Joseph von Lauff
Die Seherin von der Getter
Joseph von Lauff

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16

Ludgerus Hölscher aber ging hin und schloß das Fenster, durch dessen Gardinen die lieben Morgenstrahlen jetzt so freundlich spielten, als seien sie berufen, das traurige Geständnis etwas aufzuhellen und weniger traurig zu machen.

»Hochwürden . . .« und Hövelkamp begann in seiner bedachtsamen Art die Last und die schweren Geschehnisse, die ihn bedrückten, abzulegen, Stück für Stück, Stein um Stein, ohne der tiefen Schmerzen zu achten, ohne hierbei die Erregungen groß zu bewerten, die ihm wie scharfe Messer durch die Seele fuhren. Nichts verschwieg er, aber auch nichts brachte er vor, was er nicht, wie er selber sagte, auf die Schwurgabel nehmen konnte. Nichts beschönigte er, aber auch mit keiner Silbe berührte er Dinge, die nach Gehässigkeit schmeckten. Alles war lauter an ihm: seine Worte, seine Erwägungen, seine Gedanken. Er schilderte die verflossenen Tage und Wochen, sein Sorgen und Wachen, seine Qualen und Nöte um die junge Herrin, um das Heil des Freisassenhofes, bis zur Stunde, wo er sich sagen mußte: »Das Unheil ist da. Ich sah, wie ein mageres Licht in der Kammer brannte und sah es verlöschen unter dem bösen Atem der Sünde.«

Er stierte traurig in seinen Zylinder hinein.

»Dies meine Beichte, Hochwürden. Ich weiß, ich zeugte wider den Herrn, und wenn es zu Unrecht geschehen, bitte, dann sagt es. Ich diente ihm treu, war wie ein wachsamer Hund, der seinen Befehlen gehorchte, wo es nur sein mochte, aber dennoch mußte ich gegen ihn sprechen, und wenn es zu Unrecht geschehen, bitte, dann sagt es. Sei nicht ein Ohrenbläser und verleumde nicht mit deiner Zunge, so steht irgendwo in den heiligen Schriften verzeichnet, und wenn ich dagegen anoperierte, bitte, dann sagt es, und ich will hingehen und meinen Kopf gegen die Wand rennen, mir gleich, wo es ist, Kirchhofmauer oder Narrenhausmauer, denn solches wäre reichlich verdient von wegen leichtfertigen Zutragens und Undankbarkeit meinem angeborenen Baas gegenüber. Das wäre zu sagen, Hochwürden. Der Rest bleibt Euch überlassen.«

Er hob den Kopf und sah auf ein Antlitz, aus dem alle Farbe gewichen war.

Der Parochus loci, das zierliche Männchen mit den breiten Schuhschnallen und dem bleiernen Taler auf den Spinnwebhaaren, saß wächsern zwischen den Stuhllehnen, die Augen weit geöffnet und die Hände verkrampft, als hätten sie irgend ein giftiges Ding zu ersticken.

Allmählich trat sein Verstörtsein zurück, seine Ruhe kam wieder, und als wäre das Buch Jesus Sirach plötzlich in seinem Geiste wach geworden, so redete er aus diesem Buche und sagte: »Herberge nicht jeglichen in deinem Hause, denn die Welt ist voll Untreue und List. Fliehe die Buhlerin, daß sie dich nicht fange mit ihren Reizen. Wende dein Antlitz von schönen Frauen und siehe nicht nach den Mägden, daß du nicht entzündet werdest gegen sie, denn solche Weiber haben manchen betöret.« Und seine Stimme nahm an Heftigkeit zu: »Ach, Gott, diese leichtfertigen Nächte! Ein Mann, der seine Ehe bricht und denkt bei sich selbst: Wer sieht mich? es ist finster um mich, und die Wände verbergen mich – wen soll ich scheuen? und weiß nicht, daß die Augen des Schöpfers viel heller sind als Sonne und Sterne . . . ein solcher ist verflucht vor dem Herrn. Es ist viel Wirres in der Welt, Unheiliges, Böses. Ihr aber« – und Ludgerus Hölscher fußte auf seinen Schnallenschuhen wie auf Granit – »hört, was ich sage: Ein treuer Knecht ist besser denn ein Rudel jubelnder Freunde. Er schämt sich nicht, für seine Seele das Recht zu bekennen, denn durch Bekenntnis wird die Wahrheit gezeitigt und seinem Heiland gedient. Er wird für ihn streiten. Ich wollte, ich wäre meinem Gebieter allzeit so ein sorglicher Diener gewesen, wie Ihr es seid, und wollte, ich hätte stets über ihn und sein Eigen also gewachet, wie Ihr es tut – dann wahrlich, ich hätte mich zu den Getreuesten unter seinen Getreuen zählen dürfen. Ihr könnt es. Heute ist Sonntag. Übermorgen um die vierte Nachmittagsstunde werde ich dort sein. Ich habe mit Frau Judith zu sprechen. Schweigt gegen jeden. Auch gegen sie. Erst kurz vor meinem Erscheinen sagt ihr, ich ließe um eine Unterredung bitten. So« – und er trat ans Fenster und öffnete wieder – »die Wände hörten die Sünde, und die Luft ist voll davon. Gottes laulicher Frühlingsodem wird sie vertreiben. Ihm sei die Ehre. Ihr aber, geht beseligt nach Hause. Ihr habt mein Ohr und meinen Beistand gefunden.«

Und Hövelkamp ging, noch ganz verweht und verworren und dennoch gehoben von den Erlebnissen in dieser schweren Stunde.

Als er durch die Dorfgasse schritt, noch immer den altmodischen Hut, das blau und gelb gewürfelte Sacktuch in der gähnenden Tiefe, wie ein Weihwasserbecken vor sich hertragend, wurde zum Hochamt geläutet. Die Leute sahen ihm nach und schüttelten die Köpfe, als er so verloren an ihnen dahinzog, die Vorgärten streifte und bald darauf in die offenen Felder hinaustrat. Hier erst bemerkte er seinen seltsamen Aufzug, mußte selbst in seiner ernsten Verfassung schmunzeln und bekrönte sich eiligst mit dem gesteiften Hasenfell aus längst dahingegangenen Tagen. Aber der aufgesetzte Zylinder tat Wunder. Hövelkamp straffte den Nacken, beflügelte den Schritt, wurde aufgeräumter und hoffnungsfreudiger, so daß es ihm gelang, in der Hälfte der sonst gewöhnlichen Zeit Haus und Hof zu erreichen.

Nichts verriet, was in seinem Innern vorging, wen er noch kurz zuvor in seiner Herzensnot angegangen hatte. Die Beichte war abgelegt, die Zweifel und Anfechtungen hatten ihm nichts mehr zu sagen. Er hatte das Seine getan. Das übrige lag in der Hand eines Höheren. So blieb er denn aufgeräumt bis in den späten Abend hinein und freundlich zu jedem; nur in Gegenwart Johannas stieg ihm das Blut in den Hals, begannen seine Pulse zu klopfen, mußte er an sich halten, um nicht das erste beste Stuhlbein aus irgend einem Schemel zu drehen. Ihre Nähe verwirrte ihn, ihre sanfte und doch üppige Fülle widerte ihn an, ihr gütiges und nonnenhaftes Walten erinnerte ihn an eine reife Frucht, aus der bereits die Spuren des Wurmes sickerten. Er sah in ihr nur noch das Weib, bekleidet mit Scharlach und Rosinfarbe, trunken von der Gunst des Herrn und mit einem goldenen Ring durch die Nase . . . und wiederum spie er aus, vor Ekel und Bitternis. Der Alten wußte er auszuweichen, um ihr nicht Rede und Antwort zu stehen. So kam die Stunde heran, wo die Wolfsspitze revierten und er seinem Herrn den Abendrapport zu erstatten hatte.

Bernd saß übelgelaunt am Kaminfeuer. Die Frühlingstage, so schön sie auch waren, brachten ums Dunkelwerden noch immer ein fröstelndes Lüftchen vom Heideland herüber. Unwirsch warf er einen neuen Kloben auf den nur noch schwelenden Aschenkegel.

»Diese Zucht, so 'ne infame!«

Bei seinem heutigen Spazierritt durch die Hallüh hatte er sich über die unzulängliche Abfuhr der geschlagenen Stämme geärgert. Auch mit der Durchforstung war man im Rückstand geblieben, so daß es fraglich erschien, ob alles angemerkte Holz noch rechtzeitig genug unter Axt und Säge gebracht werden konnte.

»Was Neues?« fragte er Hövelkamp, als dieser langsam die Diele heraufkam.

»Daß ich nicht wüßte, Herr Travelmann. Alles beim alten. Die Ställe besorgt. Die Laternen brennen, wo's not tut. Die Hunde gehen. Gute Wacht ist wie der Stern Gottes.«

»Sonst nichts? Die Hauptsache fehlt noch.«

»Wieso das?«

»Seid Ihr nicht gestern in der Uhlenbrinker Gemarkung gewesen?«

»Allerdings.«

»Und in der Hallüh?«

»Auch das. Die Stellmacherei brauchte eschene Knüppel. Die hab' ich einholen lassen.«

»Und dort nichts bemerkt?«

»Dafür ist mein Auge nicht da. Jedem das Seine, Herr Travelmann. Was des Hofes, der Knechte und Mägde, dafür bin ich gesetzt; für Wald und Abfuhr hat Fritz Garke zu werken. Ich bin nicht willens, dem Mann das Wasser abzugraben. Man soll keinem in die Parade nicht fahren. So will es die Ordnung auf Getter.«

Der Gutsherr streifte ihn mit einem raschen Blick.

»Gut. Und war der Mensch selber zur Stelle?«

»Im Holz war er nicht.«

»Also nicht.«

Er stieß einen Fluch aus.

»Aber so sind diese Kerle. Immer präsent, wenn's gilt, 'nem Krummen eins aufzubrummen. Auch der schwarze Bock ist zum Deibel. Nicht mehr zu spüren. Rehposten haben sie immer mobil. Bei werktätigem Schaffen hingegen . . . Ich warte bis übermorgen. Entweder er besinnt sich auf Pflicht und Schuldigkeit oder: aus mit der Freundschaft!«

»Nichts dagegen zu sagen.«

»Schon richtig. Es gibt auch Ludriane in grüner Montur. Leider! Hab's mir schon bei der letzten Vermessung hinter die Ohren geschrieben. Großartige Aufmachung. Mir gegenüber. Fritz Garke contra Travelmann. Zum Lachen. Außerdem: er hat ein Händchen dafür, den Weibern über die Kruppe zu fahren. Habe gar nichts dagegen. Nur hier in Hof und Haus verbitte ich mir sein dämliches Scharwenzen.«

»Wird schwer halten, Herr Travelmann.«

»Wie kommt Ihr darauf?«

»Weil der Kater das Mausen nicht läßt. Noch in verflossener Woche . . .«

»Was in verflossener Woche?«

»Da es denn sein muß . . . na, gut denn. In verflossener Woche, so ums Schummern herum, da stand er mit Fräulein Johanna am Wehr . . .«

»Hövelkamp, besinnt Euch!«

»Dabei ist nichts zu besinnen. Ich bin nicht wie der selige Tobias und befinde mich noch immer dakkohr mit die Schwalben. Die haben mir bis jetzt noch nicht die Augen verschweinigelt.«

»Was soll das?«

»Ich wollte men sagen, er tat, was er ihr kurz vor der letzten Taxierung besorgte. Dran läßt sich kein Titelchen abdividieren.«

»Und damit kommt Ihr erst jetzt heraus?«

Der Gefragte sah ihn verständnislos an.

»Erst jetzt heraus?«

Die Tuchmütze zerknüllte in den verschwielten Händen.

»Herr Travelmann, der Mann steht nicht unter mein Kuratel, ist überhaupt nicht mein Gusto. Letzteres ist Ansichtssache und hat darüber jedereins selbst zu befinden. Wer nicht angeredet wird, hat's Maul zu halten, vorausgenommen: 'ne Kuh will verkalben oder es stimmt was nicht mit der eingeborenen Kirche. Dann allerdings. Dasselbige ist von der Mamsell zu behaupten. Sie und Herr Garke . . . der schwenkt nicht mehr ab. Wo de Kopp hiärwill, dao mott de Aers folgen

»Lassen wir das!«

»Soll mir angenehm sein, und nur dessentwegen, weil ich gefragt bin . . .«

Der Gutsherr verfärbte sich.

»Aus!«

Ein zweites Scheit polterte nieder.

»Es kommt nur darauf an, wer den längsten Atem behält. Ich meine von wegen der Kraftbetätigung. Er jedenfalls nicht. Basta! und an Eure Adresse gerichtet: Dienstag früh will ich wissen, ob im Jagen 24 die Axt schlägt und weitere Transporte gefördert werden. Aber klipp und klar. Verstanden?«

»Wenn's denn Befehl ist . . .«

»Es wird hiermit Befehl.«

»Dann allerdings. Noch sonst was, Herr Travelmann?«

Bernd winkte ab.

Bedachtsam, wie er gekommen war, verließ Hövelkamp wieder die Diele, machte noch einmal die Runde um den Hof, suchte alsbald seine Schlafgelegenheit auf, las noch ein Kapitel aus seiner Hand- und Hauspostille und schlief dann ein, das ›Vaterunser‹ auf den Lippen, im Traum über eine Frühlingswiese schreitend, voller Maßliebchen, Männertreu und Himmelschlüsselchen.

So ging der Sonntag unauffällig in den Montag hinein.

Mit dem frühesten schaffte er bereits auf den ferngelegenen Außenparzellen, wo drei Gespanne in Tätigkeit waren und vierundzwanzig Weiber sich mühten, die ersten Saatkartoffeln zu legen. Es lohnte sich nicht, Mittag- und Vesperzeit auf dem Hof zu verbringen. Der Weg war zu weit, und für seine und der Leute Zehrung hatte die Gutsverwaltung reichlich gesorgt. Bis Feierabend blieb somit ein gängiges Werken.

Die Luft war wie aus Glas gesponnen. Ein arbeitsames Windchen kräuselte die jungen Halme der benachbarten Roggen- und Weizenschläge. Sie stießen dicht an die Schilfkaupen. Links davon erhoben sich die blauen Nadelpyramiden der Hohen Fuhr, vielfach durchsetzt von sparrigen Eichen, die eben dabei waren, ihre rötlichen Flöckchen aufzustecken. Ein fremdartiges Rauschen kam herüber; mehr ein Tönen von Orgelpfeifen, mit gedämpften Menschenstimmen dazwischen; ungefähr so, als würde in der Kirche von Hiltrup ein Seelenamt gelesen.

Hövelkamp hob zeitweilig den Kopf und horchte auf das verlorene Raunen und Singen. Aber jedesmal rückte er unwillig die Mütze in den Nacken; denn was er zu hören wünschte, blieb in den dunklen Schirmen hängen, als wären Hallüh und Hohe Fuhr ein verschwiegenes Buch mit sieben Siegeln gewesen. Kein Rufen der Art, kein Ab- und Zufahren von Wagen. Nur die Seelenmesse mit Orgelbegleitung dauerte weiter.

»Nichts,« sagte er schließlich, »der Baas hat recht. Die grüne Farbe hat ihre Bonität, aber nicht alle, die sie tragen, können das für sich in Wertschätzung nehmen. Fritz Garke mal gar nicht. Würde er sich um sein Holz kümmern wie um das, was die Weibsbilder unterm Brustlatz haben, der Bock würde vor Fröhlichkeit lammen und die Kartoffeln in den Himmel wachsen. So aber . . . paß Achtung! Der macht noch Molesten; unsereins muß Beobachtung halten. Da ist der Paderborner doch 'ne andre Nummer.«

Ums Dunkelwerden war alles auf den zu bestellenden Äckern im Blei.

Über den blauen Fichten hing der Abendstern.

Kein Menschenwerk hatte den Frieden des Waldes gestört.

Gemächlich trollte man heimwärts. Auch Hövelkamp zog mit hohen Gedanken nach Hause.

»Und der Tag wird kommen, wo der Stellvertreter Gottes unter die Menschen tritt und allen zumißt, was sie verdienen, auf daß Gerechtigkeit werde und die Stillen nicht zu kümmern haben unter der Macht der Gewalttätigen.«

Und der andre Morgen kam, leuchtend wie sein dahingegangener Bruder, taubeperlt und junge Pfirsichblüten im Haar.

Durch die ersten Frühstunden lief ein Ruf wie der eines Cherubs im Paradies: »Haltet Wacht, haltet Wacht!«

Auch Hövelkamp wachte, drüben im Feld, wo er gestern gestanden hatte.

Aber keine Axt ließ sich hören; lediglich das Rumpeln von Wagen.

Als er sich vom Stand der Dinge überzeugt hatte, ging er hin und erstattete Meldung.

Bernd war noch übler gelaunt als am verflossenen Sonntag. Die kurze Unterredung mit seinem Großknecht . . . dessen Ansichten und Auskünfte hatten ihm zu denken gegeben. In ihm stieg etwas auf, das ihn mit den Lichtern eines schleichenden Tieres umlauerte.

»Zum Rapport, Herr Travelmann.«

»Schießt los!«

»Im Jagen 24 läßt der Sägmüller die angesteigerten Nummern durch seine Scharwerker schleifen.«

»Unter wessen Aufsicht?«

»Wird er wohl auf sein eigenes Risiko nehmen.«

»Und Garke?«

»Nicht da.«

»So'n Saukerl! so'n dreimal durchdestillierter! Hasenklever hat Mauke, ist auf halbe Rationen gesetzt, und so ein forstlicher Wichtigmacher nutzt die Zeit, um mit mir Schindluder zu treiben.«

»Kann's mir vorstellen.«

»Da muß ich schon selber . . . um dem Sägmüller auf die Finger zu sehen. Aber der Hund, der nichtswürdige . . . Noch ein letztes, dann weiß er, was die Glocke geschlagen hat. Höher mit dem Brotkorb! Pfui Deibel!«

Er riß ein Blatt aus seinem Notizbuch und schrieb einige Zeilen.

»Das hier an Garke. Aber sofort. Schwarte kann's machen.«

Er sah nach der Uhr.

»Erst zehn. Gegen drei kann ich zurück sein. Wenn nicht, und Garke ist inzwischen angelangt – soll warten.«

»Wird in Auftrag genommen. Adjüs denn.«

Bernd machte sich fertig. Binnen einer halben Stunde war er gespornt und gestiefelt und saß im Sattel.

In scharfer Gangart machte er zuvor eine Schleife, umritt die Mergelgrube, nahm ein gutes Stück der Heide mit, um dann erst in kommodem Trab Richtung auf das Schwarze Holz zu nehmen.

Als die Mittagsglocke läutete, saßen Herrenleute und Gesinde wie gewöhnlich an gemeinsamer Tafel.

Judith sah auf. Sie fixierte Hövelkamp.

»Wo ist der Herr?«

»Hat Unzuträglichkeiten, Madam. Es klappt nicht im Wald. Der Förster ist ihm konträrig geworden, und das mit dem Sägmüller steht auch bloß auf schwaches Pedalen.«

»Also da rappelt's auch schon?«

»Kann immer passieren, Madam. Nur 'n bißchen den Daumen ins Auge und so'n Rambouilletbock verliert sein Strampeln.«

Er lachte kurz auf.

»Das wird der Herr schon besorgen.«

Die Alte warf einen raschen Blick auf Johanna.

Die saß da, das Antlitz wie mit Blut übergossen.

Frau Hille sah still vor sich hin.

Sie nahm keinen Anteil daran, hatte vielmehr ihre eigenen Gedanken, und als Judith bald darauf die Tafel aufhob, das Dankgebet sprach und Knechte und Mägde das Feld geräumt hatten, verließ auch sie die Diele, mit einem freundlichen Gruß gegen die Mutter.

Zwischen Tür und Angel wurde sie von Johanna eingeholt.

»Kann ich irgendwie dienen, Frau Travelmann?«

»Nein, ich bedarf Ihrer nicht.«

Ihr Kleid rauschte über die Gänge.

Judith sah auf.

»Was heißt das, Johanna?«

»Ich weiß nicht; aber so ist die gnädige Frau schon seit Wochen.«

»Ist denn zwischen euch beiden . . .

Keine Antwort.

Hövelkamp trat vor.

»Darf ich unter vier Augen, Madam . . .

»Pressiert's?«

»Ja, es pressiert.«

»Dann bis später, Johanna. Wir sprechen uns noch,« und als das junge, üppige Weib, bekleidet mit Scharlach und Rosinfarbe, die Tür hinter sich hatte, wandte sich die Alte und fragte: »Nun, Hövelkamp?«

»Frau Travelmann,« sagte dieser, »ich hab' 'ne Bestellung zu machen.«

»Ihr an mich?«

»Ja, sie ist an Eure Adresse gerichtet.«

Langsam erhob sie sich zwischen den Lehnen, starr und gerade wie immer, gefaßt und ohne Erregung, obgleich sie die Todesangst, die sich in der Tiefe ihrer stahlgrauen Augen eingenistet hatte, nicht abweisen konnte.

Ihre Linke umgriff das Goldkreuz, das ihr auf der Brust ruhte.

»Hövelkamp,« sagte sie ohne Metall und Farbe, »irgend etwas geht vor. Es ist wie das Klopfen eines Fingers. Ich vernehme es deutlich. Es stimmt nicht auf Getter. Es wurde von hier aus nach Hiltrup getragen, blind und ohne hören zu können. Dort wurde es sehend. Auch die Taubheit ist von ihm genommen. Nun will es zurück, um die Lippen zu öffnen. Ich irre mich nicht. Es geschieht, was geschehen muß. Ludgerus Hölscher weiß um die Sache.«

»So ist es, Frau Travelmann.«

»Hövelkamp, was habt Ihr getan?«

Durch die hohe Gestalt lief ein Zittern und Bangen.

Er stand wie ein Amboß.

Jetzt war seine Stunde gekommen.

»Was ich getan hab'?«

Seine Faust legte sich hart auf die Weste.

»Das, was ich mußte. Seht: da steht das Bild der Mutter Gottes, hoch und rein, irgendwo in der Gnadenkapelle von Roxel, Telgte oder Warendorf, weiß angetan, ohne Makel und Sünde, ein Weib mit der Sonne umkleidet, der Mond unter ihren Füßen, auf ihrem Haupt 'ne Krone von zwölf Sternen. Alle kommen zu ihr, alle beten zu ihr, alle gehen wieder getröstet nach Hause, nachdem sie opferten. Und sie opferten silberne Zeichen, solche von Glaube, Hoffnung und Liebe und andere Spielerigkeiten. Und nun: da kommt jemand geschlichen . . . ganz heimlich . . . während der Nachtzeit . . . und pustet das dünne Licht aus, daß keiner ihn sieht . . . und nimmt der reinen Frau das, was ihr zusteht: das silberne Kreuz, den silbernen Anker, das silberne Herz und jedes, was sie schmückte und was ihre Freude und ihre Seligkeit ausmachte . . . und da soll einer, der mit ansieht, wie der gnadenvollen Mittlerin und Fürsprecherin alles das aus den Händen gemaust wird, aber auch alles – da soll einer nicht den Mut und die Andacht und die Treue besitzen . . .«

Seine Faust dröhnte gegen die Brust.

»Frau Travelmann, ich benenne mich Bernhard Joseph Franz Friedrich Raban Hövelkamp und bin zu Billerbeck geboren . . .«

»Und da seid Ihr nach Hiltrup gegangen?«

»Bin ich.«

»Und habt mit Hochwürden gesprochen?«

»Hab' ich.«

»Und da wird er heute erscheinen?«

»Punkt viere.«

Frau Judith suchte nach Halt.

»Da wächst etwas aus dem Estrich heraus, das ich nicht sehen will und doch sehen muß.«

Ihre Worte krochen am Boden.

»Hat der Herr etwas mit der Sache zu schaffen?«

»Frau Travelmann, erspart mir die Antwort.«

»Hövelkamp, Hövelkamp!« rief sie aus, »es geht um das Höchste und kann in die Schwurfinger kommen.«

»Tut nicht not.«

Sie sah ihn fassungslos an.

»Mich friert,« sagte sie heiser.

Ein wilder Schmerz legte sich breit über ihr entsetztes Gesicht. Sie stand wie verlähmt und schien den eigenen Leib nicht mehr tragen zu können.

Aber nicht lange – und sie war wieder die alte geworden. Alle Schwäche streifte sie ab.

Sie packte die Hand ihres Knechtes.

»Kommt mit!«

Im Rauschen ihres schwarzen Kleides führte sie ihn einige Schritte zur Seite.

Hier blieb sie stehen und warf den Kopf in die Höhe.

»Wer falsch Zeugnis erhebt . . . Dort ist die Bodenluke und unter ihr heilige Erde.«

Ihre Stimme nahm zu.

»Hier wird das schwarze Brett auf die Flachsbrechen geschoben, wenn die Seele fortmacht und die Füße sich strecken, werden Eide geschworen, Knechte in Verpflichtung genommen . . .«

»Und Knechte entlassen, wenn ihr Wort gegen den Herrn steht,« entgegnete Hövelkamp in seiner entschlossenen Ruhe. »Mein Gewissen kann ich jederzeit aufs Inlett legen. Es schläft wie'n Toter, ohne Beunruhigung, ohne mit der Wimper zu zucken. Alles Weitere hab' ich in Betrachtung genommen. Schon gestern ist der Abschluß verfertigt. Schwarz auf Weiß. Saatkartoffeln, Löhne, Roggen- und Weizenabgang, dito für Geschirre und Haferbemessung – jedes hat seine Rechnung gefunden. Kein Spielchen fehlt dran. Bleiben zu meinen Gunsten noch sechsundzwanzig Taler drei Silbergroschen. Ich bin immer parat. Heißt es: du bleibst! Gut, es soll mir 'ne Ehre sein, auf Getter weiter zu dienen. Heißt es: da ist die Türe! Gut, auch das nehme ich hin, obgleich es mir schwer wird, von 'ner Stätte zu müssen, wo ich zwanzig Jahre hindurch meine Füße unter den Tisch setzte. Aber ich gehe und finde auch wohl 'ne andre Bekömmnis. Ich trage keine Bange um mich, wenn's nur hier wieder den richtigen Gang geht und die liebe Frau das zurückbekommt, was ihr richtiges Eigen: das silberne Kreuz, den silbernen Anker und das silberne Herz, wenn auch nicht so rein und blank mehr wie früher.«

Über Judiths Wangen träufelte ein helles Wasser.

»Ich danke Euch, Hövelkamp. Geht zeitig Hochwürden entgegen und führt ihn in das kleine Zimmer neben der Diele, wo wir allein sind.«

»Gott helfe uns allen!« sagte der stille Mann und wischte sich über die Augen.

Schon lange vorher suchte er den schmalen Fahrweg ab, der von Hiltrup heraufführte.

* * *

Wie alles und jedes so kleinlaut war, so ohne Heiterkeit, als hätte das Leben da draußen den Kranz der Freude abgelegt und sich welke Kirchhofsblumen um die Stirne gewunden. Die weißen Bäume verloren ihr heimeliges Säuseln. Keins von ihren grünen Herzchen legte sich auf die andre Seite. Das Ried schauerte ängstlich zusammen. Wohin man auch hören mochte: keines Vogels Stimme ließ sich vernehmen, kein fernes Rufen vom Walde her, und war doch noch vor einer halben Stunde ein Musizieren gewesen wie bei den Bremer Stadtmusikanten, hie und da etwas unausgeglichen und noch nicht ganz auf der Höhe, aber doch so, daß man der Tage gedachte, wo sich das Frühlingskonzert in seiner ganzen Reinheit und Fülle entfalten würde. Gottes Sonne stand noch hoch unter dem Himmelreich, das Schimmern der jungen Saatäcker war dasselbe geblieben, die hellen Spitzen der Stachelbeersträucher hatten nichts von ihrem Glitzern eingebüßt, und dennoch dieses kränkelnde Dasein, wie mit Theaterschminke aufgeputzt, kalt und verödet. Man konnte dabei an einen Komödianten denken, der mitten in seiner muntersten Rolle stecken geblieben, wehleidig seinen bunten Flitterkram betrachtete. Nirgends ein vergnügliches Plaudern. Selbst nicht zwischen Ställen und Scheunen. Der Hof war menschenleer. Außer dem Stellmacher, dessen Sägen und Hämmern monoton dahinsockte, der Küchenmagd und Jans Schwarte, der von seinem Botengang zurück, an der Häckselmaschine hantierte und auf die Heimkehr seines Herrn wartete, hatte sich das ganze Personal auf die Felder begeben, teils in der Nähe, teils mehr der Grenze zu, wo die eingemieteten Runkelrüben noch der Abfuhr harrten. Unter den Lebensbäumen eines verwahrlosten Friedhofes konnte es nicht weltverlorener sein, nicht abgekehrter, nicht so mit einer Karfreitagsstimmung umkleidet, als hier inmitten der grauen Mauern, Geschirrkammern und Wirtschaftsgebäude, wo nur das Ärgernis atmete und dann und wann das verlorene Klingen der Halfterketten herübertönte, und hätte irgendwo ein Feuer geknistert, sein Rauch wäre wie ein schwarzes Tuch über das Anwesen hingegangen, um die große Leere noch sinnfälliger zu gestalten.

Eine Stunde später.

In der kleinen Stube dicht neben der Diele saßen Frau Judith und Ludgerus Hölscher sich hart gegenüber, die Alte vornübergebeugt, die Hände auf den Knien, den Krückstock zwischen den kreidigen Fingern – so kauerte sie, die Augen am Boden, als wenn dort etwas zu suchen wäre, und malte allerlei Zeichen in den weißen Streusand, der die Fliesen des Zimmers bedeckte.

Minuten auf Minuten vergingen.

Sie schwieg.

Der alte Herr räusperte sich. Steif und nachdenklich sah er auf seine Schuhschnallen, die im einfallenden Sonnenlicht blinkten. Auch er konnte das Wort nicht finden, nicht die Brücke aufbauen, um auf ihr wieder Halt und festes Land zu gewinnen.

Dann ein schweres Aufseufzen.

»Hochwürden . . .

»Nun, meine liebe Frau Travelmann?«

Judith hob langsam den Kopf.

»Wiederholen Sie nochmals die Stelle,« sagte sie hilflos, »die Sie mir damals klarmachten, als Altrogge begraben wurde.«

Ludgerus winkte ab.

»Warum das? Es bringt nur unnötiges Grübeln. Das Unglück ist nun einmal geschehen. Daran ist nichts mehr zu ändern. Wollen wir nicht lieber das Vergangene vergangen sein lassen und mehr der Zukunft gedenken?«

»Nein, nein, Hochwürden, ich möchte die betreffende Stelle.«

Um die Lippen des geistlichen Herrn legte sich ein schmerzliches Lächeln.

»Wenn es nicht anders sein kann,« lenkte er bekümmert ein, »so mag es denn statthaben. Vielleicht ist es die: Ich will nicht exemplifizieren, sondern nur sagen: man trägt nicht gerne gieriges Feuer und straffgebündelte Garben in ein und dieselbe Scheuer zusammen.«

»Nein, Hochwürden, die meine ich nicht. Wenn ich nicht irre, ist es ein Passus aus dem ›Miserere‹ gewesen. Wie lautet die Stelle?«

»Sie meinen: in iniquitatibus conceptus sum, et in peccatis concepit me mater mea. In Missetaten bin ich gezeugt, und in Sünde empfing mich meine Mutter.«

»Die ist es, und Sie folgerten daraus auf Mutter und Tochter?«

»Ich tat es.«

»Darf ich wissen, wie Sie es taten?«

»Sie war schön, diese Frau, aber nicht wachsam. Das Öl der Begierde brannte auf ihrer Lampe, aber nicht das der Keuschheit und das der Sitte. Wäre Altrogge ein andrer gewesen, arbeitsamer, weniger gewalttätig, hätte er im Weibe mehr das Weib geachtet, möglich, die Frau wäre zur Einsicht gekommen. So aber: die drei Kiefern bei ihrem Kotten haben die sündige Flamme gesehen. Auch die Schonung nebenan und die weißen Birken in ihrer Unschuld, und die Frage liegt nahe: konnte sich diese Begierde nicht auf die Tochter vererben? In peccatis concepit me mater mea.«

»Und das haben Sie mir alles dargelegt und auseinandergesetzt, so wie Sie es jetzt taten, in dieser Stunde, Hochwürden?«

»Genau so, Frau Travelmann.«

»Und ich . . . und ich . . .?!«

Die Alte stieß sich mit der welken Faust vor die Stirne.

»Und ich – nachdem Sie mir das Licht der Erkenntnis anzündeten, ich ging hin und mißachtete das Licht und trat es aus und wähnte, durch eine Helle zu schreiten, die eitel Finsternis war. Nichts vergeht. Alles kommt wieder. Auch die eigene Torheit. Hahaha!« lachte sie auf, »der Vater ist tot, die Mutter ist tot. Nur eine Waise ist übrig geblieben. So sagte ich damals und vermaß mich, den Wächter auf Sion zu spielen.«

Sie wütete gegen sich selbst.

Durch eine jähe Bewegung war auch an ihrer rechten Schläfe eine Strähne niedergefallen.

Mit beiden Händen packte sie das gelöste Haar und zog es herunter. Ihr Gesicht stand in diesem Rahmen wie das einer Verzweifelten, der nichts übrig blieb, als sich in das erste beste Wasser zu stürzen.

»Mein Gott und mein Heiland! und ich vermaß mich, den Wächter auf Sion zu spielen. Den Wächter auf Sion! – ich Närrin . . .

Ludgerus Hölscher grauste es.

»Wollen Sie nicht Rücksicht nehmen auf sich und Ihre Umgebung? Nichts auf Erden ist rettungslos dem Untergang anheimgefallen. Die Gnade des Ewigen leuchtet auch in die dunkelste Tiefe. In ihm wohnt die Nachsicht. Er verläßt Sie nicht und wird das zerrüttete Heim wieder so traulich machen wie die Stube in Bethanien.«

»Wo das alles passiert ist? Hier unter den Sparren . . . in diesem Hause . . . wo Hille . . .?!«

Ihre Worte versteinten, wurden hart wie Kiesel.

»Nicht die da, die Dirne – ich bin die Schuldige, und wenn meine Stunde gekommen, wenn sie mich aufbahren werden, dicht nebenan, auf der Diele, wo alle hingehören, die auf der Getter lebten und starben – aus der Bodenluke kommt eine Stimme herunter: Was will Judith Travelmann auf geweihter Stätte? Fort mit ihr! Verflucht sei die Närrin! und wenn sie mich dann hinaustragen, die sechs mit den schwarzen, abgeschabten Röcken und den glattrasierten Gesichtern, werden dann die Leute nicht sagen . . .«

Ihre Lippen zogen grausame Fältchen.

»Hochwürden – Sie . . . heben Sie die Hand wider mich auf! Ich verdiene es reichlich.«

Ihr Kopf sank nach vorn, und abermals zeichnete sie Runen in den weißen Sand, dabei vor sich hinmurmelnd, als spräche sie mit irgendeinem wildfremden Menschen.

Ludgerus Hölscher rückte den Stuhl näher heran.

»Frau Travelmann, so geht das nicht weiter. Das heißt Gott versuchen. Ich sagte schon eben: das Unglück ist nun einmal geschehen. Daran ist nichts mehr zu ändern. Aber unsre Pflicht ist es, ihm die Spitze abzubrechen, es in stillere Bahnen zu lenken. Ich bin nicht gekommen, Wunden zu schlagen, sondern geschlagene Wunden zu lindern, ihnen Heilung zu bringen. Jetzt gilt es, unsre fünf Sinne zusammenzuhalten, das Gröbste aus dem Wege zu räumen und womöglich einer ersprießlichen Lösung die Tore zu öffnen. Eigene Anklagen frommen hier nicht und führen nicht weiter. Seien Sie wieder die Starke, die Travelmännin, die Sie vor einer Stunde noch waren. Ich bin weit davon entfernt, mich hier in der Rolle eines Predigers, eines rücksichtslosen Eiferers behaglich und wohl zu fühlen. Das steht mir nicht an, ist nicht in meinem Katechismus geschrieben. Hier sind Worte nur ein klingendes Metall. Weiter nichts. Handeln ist nötig. Helfen Sie mir! Überwinden Sie sich selbst! Lassen Sie die Vergangenheit ruhen! Machen Sie sich keine Selbstvorwürfe. Warum das? Was Sie taten, geschah aus reinster Menschen- und Nächstenliebe heraus, und wenn Sie fehlgingen – das Gutgewollte zählt und nicht die Folgen, die sich daraus ergeben. Ihre Hände können die Hostie heben, so rein sind sie, so fern jeder Besudelung.«

»Hochwürden, Hochwürden . . .

Sie sah ihn fassungslos an.

»Meine Haare sind grau, sind in Ehren ergraut, und nun weiß ich nicht: soll ich Mordio schreien oder auf meinen Knien nach Billerbeck oder Kevelaer rutschen?!«

»Sie sollen Ruhe bewahren, um den Skandal zu vermeiden. Das ist erste Bedingung.«

»Und er . . . mein Sohn . . . der sich an seinem Weibe verfehlte . . .?!«

Ihre Blicke waren hungrig auf Ludgerus Hölscher gerichtet.

»Ich verfluche nicht. Ich verdamme nicht. Homo sum. Wir gehen alle durch Sünde. Aber ich verzeihe auch nicht. Das kann nur eine. Nur dieser steht es zu, die eheliche Gemeinschaft aufrechtzuhalten, Herd und Haus zu schirmen und das tröstende Wort ›Verzeihung‹ durch diesen Sumpf von Irrungen und Wirrungen zu tragen. Noch weiß sie es nicht, und ich hoffe zu Gott, sie wird es niemals erfahren – allen zum Heil; denn sonst wird es ein mühseliges Schreiten durch eine unermeßliche Sand- und Steinwüste, bis der lautere Quell sich findet, an dem beide genesen. Geschieht es nicht, wird sie wissend, auch dann gebe ich die Hoffnung nicht auf, denn Ehen werden im Himmel geschlossen, und der sie schließt, ist unser Erlöser, der Allerbarmer. Er wird weiter helfen, nicht scheiden von Tisch und Bett und schließlich das unsagbar Traurige zu einem ersprießlichen Ende führen. Aber eins tut not . . .«

Und der geistliche Herr legte seine Milde ab, bekleidete sich gleichsam mit rauhem Gewand und gürtete seine Lenden mit hanfener Schnur. Ludgerus Hölscher, der auf seinen einsamen Spaziergängen sich freute, wenn er vor sich hinmurmeln konnte: »Laudate Dominum, omnes gentes; laudate eum, omnes populi . . . omnes colles et montes,« der sich rühmte, seine kleine Gemeinde in linder Besonnenheit und Einfalt ad limina apostolorum zu führen, derselbe Ludgerus Hölscher wurde plötzlich zu einem streitbaren Bekenner, zu einem Gebieter, einem Rufer in Kampf und Not, denn seine Rechte ballte sich zur Faust, polterte auf den Tisch, und sein Wort befahl wie das eines Dominikaners von der Kanzel herunter: »Aber eins tut not. So dich ein Auge ärgert, reiße es aus! So da eine Schlange aufzischelt, zertritt ihr den Kopf! Der Tempel, wo ein edles Weib als Priesterin waltet, duldet nichts Unreines. Hier – aus diesem Haus muß die Sünde und mit ihr die Sünderin. Ihres Bleibens ist nicht länger auf Getter. Ich täusche mich nicht. Zurzeit ist sie wie eine Kamelin in der Brunst und wie ein Tier in der Wüste, das niemand' aufhalten kann. Und diese Kamelin . . . ihr ist nur noch zu helfen, wenn ihr von christlichen Händen Zaum und Zügel angelegt werden, und hätte ihre Mutter solche gefunden, es wäre anders bestellt um sie und die Verlorene. Warten wir ab. Noch ist nicht das letzte Wort gesprochen. Es könnten sich Dinge begeben, die sich wie Öl über das aufgepeitschte Wasser legen. Warten wir ab,« und er löste die hänfene Schnur und entsagte des härenen Gewandes. Er war wieder der beschauliche Berater und Seelsorger geworden. »Hören Sie weiter! Einer war bei mir, bevor noch Hövelkamp sein bedrängtes Herz vor mir ausschüttete, einer aus meinem engern Kirchensprengel. Er rief mich um Vermittlung an, um Beistand gegen den Hausherrn. Ich wies ihn ab, obgleich sich während der Unterredung Zeichen erhoben, die mir zu denken gaben. Allein ich hatte vor der Hand das Recht nicht, diesen Zeichen nachzugehen und sie auszumünzen. Jetzt aber . . . Christus regiert! Vielleicht weist er uns den Weg, der uns aus dem grauen Tal der Tränen leitet. Doch später hierüber. Die Hauptsache bleibt« – und seine Stimme nahm wieder an Schärfe zu – »unter möglichster Schonung der Heimgesuchten, der Seelsorger hat mit Johanna, die Mutter mit dem Sohn zu reden, und wenn Sie wollen: auch ich bin erbötig, in eigener Person . . .«

»Ich will selber, Hochwürden.«

Judith stand neben ihm, hochaufgerichtet, die Unbeugsame, die Zugreifende, das Weib, wie aus der Legende genommen.

»Ja, ich will selber, Hochwürden.«

So stand sie, als sich plötzlich ihre Züge veränderten.

Draußen war das Gestampf eines Pferdes, das Geräusch von erregten Stimmen.

Sie trat ans Fenster und sah über den Hof fort.

Sie hörte: »Also doch. Das war auch geraten. Es ist schon besser: der Berg kommt zum Propheten, als umgekehrt. Sie hat wohl der leibhaftige Satan geritten . . .«

»Herr Travelmann, wollen wir das nicht lieber unter uns alleine besprechen? Ich bin doch kein Lump nicht.«

»Wie Sie wollen. Also dort hinein! Kommen Sie mit!«

Noch ein leises Sporenklirren; dann Stille.

Die Alte trat zurück.

»Bernd ist retour,« sagte sie schaudernd.

»Wer ist bei ihm?« fragte Ludgerus.

»Der Förster . . . auch Hövelkamp war in der Nähe. Meine Stunde ist da.«

Sie nahm ihren Krückstock.

»Wohin wollen Sie?«

»Zu ihm.«

Er vertrat ihr den Weg.

»Jetzt nicht. Ich will nicht. Ich verbiete es Ihnen. Erst später. Greifen wir nicht vor. Möglich: es erfüllt sich und drängt nach Entscheidung, was der Erfüllung und Entscheidung bedarf.«

Frau Judith schüttelte traurig den Kopf.

»Wie Sie meinen, Hochwürden.«

Sie ließ sich in die Kissen zurückfallen.

Durch die hellen Gardinen fielen die rosigen Flöckchen des jungen Abendlichtes.

 


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