. Auch hatte sich der Wind erhoben. Von jenseits der großen Wiese, wo die heiligen Eichen wurzelten, rauschte es zeitweilig her, bald stärker werdend, bald nachlassend, ähnlich dem Tönen von ausklingenden Orgelpfeifen. Immer mehr zog sich das mißfarbige Dunkel zusammen.

Das Schweigen hielt an, nur unterbrochen durch das bange Geräusch des Löffelchens, des zierlichen Löffelchens, mit dem das Freifräulein wieder gegen das Teeschälchen klimperte.

Endlich hob sie den Kopf.

»Denke an mich, und wenn du kannst, auch an die Heimgesuchten.«

Durch ihre Tränen hindurch sah sie auf den stillen Mann und fragte ganz schüchtern: »Emmerich, warst du auf der Getter, um Abschied zu nehmen?«

»Nein.«

»Und gehst auch nicht hin?«

»Stephanie, wie sollte ich hingehen? Seit der verflossenen Weihnacht bin ich nicht mehr auf Getter gewesen, wollte auch nicht, zumal da das Verhalten Bernds mir jede Gelegenheit nahm, die abgerissenen Beziehungen wieder erträglich zu machen. Du weißt ja: mein Wille stand fest. Eine Trennung war nötig, wenn es auch nicht in meiner Absicht lag, eine Freundschaft, die ein kleines Menschenleben zurückdatierte, hintanzusetzen, liebgewordene Klänge verstummen zu lassen. Ich fühle mich schuldfrei, besonders weil ich alles aufbot, auch das leiseste Bedenken seinerseits aus dem Wege zu räumen. Die feinsten Aufzeichnungen meines Seelenlebens tat ich ihm dar. Keine hielt ich zurück. Sie lagen vor ihm wie die offenen Seiten eines Buches. Er blätterte darin herum, ohne sie verstehen zu wollen. Was blieb mir da übrig? Konnte ich mehr tun? Durfte ich mich selber entwürdigen? Noch in dem kritischen Augenblick bot ich alles auf, unser Verhältnis wenigstens in der gesellschaftlichen Norm zu erhalten. Vergebens. Die dargebotene Hand wies er ab, ohne Rücksicht darauf, was uns seit Jahren verband, was uns wechselseitig verpflichtete. Er rührte sich nicht. Sein Verhalten mir gegenüber war beispiellos. Dies gelinde gesagt, um mich keines härteren Ausdrucks bedienen zu müssen. Das Unausgesprochene ließ selbst die Pistole nicht zu, wehrte sie ab. Nur zu begreiflich, daß wir uns trennten, ohne Hoffnung, uns jemals wieder näher zu treten.«

Ein verhaltenes Seufzen.

»Ich weiß, ich weiß. J'accuse, und doch: ich klage nicht an. Du kennst ihn ja, Emmerich. Der gütigste Mensch von der Welt, hilfreich wie keiner, einer von denen, wo die rechte Hand nicht weiß, was die linke gibt, ist er unberechenbar in seinen Neigungen und Willensäußerungen. Er geht über Leichen, um andern Tages sich in der Rolle des barmherzigen Samariters wiederzufinden Chassez le naturel, il revient au galop. So auch bei ihm. Aber das bringt uns nicht weiter. Euch beiden ist kaum noch zu helfen. Es gibt Glockenschläge, die den Tod der Freundschaft ansagen – und solche Glockenschläge . . . und alles das, was inzwischen auf Getter passiert ist, ist auch nicht dazu angetan, der Zukunft eine besonders heitere Note abzugewinnen, wenn ich auch zugebe: Hilles Briefe, die mir anfangs ihres wilden Schmerzes wegen viele schlaflose Nächte bereiteten, geben sich lichter, abgeklärter, scheinen in einem Gärtlein zu wachsen, dem es an Sonne nicht mangelt, dem ein warmer Maienregen zugute kommt.«

»Und Bernd?«

»Lassen wir ihn. Auch er wird sich geben. Ich kenn' ihn von jung an. Auch du. Man darf ihn nicht ohne weiteres verurteilen. Tout comprendre, c'est tout pardonner. So sagt Anne Louise Germaine Baronne de Staël-Holstein, und diese Anne Louise war eine sehr kluge Frau, die es verstand, den geheimsten Launen des Herzens zu folgen. So muß auch ihm vergeben werden. Ererbtes liegt in den Adern. Man hat ihm Rechnung zu tragen, kann darüber nicht fortgehen wie über unnützes Beiwerk. Blut ist dicker und nachhaltiger als Wasser. Die Travelmänner waren von jeher Menschen mit einem goldenen, wenn auch leichtfertigen Sinn, mit einem harten und unerbittlichen Schritt unter den Füßen. So auch der letzte. Das Sinnliche und Stürmische in ihm konnte auch das Blut der zielbewußten und selbstlosen Mutter nicht hinwegnehmen. Das des Vaters überwog. Umsonst hat er nicht eines Tages an der Mergelgrube gelegen, hingestreckt, von der Hand Gottes abgeurteilt und gerichtet. Sprechen wir nicht weiter darüber. Es ist ein trauriges Kapitel, das bis in diese Stunde hineingreift. Aber ich vertraue auf Hille. Sie muß aushalten, bei ihm bleiben, ihn führen und leiten – bis zum äußersten, unter Hintansetzung ihrer eigenen Person, dann wird auch sie eines Tages mit der Madame de Staël sagen können: Alles verstehen, heißt alles verzeihen. Und ist es so weit, dann werdet auch ihr . . . dann wirst du und Bernd . . . dann werdet ihr beiden . . .«

Das Freifräulein schwieg.

»Du wirst recht haben, Stephanie,« sagte er bedrückt vor sich hin.

»Ich glaube es zu haben,« versetzte sie mit einem leisen Zittern in der Stimme und preßte ihr Spitzentüchlein gegen die Augen.

Hierauf legte sie ihre Hand auf ein silbernes Schellchen.

Ein helles Klingeln erfolgte, das bis in die entlegensten Winkel hineintönte. Es wurde nicht überhört. Die beiden aber saßen sich stumm gegenüber, warteten und wußten nicht, warum sie es taten.

Minuten um Minuten vergingen. Die Wände traten zurück. Die Silhouetten liefen sacht ineinander. Die Maschen, die der Abend durch das Zimmer spann, verwirkten sich zu einem Gespinst, das immer unfreundlicher und dunkler wurde. Die Stimmung des zierlichen Raumes war völlig verändert. Das Anmutige, Heitere, Kichernde der kleinen Umwelt hatte sich verängstigt hinter die Gardinen geschlichen und blickte von hier aus in ein mattes Glänzen hinein, das wie Rauschgold jenseits der großen Wiese zerfaserte. Der müde Tag sammelte die letzten Flimmerchen ein und legte sich schlafen, während das Freifräulein von Boeselager wieder das Gespräch aufnahm und von alten Dingen erzählte, von Dingen und Ereignissen, die weit zurückdatierten, aber die Kraft in sich trugen, den Abschied weniger schmerzlich und hoffnungslos zu machen. Selbst als die längst zugebrachten Wachslichter, die von ihren blanken Leuchtern aus eine wohltuende Helle verbreiteten, schon merklich tiefer brannten, erzählte sie weiter, erinnerte an dieses und jenes und ließ Spiegelungen erstehen, die in lichten Gestalten und hellen Kleidern gleich Phalänen über sonnige Heiden gaukelten, bis sich Emmerich erhob, die Fingerspitzen der Überraschten aufnahm und sagte: »Stephanie, ich danke dir für diese Stunde, die ich bei dir zubringen durfte. Aber meine Zeit ist gekommen.«

»So früh schon?«

Mit einem wehen Aufschluchzen war sie an seine Seite getreten, seltsam bewegt, zerbrechlich wie ein Porzellanfigürchen aus einer Glasservante.

Beide Hände auf seinen Schultern, innig an ihn geschmiegt, fragte sie aus einem bangen Traum heraus: »Emmerich, und du hast mir nichts mehr zu sagen?«

»Eigentlich nichts mehr.«

»Wo wir uns trennen und du selber nicht weißt, wann und ob du zurückkehrst – auch da nicht?«

»Nein, ich habe nichts mehr zu sagen. Nur noch ein Lebewohl an dich.«

Ihr Köpfchen hob sich.

»Und das ist alles?«

»Alles, Stephanie. Was sollte ich sonst noch?«

Weinend legte sie ihre Arme um seinen Nacken.

»Auch keinen Gruß mehr für Hille?«

»Nein,« versetzte er mit einer Ruhe, die sie erstarren ließ, »ich kenne sie nicht, und solche, die man freiwillig aufgibt und in das Reich der Schatten verweist, grüßt man nicht mehr.«

»Mein Gott,« rang es sich von ihren zuckenden Lippen, »kannst du denn das alte Leid nicht vergessen? Emmerich . . .! Emmerich . . .

»Gedulde dich nur! Ich gehe, um das Vergessen zu suchen, und weiß es zu finden. Dort liegt es . . . und weiter da drunten . . .«

Seine Zähne knirschten gegeneinander.

»Entweder so oder so, aber finden tu' ich's, selbst auf die Gefahr hin, von einem angesprochen zu werden, dem es vergönnt ist, eine Skarabäengemme zu zeigen. Du kennst doch das Zeichen?«

»Rede nicht so. Das ist ja entsetzlich!«

Sie ließen nicht voneinander ab.

So standen sie lange, sie fiebernd, er seine Arme um sie geschlungen, als hielte er etwas Heiliges an seiner lauten Brust, noch ein letztes Wort auf den Lippen, das er nicht wagte, weiter zu denken, geschweige denn auszusprechen, als sich beide wie auf Verabredung ansahen, bestürzt und ohne zu wissen, was vorging.

»Emmerich, da draußen . . .«

Er straffen Leibes, sie bleich vor Erregung, horchten sie auf ein unbestimmtes Geräusch, das sich unmittelbar bei den Eichen erhob, immer näher kam und unter lautem Hufgetrappel durch die Einfahrt polterte.

»Post tenebras spero lucem« sagte er verloren vor sich hin, von einer bangen Ahnung gefaßt. »So steht geschrieben. Möge es sich bewahrheiten. Aber ich fürchte . . .«

»Was hast du?«

Sie stürzte ans Fenster, öffnete den Flügel . . .

Drunten hielt ein Gefährt. Rote Wagenlaternen brannten über den Hof hin.

Der Pächter war bereits zugesprungen und hatte die Kopfstücke der Pferde ergriffen, während eine hagere Gestalt vom Wagen stieg und dem Hilfsbereiten anempfahl, die Gäule abzusträngen und sie unterzubringen.

»Wer ist da?« rief Stephanie in das rote Leuchten hinein.

»Eine, die nichts mehr auf der Getter zu tun hat,« kam es von unten herauf, fast drohend, wie ein Murren aus einem fernen Gewitter herauf.

»Hövelkamp! Hille . . .

Sie taumelte rücklings, kaum fähig, sich aufrecht zu halten.

»Emmerich, da muß was passiert sein!«

Sie umgriff seine Hände: »Bleibe! Du darfst jetzt nicht fort. Vielleicht bist du nötig. Wenn Bernd . . . Mein Gott, wenn die alte Geschichte . . .«

Sie wollte zur Tür hin.

Er hielt sie zurück.

»Warte ab! Das Unglück läßt sich nicht suchen. Es kommt selber zu einem, früh genug, um seine Hand in die unsre zu legen. Wir wollen stark sein, Stephanie; nur so können wir helfen, nur so das Unabänderliche in stillere Bahnen leiten. Greifen wir nicht voreilig ein. Jede unnötige Erregung verschärft nur die Lage. Was Hille zu tun hat . . . was sie will . . . weshalb sie dich aufsuchte . . . Da kommt sie . . .« und siehe: von Hövelkamp mehr getragen als geführt, einen Schleier über Hals und Nacken geworfen, die Augen geschlossen, bewegte sich die letzte Freisassin über die Schwelle, während der Getreue, an dessen Seite sie wie eine Nachtwandlerin ihres Weges ging, Stephanie zuraunte: »Edelfräulein, lassen Sie bloß. Jetzt unbedingt Ruhe. Kein Weinen, keine Verbiesterung. Es wird alles noch werden. Ich werde schon machen. Gute Wacht ist wie der Stern Gottes. Ich habe sie bis hierher geführt und werde es wohl auch weiter noch können, so Gott will, im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes. Edelfräulein, dorthin. Das ist wohl das Beste für sie,« und er geleitete sie in die Tiefe des Zimmers, wo das helle Licht der beiden Wachskerzen ihr nichts mehr anhaben konnte.

Dort – in weiche Kissen ließ er sie nieder.

Das Haupt zurückgelehnt, die wächsernen Hände im Schoß, unbeweglich, kaum, daß ihre junge Brust ein Lebenszeichen von sich gab, saß Hille Travelmann zwischen den Lehnen, zwischen denen schon der alte Freiherr gesessen hatte, als der Geistliche seiner gedachte, vor ihm kniete und betete: »Wenn die letzten Seufzer des Herzens der Seele gebieten, vom Leibe zu scheiden, so nimm diese Seufzer hin als Wirkungen einer heiligen Ungeduld, zu dir zu gelangen; und darum, o barmherziger Jesu, erbarme dich ihrer, von jetzt an, bis sich der Herr ihrer annimmt und sie einführt in das Reich seiner Erfüllung, wo sie sitzen, die Berufenen, um von den ewigen Tischen zu essen.«

Hövelkamp trat bedächtig zurück und wandte sich nochmals an Stephanie, die mehr tot als lebendig sich an seine Seite heranschlich, wortlos und die Hände wie tastend von sich gehalten.

»Edelfräulein, nu kann ich wohl gehen. Ich habe mich bereits mit dem Pächter befunden. Er ist dakkohr in der Sache. Was wir überlegt haben, wird gemacht. Ich bleibe bis morgen.«

»Und Hille . . .?!« stieß sie hervor.

»Edelfräulein, ich weiß es ja selbst nicht und kann es höchstens in 'ne unmaßgebliche Beurteilung nehmen. Sie sagte mir bloß: Fort von hier, wir fahren nach Darfeld. Und ich bin nach Darfeld gefahren. Was sonst noch passiert ist, ist wohl auf 'nem besonderen Konto verzeichnet. Darüber kann sie selbst nur befinden. Gute Wacht ist wie der Stern Gottes. Nun lege ich die ›Gute Wacht‹ aus den Händen, denn jetzt sind wir hier und nicht mehr auf Getter. Was weiter zu tun ist, läßt sich besser bei Taglicht bereden.«

»Hövelkamp, und wenn Ihr nötig seid, wenn ich Euch brauche?«

»Edelfräulein, ich bin immer im Stall bei den Gäulen zu haben. Von Schlaf oder so was kann keine Rede mehr sein. Hab's auch nicht nötig.«

Damit ging er. Auf Zehenspitzen, so lautlos wie möglich, verließ er das Zimmer und drückte die Tür hinter sich zu, mit einer besondern Heimlichkeit, als gölte es, das Weitere dem Herrn in seiner Allweisheit und Einsicht zu überlassen.

Kein Laut mehr; selbst das Seidene wagte nicht, eine große Leidensgeschichte, die trotz der geschlossenen Lippen sich in die Herzen hineindrängte, durch ein unnötiges Rascheln zu stören.

Die Stunde trug eine Dornenkrone, hatte blutrünstige Wundmale an Händen und Füßen . . . und ihre Brust war durchstoßen.

In Stephanies Zimmer, nur leicht von den Lichtfäden der Wachskerzen durchsponnen, hätte man den Spiegel verhängen, den Perpendikel der kleinen Stutzuhr anhalten und eine Verstorbene aufbahren können, so traurig war alles, so in sich versunken und mit einem Hauch umgeben, der an geschnittenen Buchsbaum und verwelkte Kränze erinnerte.

Der süßliche Duft betörte die Sinne, lastete schwer auf Herzen und Nieren und mahnte daran: »Nun ist alles dahingegangen wie ein Blättersäuseln und wie ein Geschrei, das dahinfährt. Was suche ich noch? Es ist wie eines Vogels Flug, der durch die Luft zieht, da man seines Weges keine Spur mehr finden kann. Oder wie der Odem eines Menschen, dem gesagt wird: Du siehst die morgige Sonne nicht wieder. Es bliebe ein vergebliches Tun, nach ihm die Arme auszustrecken.«

Dieses Selbstverständliche, dieses Hangen und Bangen und diese empörende Ruhe!

Stephanie hielt's nicht mehr aus.

Sie trat näher heran.

»Hille . . .! Geliebte . . .! Du bist ja bei mir . . . auf Darfeld . . . und ich möchte dir sagen, wie lieb wir dich haben . . .«

»Ach du . . .

Die umschatteten Augen Hilles begannen zu leuchten.

»Ich sehe. Ja, ich bin wieder auf Darfeld . . .« und sie atmete auf und hub an, lauter zu sprechen: »Auf Darfeld . . . und warum bin ich hier? Ja so . . . ich habe alles verloren, was ein Weib nur verlieren konnte: die Liebe. Meine Tage sind nutzlos gewesen, meine Nächte ohne freundliche Zeichen. Ich habe gegeben und statt des Dankes nur harte Kiesel empfangen. Ich habe nach ihm gerufen, aber meine Stimme verhallte, als wäre sie ohne Klang und Inhalt gewesen. Ich hatte Angst vor dem Tode, allein dieser Angst bin ich jetzt ledig. Warum mich auch fürchten? Es ist besser, dahinzugehen, als in steter Finsternis zu leben und tagtäglich die Sünde vor Augen zu haben.«

»Hier wirst du genesen.«

Stephanie fuhr ihr zärtlich mit ihrem Tüchlein über die Stirne.

»Du sollst es gut haben . . . in dieser stillen Umgebung . . . bei mir . . . wo sie wohnen: die alten Geschehnisse und Erinnerungen . . . wo jedes Blatt im Winde . . .«

Eine schmerzliche Handbewegung.

»Wie lange denn noch? Auf zwei Tage vielleicht . . .«

Ihr Blick irrte ab, ging in die Tiefe des Zimmers hinein.

Da sah sie . . .

Sie versuchte es, sich in den Lehnen zu heben, ihren Körper zu strecken und auf einen Schatten zuzuschreiten, der gleichsam aus einer Dämmerhelle herauswuchs. Matt und haltlos sank sie in die Kissen zurück; ihr Gesicht bekam einen seltsamen Ausdruck, eine aschgraue Färbung.

Vorgebeugten Leibes stieß sie heraus: »Emmerich, du?! Also auch du . . .?!«

Sie stierte ihn an.

»Also noch einmal darf ich dich sehen. Dann nicht mehr . . . und du mich nicht mehr. Komm' näher! Ganz nahe! Es kann keinen befremden. Drüben sind alle Bande zerrissen. Aber du sollst deine Freude noch haben . . . jetzt . . . in dieser Stunde . . . auf Darfeld . . .«

Sie warf sich im Lehnstuhl zurück.

Ihr Körper straffte sich. Sie atmete laut.

»Ja, Emmerich, ich will dir bei unserm Scheiden auf Nimmerwiedersehen noch eine erbauliche Freude bereiten. Komm' näher und sieh dir das Weib an, das sein Bestes vertan hat, das mit seinem Herzen und all seiner Liebe und Güte wie eine Verschwenderin umging. Und dem sie es preisgab, dem sie es hinwarf, als hätte sie es vor die Hunde geworfen . . .«

Wie von einer elementaren Gewalt aufwärts getrieben, stand sie plötzlich in voller Beleuchtung.

»Ja, Emmerich, als hätte sie es vor die Hunde geworfen . . . und dem sie es preisgab . . . Ich Törin!«

Er hatte ihre Rechte ergriffen.

»Hille, so darfst du nicht sprechen. So nicht. Zerreiße nicht alles und jedes. Es muß doch irgend eine Vermittlung geben. Warte bis morgen!«

Ein grausames Lachen.

»Niemals! Ich habe auf Getter nichts mehr zu suchen. Eine Verschwenderin kann man dort nicht gebrauchen.«

Ein leises Wimmern war neben ihr.

Das Freifräulein streckte die Hände.

»Hille, sei doch vernünftig . . . Denke an dich . . . an die da drüben . . .«

»Knebelt mich nicht! Versperrt mir mein Reich nicht. Eine, die ihr Bestes veräußerte, hat ihre eigenen Wege zu gehen und sich an nichts mehr zu stören.«

Wie eine Befreiung kam es aus ihrer zermarterten Brust.

»Ich weiß, was ich tue. Daran hindert mich keiner. Ich bin Kläger und Richter in einer Person und spreche das Urteil: Ich bin fertig mit ihm und für immer geschieden. Durch ihn bin ich in die Gosse gestoßen und besudelt worden. Durch eigene Kraft muß ich aus dem Sumpf heraus in die Reinheit hinein, wo ich sprechen kann: Ich habe mich wiedergefunden.«

Ihr Kopf sank nach vorne.

»Ich habe nichts mehr zu sagen.«

»Aber ich.«

Metallisch und hart klang es ihr entgegen.

Sie beugte sich rücklings.

»Emmerich, du?!«

Seine Rechte umfaßte ihr Handgelenk wie mit einer eisernen Klammer.

»Hille, laufe nicht Sturm gegen Dinge, die unüberwindlich erscheinen. Besinnung und Einsicht stehen an vorderster Stelle. Was auch immer geschehen ist – man gibt kein Gut, das man mit eigenem Willen erstrebte, das die Kirche segnete und Gott benedizierte, so einfach dahin, als wäre es in einem schmutzigen Winkel gefunden. Zerbrich dein Leben nicht, lasse in der ersten Verzweiflung über getätigtes Unrecht nicht die Liebe verbluten. Das steht dir nicht an und wird niemals deiner Erwägung entspringen. Dir fehlt jetzt nur Ruhe. Hast du erst den Burgfrieden deines Innern wiedergefunden, ist alles gewonnen. Du hast heilige Pflichten, dir gegenüber und Bernd gegenüber, selbst dann, wenn er durch purpurrote Sünde hindurchging. Um einer bloßen Leidenschaft wegen, um einen lodernden Rausch, der wie ein Strohfeuer dahinflackerte, werden keine Ringe zerbrochen, keine sakrosankten Satzungen für null und nichtig erklärt. Die Reinheit des Herzens steht hoch, aber die Verzeihung aus dem Munde eines gequälten Weibes steht höher. Denn ein reines Weib sein, heißt Leiden, heißt Nichtverzagen, heißt Wiederauferstehen und Himmelsland finden.«

»Ich kann nicht und will nicht. Nein, niemals!«

»Du mußt!«

Seine Stimme klirrte.

Mit einem zerdrückten Schrei riß sie sich los.

Hochaufgerichtet stand sie ihm fest und frei gegenüber.

»Das mir . . .?! Aus deinem Munde . . . auch dann noch, wenn ich dir sage, daß die Dirne von früher . . .«

»Hille!«

»Auch dann noch, wenn diese Dirne es wagte . . . und er, der mein Mann sein wollte . . . auch dann noch, auch dann noch . . .?!« und ihrer Sinne nicht Herr, in der Empörung ihres Selbst, ergriff sie einen der Leuchter, hob ihn empor und trat mit dem züngelnden Licht vor das Bild des Freisassen, das geisterhaft von der blassen Wand herabsah.

Mit einem lautem Schrei hielt sie ihm die Flamme entgegen.

»Das ist er . . . so sieht er aus, der mein Mann sein wollte und doch meine Ehre zerfetzte! Der Travelmannsche Schmuck liegt zertrümmert, wurde mit Füßen getreten, durch die Gosse geschleift . . . und ich sollte mich erniedrigen und bücken, um die Scherben zu sammeln . . .?! Mag es die Dirne tun. Das ist jetzt ihres Amtes.«

Der Leuchter entfiel ihr.

Als wäre sie hinterrücks mit einem Messer durchstoßen, warf sie die Arme zur Decke, um dann einen langen Weg zu machen, der durch zuckende Flämmchen und eine nicht enden wollende Finsternis führte. Sie hörte Stimmen und kannte sie nicht. Liebevolle Hände beschäftigten sich mit ihr, und sie wußte nicht, was diese liebevollen Hände eigentlich taten und wollten. Als sie erwachte, sah sie, daß sie in dem Zimmer ruhte, wo sie als Mädchen so glücklich gewesen. Sie gedachte der Worte ›Du bist die Ruh‹, derselben Worte, die den Eingang der verschwiegenen Kammer segneten, wo Frau Judith ihren Gedanken nachging, ihrem verlorenen Sinnen und Zwiesprache hielt mit dem, dessen Werke unerforschlich sind und dessen Name leuchtet von Anbeginn der Tage bis in alle Ewigkeiten.

Stephanie und Emmerich saßen noch lange zusammen, und es war ihnen, als zöge ein weißes Schiff mit abgeblendeten Luken über ein graues Wasser dahin, das ufer- und hafenlos sich ins Unendliche streckte.

Nur dann und wann ein Aufhorchen und Flüstern.

»Also es bleibt dabei; ich habe bereits mit den Pächtersleuten gesprochen. Du bist ihnen willkommen. Sie freuen sich, dich bei sich zu haben. Und falls ich dich brauche . . .«

Er legte liebevoll die Hand auf die ihre.

»Ich bleibe, Stephanie, und wenn du mich rufst . . .«

Als er auf sein Zimmer ging, war es spät unter dem Monde geworden.

 


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