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Immer dasselbe, immer dasselbe! Stimmen der Hoffnung, Stimmen aus dem Paradies, und es waren Glocken dazwischen, Feiertagsglocken, Glocken fern über dem Walde. Und sie läuteten den ›Engeln des Herrn‹ und sangen: »Du bist gebenedeit unter den Weibern, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes. Und wisse: bist du wirklich gebenedeit unter den Weibern – unter der Mutterschaft – deine Ruhe kommt wieder . . .« eine Offenbarung, die ihr Prozessionsblumen und Immortellen darreichte, sie ermutigte und ihr gebot, in den Garten des Friedens und der Weltvergessenheit zu treten.
Hille Travelmann war stiller und gefaßter geworden. Es schien ein Sichwiederfinden zu sein, ein Genesen, ein Appell an das Leben . . . und dieses Sichwiederfinden . . . Ach! die mit der Mutter durchquälten Augenblicke hatten sie aufgerichtet und ihr Balsam auf die Wunden der Seele geträufelt. Die Gesichte auf dem Helweg verloren sich, wanderten ab, zergingen wie Marienfäden in warmen Herbsttagen. Und Emmerich Dinklage?! Sein flüchtig in die Erscheinung getretenes Bild hatte ihr nichts mehr zu sagen. Sie hatte sich damit abgefunden. Abgeklärten Sinnes sah sie den nächsten Stunden entgegen.
Seit geraumer Zeit saß sie in ihrem Zimmer und dachte an den heutigen Abend. Da kam Leben auf Getter. Schüsseltreiben und herzliches Lachen! und wenn Gideon Hasenklever, ein alter Freund ihres Mannes, seine unmöglichen Jagdgeschichten und Späße auftischte, hielten selbst die Heimchen mit ihrem Musizieren inne, um diesem Kavalier und Münchhausen des Münsterlandes besser lauschen zu können. Überhaupt dieser Gideon! Der beste Kerl auf der Welt, pensionierter Premierleutnant der Paderborner Husaren, schnittig, kurzbeinig, wenn auch mit einem stattlichen Bäuchlein behaftet, machte er sich allzeit und bei passender Gelegenheit ein ausgiebiges Wohlbehagen daraus, diverse Bouteillen mit Rotspon wie eine Batterie reitender Artilleristen niederzupreschen. »Ventre a terre!« wie er sagte, wenn auch auf andermanns Kosten, denn Gideon war streng genommen eine gescheiterte Existenz, einer von denen, die sich wie eine Lilie auf dem Felde ausnehmen, eine Lilie zwar mit einem Pontakgesicht, ölglattem Straußeneischädel, blanken, lustigen Hummeraugen und einem Schnurrbart, dessen mit Mastix behandelte Haarfäden sieghaft den kleinen Ohrmuscheln zustrebten. Über nennenswerte Besitztitel verfügte dieser Edelmann nicht. Alle Liegenschaften, Ackerländereien, Wiesen, Kotten und Holzungen des einst stattlichen Anwesens derer von Hasenklever waren während der fetten Dienstzeit immer dünner und magerer geworden, bis mit dem Verknallen des letzten Champagnerpfropfens auch das Blöken des letzten Kalbes verhallte. Dolman und Pelzmütze glitten ihm wie Zunder vom Leibe. Und dennoch: Gideon behielt Kontenance, gab sich keinen Miesepetereien hin und lebte nach wir vor wie ein Flachsfink im Rübsen, obgleich er tagtäglich behauptete, er sei gezwungen, wie die Kinder Israels in der Wüste Ziegel zu streichen, eine Behauptung, die auf tönernen Füßen einherstelzte und bei jeder Gelegenheit abknacken mußte. Nein, trotz seines dahingegebenen Dolmans, er war keine bleierne Ente geworden, denn dank seiner Beliebtheit und der seltenen Kunst, den Schalksnarren aus allen Knopflöchern vigilieren zu lassen, dank der Noblesse seiner Standesgenossen, die es sich nicht nehmen ließen, den alten Kameraden und fidelen Junggesellen über Wasser zu halten, lebte Gideon kreuzvergnügt in den Tag hinein, ohne dabei sauertöpfig an das Morgen oder Übermorgen zu denken. Sein Hauptquartier hatte er in der Wiedertäuferstadt aufgeschlagen, um von hier aus seine Exkursionen und Wanderfahrten zu machen, ein gern gesehener Gast auf allen Kavalier- und Freisassenhöfen. Die dicksten Festrüben waren stets in seinen Mundecken zu finden. Bei allen Kindtaufen und Schmausereien – Ohm Gideon mußte dabei sein, eine weiße Nelke im Frack und stets bereit, eine fulminante Rede unter das Gläserklingen zu mischen. Herrenabende bekamen durch ihn erst die richtige Salbung, in der Kegelgesellschaft ›Gut Holz‹ schob er die forscheste Kugel, und wo nur immerhin ein Kesseltreiben angeblasen wurde – Gideon führte die beste Flinte, und seine Schrote standen in höllischem Respekt bei den Karnickeln und Löffelmännern der ganzen Umgebung. Und dann noch eins: der Wald war sein Liebstes, und wenn er sich auch um wissenschaftliche und schöngeistige Dinge so wenig bekümmerte wie der Dachs um die Lösung der Quadratur des Ringes, das Ansprechen und die Bewertung der Nutzhölzer interessierten ihn höchstlich. Er kannte das spezifische Gewicht und die Spaltbarkeit von Eiche. Buche und Edelkastanie. Rot- und Weißfäule sprach er richtig an, durch Bast und Borke hindurch, Meßkunde und Forstfinanzierung gingen ihm wie warme Semmeln herunter, und so geschah es denn auch, daß man sich seiner gern und willig bediente, wo irgend ein Bestand Hals geben mußte und subtile Taxationen erforderlich waren. Aber diese Taxationen gelangen ihm nur, wenn er sich hierbei des sogenannten ›Abschätzungswassers‹ bedienen konnte, worunter er Medoc oder Burgunder verstand, war auch zufrieden, wenn an deren Stelle ein steifer und reichlicher Zitronenpunsch anpräsentiert wurde. Aber hatte er das, dann war Gideon Hasenklever hinsichtlich seines Amtes ein Gott, ein Unfehlbarer, und seine Abschätzungen kamen alsdann so totensicher zur Strecke wie die ihn anlaufenden Hasen im Kleeacker. Und schließlich: seiner Person gesellte sich ein prächtiger Wandergenosse. Er nannte ihn Bülow Krawallo, und war ein Spazierstock. In den nahegelegenen Baumbergen als Eichenstämmchen aufgewachsen, hatte er sich im Laufe der Jahre zu einem stattlichen Knüppel entwickelt, und da ein wildes Hopfengewächs auf den Einfall gekommen war, ihm schon in frühester Jugend enge Fesseln um die Taille zu ringeln, tat er ein übriges und legte sich flandrische Formen zu, opulent gedreht und mit drolligen Warzen und sonstigen Monstrositäten versehen. Gideons Messer und Umsicht gestalteten dieses Holz zu einem Kunstwerk, zu einem treuen Gefährten. Er begleitete ihn auf seinen Jagden, Spazier- und Abschätzungsgängen, und war Holland in Not, wurde die Ultima ratio nicht durch die Triarier, sondern durch den Bakel entschieden. Auf ihn stützte er sich, auf ihn schwor er, bei ihm suchte er Rat, und seine letztwillige Verfügung lautete: »Bei meinem Ableben ist Bülow Krawallo mit mir in ein und dieselbe Kiste zu legen.« Sapienti sat. – Das war des illustren und jovialen Mannes Erdenwallen, sein Leben und Treiben bis zur jetzigen Stunde.
Zehn Jahre älter als Bernd, stand er mit diesem in reger Geschäftsverbindung, spielte mit ihm, pokulierte mit ihm, und wenn der Herr von der Getter irgendwo eine Hürde nahm, die sich die anderen nicht unterfingen zu nehmen, Ohm Gideon war gewißlich an seiner Seite zu finden, stets zu gewagten Streichen aufgelegt, nie kopfhängerisch, sprudelfrisch wie eine Forelle im Bergwasser und der tollste von allen, aber immer mit Verve und mit einer gewissen angeborenen Grazie.
Heute nun jagte er in der nächsten Umgebung.
Seine Flinte war bekannt bis ins Osnabrücksche hinein.
Sie hatte einen eigenartigen Klang, kläffte wie ein Terrier und war die fixeste von allen. Was sie umlegte wurde von ihrem begeisterten Führer doppelt und dreifach unterstrichen, so daß sich die Balken bogen und die verschmitzten Dakel zu heulen begannen.
Überhaupt diese Flinte!
Da wieder . . .
Sie lärmte aus der Uhlenbrinker Gemarkung herüber, munter und scharf und drei- bis viermal hintereinander.
Auch Hille Travelmann hörte darauf wie auf einen glückverheißenden Anruf, verband sie doch mit diesem Knallen und Klingen manche heitere Stunde, die ihr der vergnügte Paderborner eingebracht hatte.
»Ohm Gideon!« sagte sie schmunzelnd. »Er ist willkommen auf Getter.« Ihr Blick ging wieder über das weite Land und den herbstlichen Wald hin, der sein mürrisches Rauschen verlor und so ruhig sich von Gottes Firmament abhob wie ein großmächtiger und omnipotenter Würdenträger in leuchtendem Purpur.
Inzwischen war die Sonne merklich tiefer gesunken. Die Schatten machten bereits lange Gesichter. Sie gefielen sich in einer bläulichen Tönung. Im Ried nistete ein Schummern und Dämmern, hob es sich in feinen Nebelschwaden, die das dunkle Wasser mit lichten Gazeschleiern bedeckten.
Die Luft war klar und sichtig geblieben.
Und drüben . . . weit drüben und dem Auge nicht mehr erreichbar, über Billerbeck fort, lag ihre engere Heimat, lag der Gutshof, auf dem sie ihre ganze Jugend verlebt hatte, ihre Leiden und Freuden und das volle Behagen eines westfälischen Edelsitzes. Auch hier Heideland, unermeßliches Heideland . . . und sie hatte sich erzählen lassen: war da vor Jahren eine hohe Frau häufig nach Darfeld gekommen, eigenartig in ihrem Tun und Lassen, mit herbem Gesicht und sanfter Ergebung. Sie kam stets allein. Niemand begleitete sie. Und wo sie vorbeiging, an Buchweizenfeldern und geschorenen Wallhecken, an nickenden Simsen oder dem alten Birkenbaum, unter dem der Schäfer stand und mit verblaßten Lichtern die weite Gegend absuchte, überall sahen ihr die Leute nach, grüßten sie ehrerbietig und raunten sich zu: »Da geht das Freifräulein mit den Gespensteraugen und den großen und schönen Gedanken.« Und diese Gedanken ließen die Phalänen von Rispe zu Rispe schaukeln, machten das große Schweigen lebendig. Es waren Gedanken mit weißen Händen, die an die kreisrunden Altwasser traten, um die Seerosen aus der Tiefe zu heben. Und diese Gedanken – sie sahen an kalten Wintertagen in die hellen Buchenscheite hinein, in die hellen Buchenscheite auf Rüschhaus . . . und begannen wunderseltsam zu singen, zu singen, zu singen . . .
Annette von Droste.
Sie war lautlos ins Zimmer getreten, die längst Dahingegangene, die Gottsucherin, die vom Himmel Begnadete, die mit ihr Geistesverwandte. Denn auch sie, auch sie hatte die Gabe des zweiten Gesichtes, das unsägliche Schauen in kommende Tage, und war doch freundlich und wie ein Engel des Herrn mit goldenen Flügeln.
Hille glaubte sie sprechen zu hören.
Sie ließ die Wimpern fallen, um besser verstehen zu können.
Annette war mit ihren Eltern befreundet gewesen. Sie erzählte von ihnen, von ihrem Wirken und Schaffen auf Darfeld, von der Gottesverehrung, die sich unter den Ziegeln des alten Hauses ausgetan hatte.
Dann zerfloß die Erscheinung. Nur ein feines, kaum wahrnehmbares Psalmodieren war übriggeblieben, wie von Harfen, die weit drüben in der Niederung von Geisterhänden gespielt wurden.
Die Gutsherrin hielt noch immer die Augen geschlossen. Den Kopf in die Hand gestützt, spann sie ihre Träume weiter. Da wurden ihr die Augenblicke zu Tagen und die Tage zu Jahren, und ihr Geist pilgerte immer tiefer landeinwärts, an Rüschhaus vorbei, an versteckten Kotten und Vorgehölzen vorüber, bis dorthin, wo altersgraue Mauern aufragten, eingebettet zwischen sparrigen Eichen, und über der Einfahrt in Stein gemetzet geschrieben stand, verwaschen und abgeblättert: »POST / TENEBRAS / SPERO / LUCEM.« Nach der Finsternis des Lebens erhoffe ich das ewige Licht.
Hier trat sie ein.
Sie atmete den Hauch ihrer Väter.
Geschwister hatte sie nicht. Unbefangen war sie in die Ehe getreten, nicht jubelnden Herzens und im Taumel einer heißen Begierde, sondern gefaßt und abgeklärt, dem Rufe des Mannes folgend wie auf das Geheiß einer Morgenglocke. Und sie war glücklich geworden. Ihre Mutter hatte sie niemals gekannt. Deren Sterben war ihr Leben geworden, ihr Leben der Friede und Trost ihres Vaters.
Klemens, Freiherr von Darfeld, ein westfälischer Edelmann nach dem Herzen Gottes, leidlich begütert und befreundet mit allen Notabelen seines Standes, hielt sich von allem Politischen fern, lebte ausschließlich seinen keramischen Neigungen, denen auf historischem Gebiet, und seine Abhandlungen über den streitbaren Bischof Christoph Bernhard von Galen hatten selbst in fachwissenschaftlichen Kreisen Anerkennung und Beifall gefunden. Seiner Veranlagung entsprach es nicht, durch Feld und Flur zu streifen und dem Weidwerk obzuliegen. Den Abschuß und die Hegung seines Wildbestandes vertraute er berufenen Händen an. So nahm es nicht wunder, daß sich zwischen den Häusern Darfeld und Getter vertrauliche Bande spannen, die sich mit den Jahren immer straffer und fester verschürzten. Freiherrn- und Freisassentum! ererbt von den Vätern und mit Zähigkeit festgehalten bis zur heutigen Stunde. Hie beschauliches Alter, die Stille des Abends und das sanfte Hinübergleiten in die Dämmerungen des erhofften Paradieses – und hie: strotzende Kraft, der Wille zur Tat und ungebundene Draufgängerei bis zum äußersten; trotzdem verstanden sich die beiden ungleichartig veranlagten Männer wie Blutsverwandte, als hätte ein unabweisbares Geschick es also bestimmt und unter Brief und Siegel genommen. Kein Mißton machte sich geltend, keine irdische Hand war so kühn, an den bestehenden Verhältnisse zu rütteln und sie aus dem Senkel zu bringen. Auch Judith folgte mit sichtlichem Interesse diesem seltsamen Weben und Wirken, möglicherweise aus der zuversichtlichen Erwartung heraus, diese Fäden noch zarter und inniger vereinigt zu sehen, ihrem Sohne zum Heil und dem Travelmannschen Anwesen zur Wohlfahrt. Sie sah es nicht ungern; denn seit dem Verkehr mit dem alten Freiherrn war in Bernd ein andrer Adam gefahren. Er schien stetiger, seßhafter geworden. Seine ungebändigte Kraft ebbte zurück. Die wilden und halsbrecherischen Ritte hörten auf, und öfters sah man ihn, ihn, den Herrn von der Getter, wie er sehnigen und ranken Leibes den Pflug führte, Furche bei Furche warf und die Schollen so meisterhaft auf die Seite legte, als gelte es, vierzig- und fünfzigfältige Frucht für die Scheunen zu heimsen. Häufig war er auf Darfeld zu finden. Dort jagte er mit besonderer Passion zwischen den entenreichen Gräben, auf den trostlosen Heiden . . . nicht immer allein . . . Emmerich von Dinklage, ein weitläufiger Verwandter des Hauses, war bei ihm . . . der junge Gelehrte, der Denker und Forscher, aber auch der zielbewußte Westfale, der seinen Willen beherrschte und sein Herz an die Kette zu legen verstand, wenn es aufbegehrte wie der Sturm in der Frühlingsnacht und die Wolken darüber hinflogen wie zerflederte Hoffnungen. Er und Bernd kannten sich lange. Die gemeinsam bei den münsterischen Kürassieren durchkämpfte einjährige Dienstzeit hatte sie näher gebracht und die alte Kameradschaft, trotz der Verschiedenheit der Charaktere, nicht erkalten lassen. Sie hatten sich eben gefunden, in der Frohheit der Jugend, mit dem Instinkt wechselseitiger Neigung und Bewertung, in ihren Fehlern, Schwächen und Vorzügen, wenngleich auch letzten Endes ihre Ziele und Lebensanschauungen sich schieden wie Feuer und Wasser und ihre gesonderten Wege verfolgten. Der Kern der Sache blieb. Ihre Freundschaft war nicht aus Schick und Richte zu bringen. Zwischen diesen Männern stand Hille, aufgewachsen in völliger Abgeschiedenheit, in rührender Einfalt, umkleidet mit der Wonne und der Schönheit des reifen Weibes. Unbekümmert um die Wirrnisse und Anfechtungen der Umwelt, verfolgte sie ihre vorgeschriebenen Pfade. Friedliche Sterne zogen ihr auf, friedliche Sterne gingen ihr unter. Kein Windhauch krauste den Spiegel ihrer ruhigen Seele, bis sie gewahren mußte: vier heiße Augen waren plötzlich auf sie gerichtet – die eines Adlers und die eines Falken, und diese Blicke brachten sie um das Arglose und die Beschaulichkeit ihres früheren Daseins. Ängste und Nöte kamen. Eine keimende Sehnsucht und der Schrei nach dem Manne war in ihr lebendig geworden. Sie wußte nicht ein noch aus. Aber eine tiefe und selige Scheu umspielte ihr Antlitz, die stetig zunahm und mit jedem jungen Morgen nachhaltiger und inniger wurde. Nur wußte sie nicht: welchen Blicken sollte sie folgen? Denen des Adlers oder denen des Falken . . . und da eines Tages . . .
Die Ernte war eingebracht. Roggen- und Weizenschläge lagen in rauher Stoppel. Aber wie die Leiterwagen auch ab und zu rumpelten, die Scheunen wollten sich nicht füllen. Keine Diemen wurden gerichtet, und standen sonst wie die Grenadiere im Gliede. Der Segen des Herrn hatte gefehlt. Statt seiner war der böse Sämann über die Felder gestolpert, hatte Hederich gestreut und das gute Gesame mit dem Kornbrand behaftet, und was seinem schlimmen Treiben entgangen war, hatten Hagel und Schloßen zum größten Teil in Grund und Boden geknüppelt. Auf Darfeld gab es bekümmerte und lange Gesichter. Das Jahr war ein völliges Mißjahr geworden.
Um diese Zeit kam einer den schmalen Heckenweg herauf, der durch weite Parzellen über eine sanft abgedachte Berglehne direkt in den Hof und ins Herrenhaus führte. Es war ein Mann in den Sechziger-Jahren, ein Vetter zweiten Grades des Herrn von Darfeld, riemig gewachsen, grau in grau gekleidet und die blauen Deckfederchen des Hähers am niedrigen Filz, dessen schmale Krempe gegen die linke Ohrmuschel anstieß. Auf der Höhe des Heckenweges angekommen, wandte sich Gisbert Freiherr von Spiegel, seines fuchsigen, jetzt abgeblaßten Haares wegen allgemein der ›rote Spiegel‹ geheißen, und seine blutunterlaufenen Äugelchen revierten das kahle Land ab, so wie Gabelweihen es tun, wenn sie dicht über die Erde dahin gleiten. Dabei stieß er einen scharfen Pfiff durch die Zähne.
»Prächtige Zucht!« sagte er lustig vor sich hin. »Natürlich bei seinen gottsträflichen Eigenbröteleien und historischen Galoppsprüngen . . . selbstverständlich, da wächst der Roggen nicht in die Säcke hinein, lamentieren die Hypotheken von den Dächern herunter. Karamba! Mir soll es recht sein. Was dem einen verwest, geilt dem andern in die offenen Hände. Suum cuique! Weiß der Geier, der preußische Kuckuck versteht schon zu krähen, und wenn's auch dem westfälischen Adel meistens nicht paßte, heute paßt mir's,« und damit nahm er seinen früheren Schritt wieder auf und trat in den Gutshof.
Zwei Stunden nachher lag Darfeld unter fahler Beleuchtung. Am tiefen Horizont zuckte es auf, um in violetten Fanalen über den Boden zu züngeln. Dann kam es marschiert unter Donnern und Blitzen, schwerfällig, dumpf und mit verhaltenem Atem; bullerte auch auf dem Herrensitz alles zusammen, was grünen und blühen wollte, und als nach etlichen Tagen Emmerich von Dinklage vorsprach und bald wieder ging, aber weltabgekehrt und mit verstörtem Gesicht, da war es, als pilgerten etliche Totenbeterinnen um Hof und Haus, um das ganze Anwesen in die Grube zu beten.
Die ganze Nacht hindurch schritt Klemens von Darfeld wie ein eingekäfigtes Tier über die Dielen, rastlos, ohne aufzuhören, mit der fatalistischen Ruhe eines verlorenen Mannes.
So fand ihn Hille.
Er stierte sie fassungslos an. Über Nacht war sein Haar weiß wie Adlerflaum geworden, und seine linke Hand zitterte, als hätte sie tagelang Kegelkugeln geschoben.
»Vater, was hast du?«
»Hille, daß ich's man sage: Emmerich Dinklage ist bei mir gewesen.«
»Und du sagtest ihm, Vater?«
»Das, was ich tun mußte. Kirchenmäuse können zusammen nicht hausen, und wenn sie es tun, ist es 'ne jammerselige Wirtschaft.«
Sie war bleich wie ein Sterbelaken geworden.
Entgeistert sah sie ihn an.
»Und das soll heißen?« fragte sie jählings.
»Ich bin zum kahlen Stoppelacker geworden. Ein Bettler steht vor dir.«
Die Worte erfroren ihr auf der Zunge.
»Ist tot für mich. Der rote Spiegel hat ihm den Atem genommen. Mit seinem Sterben wurde auch dein Glück und das Emmerichs in die schwarze Lake getrieben. Das wäre nun fertig, aber was jetzt, was nun weiter beginnen?!« und der rechte, gesunde Arm streckte sich aus, und die rechte, gesunde Hand ballte sich zur Faust, um sich gleich darauf wieder zu spreizen . . . »Himmel und Herrgott!« und wie Flintenschüsse knatterte es ihm von den Lippen herunter: »Diese Hand soll verdorren. Sie ist verpestet und vom Satan gezeichnet; denn sie unterschrieb den Gutschein, die Bürgschaft und alles das, was nötig war, einen Freund über Wasser zu halten.«
Er rang nach Atem. Dann schrie er auf und ließ die wieder geballte Faust auf den Tisch fallen: »Diese Hand brachte dich und mich um Erbe und Würde. Mein Vetter, der rote Spiegel wurde zum Lumpen, legte dem andern und mir den Strick um den Hals . . . nur noch wenige Tage – und Darfeld ist der Gant und dem Hammer verfallen . . . wird vom roten Spiegel beackert . . . wird vom roten Spiegel bezogen . . . und da ging das nicht anders: Emmerich Dinklage wurde um sein Bestes betrogen. Ick gröte Ju, leiwe Mann. Ja, er wurde um sein Bestes betrogen . . . betrogen . . . betrogen . . .«
Sie hatte die letzten Worte nicht mehr verstanden.
Wie Sandkörner waren sie dem Alten vom Munde gerieselt, während er selber einem Sessel zutaumelte und dort zusammenbrach, halt- und kraftlos, als hätte ihn eine Sense niedergeworfen.
Hille war bei ihm. Es mutete sie an, als würden die Sterbesakramente ins Zimmer getragen, und in dieses Sakramentale hinein fiel es dem alten Freiherrn brockenweise vom Munde, verloren, nur leise gestammelt, dann stärker, um schließlich wie mit harten Nägeln gegen die Wände zu kratzen: »Alles dahin . . . vor die Hunde geworfen . . . von diesem infamen Spiegel verelendet . . . wie mit Strychnin ins Jenseits befördert . . . und das alles, weil diese unnützen Finger . . .«
Er versuchte es, sich in seinem Polster zu strecken.
»Hand, du verfluchte!«
Hille drückte sie nieder, streichelte sie, kaum fähig, sich aufrecht zu halten.
»Vater, behalte doch Ruhe.«
»Du – wo die Dinge so stehen?!«
Unwillkürlich stieß er sich mit der geballten Faust vor die Stirne.
»Wo mir das alles auseinander will?! Möglich, die Verzweiflung hört auf, wenn das da draußen sich verwirklicht, was da geschrieben steht: Nach der irdischen Finsternis erhoffe ich das ewige Licht. Aber bis dahin . . . entweder oder. Entweder ihr tretet ein, Würde und Erbe, oder aber . . .«
Mit jähem Ruck war er in die Höhe gefahren.
»Ich weiß schon, ich weiß schon!« trumpfte er auf. »Nichts ist mehr nötig, als nur noch den großen Querstrich zu ziehen.«
Er machte eine hastige Bewegung dem Eingang zu.
»Herein Würde und Erbe! oder du, mein braves Reiterpistol . . .«
Seine Stimme schlug um, zerknitterte, um schließlich ganz zu verstummen, denn ohne vorheriges Anklopfen tat sich die Tür auf, kaum hörbar, um ebenso geräuschlos sich wieder zu schließen.
Eine große, hagere, schwarzgekleidete Frau war ins Zimmer getreten, einfach und schlicht, nur ein Spitzentuch um die Schultern geschlagen, ein Samthäubchen auf den eisgrauen Haaren. Ihre zusammengekniffenen Lippen bewegten sich nicht, die gefalteten Hände hingen schlaff herunter. Ein weißes Tüchlein lag zwischen den welken Fingern.
»Judith . . .!«
Der Alte trat ihr etliche Schritte entgegen, nahm ihre Rechte und führte sie still an die Lippen.
»So unerwartet? Warum keine Nachricht? Wir wären vorbereitet gewesen. So aber . . . unser Empfang entspricht nicht den gebräuchlichen Formen.«
»Laßt das. Ich bin eigenwillig erschienen, ohne anzuklopfen, ohne mich melden zu lassen. Niemand war draußen. Darfeld ließ sich nicht stören. Das paßte mir gerade, denn eine innere Stimme gebot mir: Gehe hin! und ich bin zu Euch gegangen. Oder aber – bin ich ungelegen gekommen?«
»Für eine Judith Travelmann bin ich immer zu sprechen. Liebe Gesichter können diese Räume vertragen. Wir haben sie nötig. Und nun, was verschafft mir die Ehre?«
»Geschäftliche Dinge führten mich her.«
»Soll meine Tochter . . .?«
»Nein, es ist gut, wenn sie bleibt. Was ich zu sagen habe, ist auch für sie bestimmt. Das Leben ist eine harte Meisterin, aber was sie lehrt, kann jeder gebrauchen.«
Dabei hatte sie Hille an sich gezogen, war ihr sacht über den Scheitel gefahren.
»Wir wollen uns setzen, Klemens Darfeld, denn nur so kann ich meine Anliegen ordnen und sie aneinander reihen, wie sie zusammen gehören, ohne zu viel zu sagen, ohne dabei das Wichtigste außer Obacht zu lassen. Vor allen Dingen: ich will nicht aufdringlich erscheinen. Ich lasse die Kirche im Dorf und will nicht über die Pfähle hinaus, die mir gebieten: Bis hierher und nicht weiter. Nur die Liebe um Euch führte mich her. Nur eine gebieterische Notwendigkeit, das qualvolle Muß hieß mich diese Stunde suchen, ohne Sonderinteressen, ohne dabei an mich oder an Haus Getter zu denken. Klemens, das ist es, und so hoffe ich denn, die richtige Bewertung zu finden, auf daß wir schließlich sagen können: Unser Begegnen ist nicht vergebens gewesen.«
Der Freiherr machte eine verbindliche Handbewegung.
»Judith, ich bitte . . .« und als sie Platz genommen hatten, eine gewisse Befangenheit die Herzen erregter klopfen ließ, legte Judith die schlanken Finger zusammen und sagte: »Klemens, Ihr und mein verstorbener Mann, ihr habt von jeher ehrliche Freundschaft gehalten, trotz seiner Schwächen, die ihm anhafteten. Indessen – ich segne sein Andenken, denn was er mir antat, hat die allversöhnende Hand des Todes gemildert. Und käme er wieder, bleich und entstellt, wie damals, als sie ihn an der Mergelgrube fanden, in meinen Armen wäre ihm eine Stätte bereitet. Scheinbar sind meine Ausführungen ein Konzert von Mißklängen, allein, alles in allem genommen, bildet es ein harmonisches Ganze. Ihr seid der nämlichen Ansicht, das weiß ich; denn damals . . . Ihr habt mir offen zur Seite gestanden, ohne den Bonzen herauszukehren, denn als die Schmäher und Verleumder kamen und wie Reptile um den Erschlagenen zischelten – Ihr tratet unter die Bodenluke an die Flachsbrechen heran und decktet die Travelmannsche Ehre mit Euerm Schild. Das danke ich Euch bis zur heutigen Stunde. Und diese Freundschaft habt Ihr auf mich übertragen, und so was verpflichtet. Damals war ich in Not, heute seid Ihr es, und weil es so ist . . .«
»Judith . . .!«
Er versuchte die Linke zu heben. Matt sank sie ihm am Körper herunter.
»Ich vermute,« sagte er mit weher Betonung, »Ihr kommt jetzt auf meine Bedrängnis zu sprechen.«
»Ja,« versetzte sie mit eisiger Ruhe, »das ist meine Absicht.«
»Dann gestattet zuvor . . .« und er ging hin, ließ die Gardine herunter und setzte sich wieder.
Alles Tageslicht war aus dem Zimmer genommen. Nur eine matte Dämmerhelle war übriggeblieben.
»Klemens, warum ließet Ihr die Gardine herunter?«
»Aus zweckdienlichen Gründen. Ich glaube, es ist besser, Ihr seht mein Antlitz nicht, wenn Ihr redet. Es spricht sich leichter; denn es ist nicht schön, in entstellte Gesichter zu blicken.«
»Aber Klemens . . .! und dennoch: es wird seine Richtigkeit haben. So hört denn. Besser ein offenes und zeitiges Wort, als ein solches, das hinter den Ereignissen einherwinselt. Auch wir, die Travelmann, sind mit Schlacken behaftet, aber unter diesen Schlacken wohnt der Atem der Treue. So ist es von jeher gewesen. Ich bin über die Darfeldschen Äcker gegangen, und was ich sah, machte keine fröhlichen Sinne. Ich kam an den Speichern vorbei, und überall gähnte mir eine trostlose Leere entgegen, und das ist ein Unglück. Aber dieses Unglück ist nicht allein vom Himmel gekommen. Die Schuld daran liegt auch auf der andern Seite. Wer schieres Brot verabfolgt, kann auch schiere Arbeit verlangen. Doch ehrlich gestanden: Eure Knechte und Mägde haben schieren Roggen gegessen, ohne schiere Arbeit zu leisten. Die Hand des Herrn fehlte, das wachsame Auge. Über Euern Scherben und Büchern vergaßt Ihr die Wirtschaft, und da begann es in Euern Sparren und Dächern zu knistern. Ich verschlimmere nichts, fühle aber die Verpflichtung in mir, das Kind bei seinem richtigen Namen zu nennen . . . und so frage ich denn: Habe ich recht oder unrecht?«
Sie hielt inne.
Lautlose Sekunden zerrannen in der grauen Dämmerung.
In diesem Halbdunkel stand ein bleicher Fleck, kalkig und scharf umrissen.
Es war das Gesicht des Freiherrn.
»Ihr habt recht,« sagte er tonlos, »nur: Eure Worte sind steinern.«
»Aber gerecht, und das Schlimmste von allem: Eure Gutmütigkeit selbst ist ein Erbteil der Darfeld. Ein Juwel und doch kein Juwel, denn schlägt es zum Unheil aus, beginnt der Boden unter den Füßen zu wanken. Und hier, so wahr mir Gott helfe! ist kein Aufhalten mehr, scheint alles aus Fugen und Gelenken zu fallen, es sei denn . . .«
»Sprecht weiter.«
»Das will ich, denn meine Augen sehen genau und meine Ohren täuschen sich nicht. Ein Narr, wer noch hofft. Eure gentile Lässigkeit und Eure unangebrachte Freude am Wohltun lockten den roten Spiegel aus seinem Bau, und was ein Spiegel anschleicht, dem wird die Kehle zerrissen.«
»Das weiß ich.«
Klemens Darfeld stand neben der Alten.
Seine gesunde Hand streckte sich und faßte die ihre.
»Ich danke Euch, Judith.«
Dann ein bitteres, knochentrockenes Lachen.
»Immer offen und ehrlich. Solche Freunde kann man gebrauchen, wenn man in Not ist, nur: sie brechen einem den Verstand auseinander. Recht geschieht mir, aber wenn es beliebt, sei mir eine Frage verstattet.
»Ich bitte darum.«
»Dann frage ich, Judith: Seid Ihr auf Darfeld, um mir das Blut aus dem Herzen zu treiben?«
»Eigentlich ja, und eigentlich doch nicht . . . und der wahre Grund meines Kommens . . .« und sie straffte sich hoch, derb und wie ein Bildstock gewachsen: »Klemens, Ihr solltet mich kennen und mich nicht heute so und morgen anders taxieren. Ich bin die Alte geblieben, die Trägerin meines Namens, die Unwandelbare und, wenn Ihr wollt, das eckige Weib in der münsterischen Heide, stets gedenkend, was Ihr meinem verstorbenen Manne gewesen. Kein Steinchen verrückte sich dran im Laufe der Jahre. Das solltet Ihr wissen. Über den roten Spiegel jedoch scheint Euch das Nächste aus den Fingern zu gleiten, als wäre es gar nicht vorhanden. Was soll das?«
Ihre Stimme war heiser geworden.
Dann aber setzte sie ihre Worte klingend und wie mit Hammerschlägen nebeneinander: »Drückt ihm den Daumen ins Auge, und wenn Ihr es selber nicht könnt, so laßt es andere besorgen. Wer an Darfeld rüttelt und schüttelt, der rüttelt und schüttelt an meinem eigenen Hause. Und an der Getter rüttelt mir keiner. Nach alter Satzung und Treu' und nach verbrieftem Gelöbnis: Freiherrnblut und Freisassenblut verlassen sich nicht, gehören zusammen. Wenigstens ist das bei uns so wie'n Evangelium. Klemens, Ihr sollt mich richtig verstehen und alles so aufnehmen, wie es gemeint ist. Fuchs ist Fuchs, und der rote Spiegel ist Zeit seines Lebens der rote Spiegel geblieben. Daran ändert sich gar nichts. Kein Bitten und Betteln. Kranken gibt man das Brot des Lebens, Tote begräbt man, aber Eindringlinge riegelt man aus. Das könnt Ihr allein nicht. Da muß einer Euch helfen, und daher: wollt Ihr eine hilfreiche Hand, die Travelmannsche Hand? Dann sagt es! Hier ist sie.«
Der Freiherr taumelte rücklings. Fassungslos waren seine starren Blicke auf die unerschütterlichen und friedhofstillen Züge der Alten gerichtet.
Dann schrie er: »Ist ein Satan oder ein Engel unter meine Sparren getreten?!«
»Keiner von beiden. Aber eine Travelmann, Klemens.«
»Mein Gott, mein Gott! Die wilde Travelmännin ist zu mir gekommen . . . kam hilfreich . . . kam mit offenen Armen . . . Judith, und wie heißt die Bedingung? Die Gegenleistung? Was hab' ich zu bieten?«
»Gar nichts. Wie kommt Ihr darauf? Ich stelle keine Bedingung. Ihr denkt wohl: Auge um Auge und Zahn um Zahn. Mancherorts angebracht, im vorliegenden Falle jedoch geht diese Weisheit auf Krücken. Keine Nötigung, Klemens. Freiheit für jeden. Ihr habt keine Gegenleistung zu machen. Ich will nichts und beanspruche nichts. Ihr habt gar nichts zu geben. Aber wenn Ihr es tun wollt . . . mit Liebe im Herzen . . . mit kindlicher Einfalt und aus freien Stücken heraus: Haus Getter kann eine Darfeld gebrauchen. Das Blut paßt zusammen.«
Langsam schritt sie der Tür zu.
Ein weher Laut lief hinter ihr her: »Judith, und wollt Ihr schon jetzt eine bündige Antwort? Sollen Hille und ich . . .?«
Sie wandte sich ruhig.
»Klemens, tut, was Euch frommt, und handelt, so wie Einsicht und Gewissen es vorschreiben. Alles Weitere ist vom Übel. Keine Überstürzung. Nur sorgt, daß dem roten Spiegel das Handwerk gelegt wird. Fuchs bleibt Fuchs, und ich sagte schon eben: Kranken gibt man das Brot des Lebens, Tote begräbt man, aber Eindringlinge riegelt man aus . . . und was Ihr auch vorhabt, und wie die Entscheidung auch ausfällt: auch ohne eine Darfeld auf Getter – mein Wort ist wie vom Tische des Herrn gespendet. Nun laßt mich. Keiner begleite mich. Ich will nicht. Mein Krückstock steht draußen. Es ist besser so. Ich will kein Aufhebens machen.«
Als sie das Zimmer verließ, ruhten zwei heiße Lippen auf ihren eiskalten Händen
»Es ist gut, Hille,« sagte sie leise.
Dann ging sie. –
Bald darauf war die Gant niedergeschlagen, und am nämlichen Tage standen zwei junge Männer zusammen, ähnlich zum Verwechseln, ehrlich bis in die Knochen hinein und wie mit eisernen Ringen aneinander geschmiedet, nur: der eine bleich, wie ins Mark getroffen, der andere hungrig nach Leben und mit zuckenden Nasenflügeln.
Aber Hand lag in Hand.
»Bernd, keine Bekenntnisse mehr. Sie liegen mir nicht. Vae victis! Du bist Sieger geblieben. Besiegte haben noch niemals Trophäen erworben, niemals Kränze gefunden. Im übrigen: lachen will ich, wenn es auch schwer wird; denn Lachen ist immer bei einem Starken zu finden. Und stark will ich sein, um nicht Unterströmung zu haben.«
»Unterströmung? Ein Dinklage hat niemals Unterströmung erduldet.«
»Bernd, es war nahe daran. Nur meine gesunden fünf Sinne . . . Aber lassen wir das. Es wird sich schon einrenken. Nur eins möchte ich sagen. Weißt du noch, Bernd: von jeher bin ich ein glücklicher Spieler gewesen. Natürlich im ehrlichen Spiel. Dies Mal: va banque! Du hingegen, du hast mich in eleganter Lanzade überboten. Sie weist zu den Sternen. Gratuliere, mein Junge!«
»Und du trägst mir nichts nach?«
»Nachtragen? Dir? Warum denn? Im Gegenteil. Freunde, wie wir sind?! Wohin die Liebe eines Weibes fällt, da ist geweihte Stätte. Möge diese Stätte immer geweiht sein. Außerdem: es mußte so kommen. Nur so bleibt Darfeld erhalten und damit Ansehen und Erbe. Gott befohlen für heute. Das Weitere findet sich.«
»Was hast du vor?«
»Ich? Irgendwohin. Was soll ich denn anders? Die Welt ist weit. Nur hier: die münsterische Heide drückt mir das Herz ab. Ich reise nach Leukas. Die hellenische Umwelt wird mir das Vergessen schon bringen. Grüße mir Hille, und damit . . .« und als ein großes, weißes Schiff die blaue Adria durchfurchte, immer südlichen Kurs hielt, auf der Reede der kleinen jonischen Insel ausbootete, wo Artemisia von Halikarnaß den tödlichen Sprung vom leukadischen Fels wagte und ein einsamer Mann mit leichtem Gepäck, aber mit einer schweren Last auf der Seele, an Land ging, war Hille von Darfeld Herrin auf Getter geworden . . . und ihre Tage vergingen wie Sonnentage und ihre Nächte wie Träume, die sich schweigend und mit goldenen Bildern durchleuchtet unter dem Himmelreich bewegten. Ach! und diese Tage und Nächte wären Sonnentage und lichte Träume geblieben, hätten nichts an ihrer Reinheit und Innigkeit verloren, hätte sie nicht die Worte eines Großen gelesen, die da lauten: »Lasse dir raten: habe die Sonne nicht zu lieb und nicht die Sterne. Komm' und folge mir ins dunkle Reich hinab . . .« Und sie folgte der Stimme des Großen. Der unberechenbare Strom der Erscheinungen zog über sie hin. Im wachen Zustand sah sie Gestalten, Ereignisse, Begebenheiten, die nur in der Zukunft wurzelten, kommenden Tagen entstiegen, und sie gewahrte mit Schrecken: du bist gezeichnet vom Herrn, und das Erbteil der ›Blassen‹ im Land ist auch dein Erbteil gworden – und da hatte sie das Lachen verlernt und alles das, was sie berechtigte, mit den Fröhlichen fröhlich zu bleiben. Eine unwiderstehliche Gewalt zog sie häufig zum Helweg, und als der Roggen blühte und ein warmer Blust über die Myriaden von Ähren dahinräucherte, kam es geheimnisvoll seine Straße gezogen, schwarzumkleidet, von vier Rappen gezogen, und eine lange Pleureuse wehte schauerlich über das Wappen derer von Darfeld. Und Stimmen in der Luft, Stimmen der Trauer! »Quaesumus, Domine, pro tua pietate, miserere animae famuli tui! Requiem aeternam donna ei, Domine. Et lux perpetua luceat ei! Requiescat in pace! Amen, Amen!«
Die furchtbaren Gesichte drückten sie nieder. So fand sie Hövelkamp. Auf sorglichen Armen trug er sie heimwärts.
Nach Monatsfrist wehte die Flagge auf halbmast, und die Leute sagten: »Nun ist der alte Freiherr gestorben.«
* * *
Mit einem erstickten Laut fuhr sie auf.
Die Träume zerflatterten, die Vorstellungen und Erinnerungen.
Hille war sich und dem Leben wiedergegeben.
Ein ernster, feierlicher Abend sah durch die Scheiben. Ein violblauer Streifen grenzte den Horizont ab. Darüber standen resedafarbige Schatten. Der brennende Wald war kaum noch zu sehen. Seine Konturen verschwammen. Der rote Kardinal hatte sich eine Kapuze übergezogen. Sein Amt schien zu Ende. Wie lange noch, und er sah sich seines preziösen Gewandes entkleidet. Wenn nicht morgen, so doch in einigen Tagen . . . und dann kam das Frösteln und Frieren und die weiße, große Winterruhe und das Gebimmel irgendeines verlorenen Schlittens, federleicht, ein Armseelstimmchen, um mit diesem Stimmchen in das ewige Schweigen zu bimmeln.
»Päng! Päng!«
Sie horchte hinaus.
Noch einmal kläffte und belferte Ohm Gideons Flinte herüber.
Dann hörte sie nichts mehr, aber aufrecht stehend, die Arme auf der Brust zusammengeschlagen, sagte sie heimlich: »Wie sprach doch die Mutter? Ja, so: die Stunde wird kommen, wo du reden wirst: Ich bin gebenedeit unter den Weibern, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes.«
Und sie faltete die Hände, die schmalen, schuldlosen Hände.
»Nicht für ihn. Es soll sein Weihnachtsgeschenk werden. Aber für sie . . . schon heute . . . Gut, der Schmuck, er soll kommen, der Schmuck der Travelmänner, denn ich bin eine Travelmann, Mutter.«