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Günther wußte, daß Suse jeden Vormittag um elf Uhr zum Unterricht in das Atelier der Malerin Grete Berger ging. Es lag in nächster Nähe der Röhrenschen Villa.
Suse auf der Straße zu erwarten, war unmöglich. Das sagte ihm der Takt. Und doch war es seine Pflicht, zu handeln; auf der Stelle! Denn zögern hieße in diesem Falle: seine Schuld gegenüber Suse vergrößern. Da er sich keinen andern Rat wußte, so schrieb er ein paar Zeilen an Frau Röhren, ein paar Zeilen, denen er offen einen Brief an Suse beilegte.
Sehr verehrte gnädige Frau!
Bitte, erregen Sie sich nicht, wenn ich mich Suses wegen an Sie wende. Mir, dem das Herz so schwer ist, ist bei einer Gelegenheit, der aus dem Wege zu gehen ich nicht die Kraft fand, der Mund übergegangen. Ich habe mich Suse erschlossen!
Ich weiß heut', daß ich es nie hätte tun dürfen. Nicht nur, weil besondere Verhältnisse, die wir ja alle kennen, es mir verbieten; vielmehr aus Gründen, die in meiner Person liegen und schwerer wiegen. – Ich habe mich damit um Ihr Vertrauen gebracht. Aber Sie würden mich milder beurteilen, wenn Sie wüßten, wie hoffnungslos es in mir aussieht.
Ich schicke den Brief an Suse offen. Bitte, verfügen Sie darüber. Ich will nur eins: ihr so wenig Schmerz bereiten, wie möglich. Und ich weiß, daß ich das am sichersten erreiche, wenn ich alles in Ihre mütterlichen Hände lege.
In tiefer Verehrung
Günther Raffke.«
Und in dem Brief an Suse stand:
Ich habe Ihnen gegenüber gestern, stark beeindruckt von der ersten Begegnung nach so langer Zeit, Worte gebraucht, aus denen Sie schließen mußten, daß ich aus meiner Neigung für Sie das Recht herleite, eines Tages vor Ihre Eltern hinzutreten und sie um Ihre Hand zu bitten. Ich wünschte heute, ich hätte diese Worte nie gesprochen. Ich bedaure sie.
Folgen Sie in allem dem Rate Ihrer Mutter. Vergessen Sie mich! Wir werden uns nie wiedersehen.
Ich gehe an eine süddeutsche Universität und erhoffe aus der Arbeit und Leistung eine Erleichterung meines Gewissens. Meine Ruhe aber werde ich erst wiederfinden, sobald ich weiß, daß Sie Ihr Leben einem Menschen anvertraut haben, der Ihrer würdig ist.
Wenn Sie dann eines Tages hören, daß man mit Anerkennung von mir spricht, bitte, sagen Sie sich, daß alles, was ich tat, in dem Gedanken an Sie geschah. Denn mein Leben kennt von heut' ab nur noch einen Zweck: mir Ihre Achtung wieder zu erringen.
Von bestem Willen beseelt, wünsche ich Ihnen alles Gute!
Günther.«
Röhrens nahmen sich mit großer Liebe ihres Kindes an. Sie sagten kein böses Wort über Günther.
»Wir wollen ihn nicht verurteilen,« sagte Frau Röhren, »denn wir kennen die Gründe nicht. Wir haben auch kein Recht, in ihn zu dringen. Aber daß es dein Glück gewesen wäre, Suse, glaube ich nicht.«
Suse sagte kein Wort. Sie saß, die Augen weit aufgerissen, wie vor einem Wunder, das man zu begreifen sucht, und das einem, je mehr man darüber nachdachte, nur immer unverständlicher wurde.
»Auch für ihn ist es besser,« meinte Röhren. »In ihm gärt noch alles! Nichts ist ausgereift. Er sieht und vergleicht. Unzählige einander widerstrebende Gefühle sind in ihm. Zu Hause hat er keine Seele, die Verständnis für ihn aufbringt. Kein Wunder, daß er, sobald er empfindsamen Menschen begegnet, sich angezogen fühlt. Ich bin von seinen Qualitäten überzeugt. Gewiß, sie können auch zum Schlechten ausschlagen. Aber das alles ist eben noch ganz unklar. In ein, zwei Jahren, da denkt er ganz anders. Und wir müssen froh sein, Suse, daß er von selbst so viel Einsicht aufbringt und dich und sich und uns alle nicht in Konflikte hineintreibt, die unausbleiblich wären. – Aber Kind,« wandte er sich zu Suse und legte seinen Arm um sie, »du hörst ja gar nicht zu.«
»Ich kann nicht, Vater!« sagte sie und schüttelte den Kopf. »Von allem, was er schreibt und was ihr sagt, verstehe ich nichts. Ich weiß nur, daß ihr alle es gut meint. Aber wie ist es dann möglich, daß mir so schwer ist – und daß ich nicht weiter kann?«
Röhrens erstaunten, wie tief die Neigung ihres Kindes war. Sie wandten alle Liebe an. Aber sie merkten bald: sie vermochten nichts auszurichten.