Artur Landsberger
Raffke & Cie.
Artur Landsberger

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Siebentes Kapitel

Die erste Nummer der »Neuen Gesellschaft« erschien in einer Auflage von zweimalhunderttausend Exemplaren. Große Anschläge an den Litfaßsäulen bereiteten das Publikum seit Tagen auf das Erscheinen dieses neuen »unabhängigen, nationalen« Wochenblattes vor. Die Geschäftsautomobile von Raffke & Cie., die sonst Konserven, Felle und Decken beförderten, rasten mit Riesenplakaten durch die Straßen, erlitten künstlich Pannen, störten absichtlich den Verkehr und verursachten an den lebhaften Plätzen und Straßenkreuzungen Menschenansammlungen. Händler mit bunten Mützen und Schärpen standen mit Riesenstößen von Zeitungen an den Rändern der Bürgersteige und riefen laut »Die Neue Gesellschaft« aus. Radler in allen Farben fuhren in langen Reihen durch die Straßen und lenkten durch fortgesetztes Läuten das Publikum auf die bunten Farben, die sie kerzengerade in den Armen hielten und auf denen in großen Lettern die Worte standen: »Lest die Neue Gesellschaft!« Auf jeder elektrischen Bahn vorn und hinten und auf jedem Omnibus stand ein Dienstmann, der auf Brust und Rücken ein Plakat mit dem Namen des neuen Blattes trug. Übertrieben auffällig und elegant gekleidete Damen und Herren gingen, die »Neue Gesellschaft« lesend, durch die belebtesten Straßen, saßen in die Lektüre vertieft in den Untergrundbahnen und Stadtbahnzügen oder unterhielten sich auch laut über die neueste Sensation, die, wenn man näher zuhörte, nichts anderes als die erste Nummer der »Neuen Gesellschaft« war. Auf den Tiergarten-Bänken, auf allen belebten Plätzen, im Lustgarten, durch den zur Mittagszeit die Börsianer stürmen, saßen reizvoll gekleidete junge Mädchen mit übereinandergeschlagenen Beinen und lasen die »Neue Gesellschaft«. An allen Kinotheatern der Stadt prangte breit über dem Eingang ein Plakat, auf dem stand: »Abonnenten der Neuen Gesellschaft zahlen die Hälfte!« In den besseren Restaurants lagen Probenummern auf den Tischen, auf den Rennen verteilten halbwüchsige Burschen, die man in ihrem Dreß für Stalljockeis hielt, auf allen Plätzen ohne Entgelt in geschlossenen Kuverts »Die letzten Tipps der Neuen Gesellschaft«. In den Theatern überreichten weißgekleidete, junge Damen Gratis-Ansichtskarten mit den Bildern der Hauptdarsteller. Auf der für die Adresse bestimmten Seite standen die Bezugsbedingungen der »Neuen Gesellschaft«. In den zehn größten Sälen Berlins sprachen für hohes Honorar bei freiem Eintritt bekannte Publizisten und Dichter über das Thema: »Was will die Neue Gesellschaft?!« – Die gesamte Regie lag in Leos Händen. Das ganze Personal der Firma Raffke & Cie. war aufgeboten. Alles stand an dem Erscheinungstage in dem Dienst der Propaganda. Die Tippverteiler auf der Grunewaldbahn spielten die Lehrlinge, die koketten jungen Mädchen mit den übergeschlagenen Beinen gaben die Bürodamen, die eleganten Herren waren die Geschäftsreisenden und Verkäufer. Kurz: jeder wirkte für sein Teil mit, daß es am Abend des Erscheinungstages keinen Menschen in Berlin gab, der nicht von der Existenz der »Neuen Gesellschaft« wußte. Zweimal mußte ein Nachdruck erfolgen und auf der zweiten Nummer stand: Auflage 350 000 Exemplare.

Aber auch sonst hatte man sich diese erste Nummer etwas kosten lassen. Den Leitartikel, der eine Art Programm war, hatte ein Gelehrter mit klangvollem Namen geschrieben. Unter der Devise freiester Entfaltung der Individualität schien das Blatt den Kampf für Menschenrechte und persönliche Freiheit führen zu wollen. Aber wer lesen konnte, fühlte schon bei der Lektüre dieses Erfüllungsartikels, daß sich die Freiheit, die man meinte, nicht auf die Allgemeinheit, sondern auf einige wenige bezog, daß es die kapitalistische Macht war, für deren freie Entfaltung man kämpfte. Schon die nächsten Nummern bekannten sich ganz offen zu dieser Herrenmoral, ließen aber dem Leitartikel in der nächsten Woche regelmäßig einen Aufsatz aus scheinbar gegnerischem Lager folgen. Man konnte die beiden Weltauffassungen, die sich hier anscheinend gegenüberstanden, in die Worte fassen: »Schutz den Reichen« und »Schutz den Armen«. So wurde der Schein der Unparteilichkeit gewahrt, zumal Licht und Schatten gleichmäßig verteilt schienen. Und alle diese, auch im Stil merklich voneinander verschiedenen Artikel, Repliken, Dupliken stammten aus der Feder Alfreds, des Assessors, der nicht nur ein Talent, sondern auch ein großer Filou war.

Für ihn war dies Blatt nur Mittel zum Zweck. Er sagte sich, daß der Weg zum Reichtum nicht unbedingt über Felle und Konserven führe. Es gab auch andere Möglichkeiten, um ein reicher Mann zu werden. Wege, die bequemer waren und sozial emporführten, während dem Handel seines Schwagers Leo, wenn er auch in großem Stil betrieben wurde, doch immer etwas Jobberhaftes anhaftete.

Es waren nicht nur Informationen, die er sich von den Industriegewaltigen holte. Er war sehr bald ihr Vertrauensmann, ohne daß eine Abrede oder gar eine kontraktliche Bindung erfolgt wäre. Es fand sich immer ein Vorwand für einwandfreie Erkenntlichkeit.

Ja, Alfred verstand sein Geschäft und sammelte Beziehungen, Einfluß und Reichtum, ohne Leo, seinen Verleger, dadurch zu schädigen.

In anderer Form nutzte der Oberlehrer Professor Sasse seine Macht. Er war ganz Idealist, überzeugter Verfechter des Humanismus, und machte sein Ressort zu einem Sammelpunkt, von dem aus alle Gesinnungsgenossen gegen die Reformbestrebungen des alten Gymnasiums fochten. Den Einwendungen des Assessors gegenüber, doch auch die andere Richtung zu Worte kommen zu lassen, zeigte er sich taub und kämpfte sich in einen solchen Haß hinein, daß sich der deutschen Lehrerschaft eine große Erregung bemächtigte. Die hatte erstmal zur Folge, daß Anhänger und Gegner sich um das Blatt rissen; die einen aus Liebe, die andern aus Haß; dann aber sich zu einer Organisation zusammenschlossen, deren alleiniger Zweck es war, die Bestrebungen, die »Die Neue Gesellschaft« auf pädagogischem Gebiete vertrat, zu bekämpfen.

Der Professor verrannte sich, durch die Opposition gereizt, immer mehr in seine Idee, die ihn bald Tag und Nacht verfolgte und nicht mehr los ließ. Er wurde Monomane und vernachlässigte schließlich im selben Maße seinen Beruf, den Unterricht am Gymnasium, wie Fiffi, seine Frau. Das hatte zur Folge, daß Schulbehörde und Frau sich gegen ihn auflehnten, indem beide für die Pflichten, die er vernachlässigte, Ersatz suchten und fanden.

Daneben betätigte sich Fiffi aber noch auf andere Weise. Sie schrieb Modeberichte für die »Neue Gesellschaft«, erschien bei Premieren, Rennen, Concours hippiques in den prachtvollsten Kleidern und galt bald bei den Damen beider Welten für tonangebend in allen Toilettefragen. Jede Frau, die auf sich gab, las Fiffis wöchentliche Modeschau in der »Neuen Gesellschaft«. Fiffi aber wurde nach ihrem Scheidungsprozeß, den sie wegen Vernachlässigung der ehelichen Pflichten von seiten ihres Gatten anstrengte und gewann, die mondänste Frau Berlins. Und da sie die wirksamste wandelnde Reklame für die »Neue Gesellschaft« war, die nirgends fehlte und überall auffiel, so war am Ende auch weiter nichts dabei, wenn Leo gut auf sie zu sprechen war und den sehr hohen Etat ihres Lebensunterhaltes bestritt.

Und der Maestro? Auch dieser kleine Violinlehrer aus dem Neapolitanischen, den eine liebestolle Gräfin einst auf ihrer italienischen Reise in einer Straße Salernos aufgelesen und aus einer Laune heraus mit nach Berlin genommen hatte, wo sie ihn dann, seiner überdrüssig, Leuten aufgehalst hatte, die auf ihren Namen flogen – auch dieser Maestro machte durch dieses Blatt sein Glück.

Jedenfalls: »Die Neue Gesellschaft« war ein Blatt, das in allen Teilen gut unterhielt und in gleicher Weise Verleger, Mitarbeiter, Leser, Inserenten und – Cäcilie befriedigte. Sie sah darin nichts anderes als ein Werkzeug für Günthers Ruhm, für den es den Boden vorbereiten und den es zur gegebenen Zeit verkünden sollte. –

Der Maestro saß, die Hände über der Brust gefaltet, die Zigarre im Mund, zurückgelehnt in seinem Klubsessel und nahm den Vortrag eines bekannten Berliner Musikverlegers entgegen, der ihn veranlassen wollte, das Vorwort für seinen Verlagskatalog zu schreiben.

»Ich wüßte niemanden,« schloß der Verleger, »der würdiger wäre, ein abschließendes Urteil über meine Verlagstätigkeit zu geben, als Sie.«

Der Maestro nahm das wie etwas Selbstverständliches hin.

»Sie wissen,« sagte er, »wie sehr ich mit Arbeiten überhäuft bin. Die Erfüllung Ihrer Bitte setzt natürlich ein gründliches Studium Ihrer sämtlichen Verlagswerke voraus, denn ich kann nicht über Dinge urteilen, die ich nicht kenne. Eine Fülle anderer Arbeit muß dadurch liegen bleiben.«

»Es versteht sich, daß ich das bei der Honorierung berücksichtige.«

»Bitte,« wehrte der Maestro ab, »wenn ich die Arbeit übernehme, so tue ich es ausschließlich im Interesse der Kunst, in deren Dienst ich nun einmal mein Leben gestellt habe. Geld dafür zu nehmen, lehne ich ab.«

Der Verleger glaubte falsch zu hören. Er sah ganz ängstlich zu dem Maestro auf und sagte:

»Ja . . . dann . . . verreißen Sie am Ende gar die eine oder andere meiner Opern und Operetten?«

»Ich schreibe, wie mein künstlerisches Gewissen es von mir verlangt.«

»In diesem Falle würde ich es vorziehen, falls etwa das eine oder andere Werk Ihren Beifall nicht findet . . .«

»Das ist wohl möglich.«

». . . . das betreffende Werk dann lieber nicht mit in den Katalog aufzunehmen.«

»Darüber wäre zu reden. Jedenfalls, die Arbeit bliebe dieselbe.«

»Und bis wann darf ich auf das Manuskript rechnen? Das gesamte Material geht noch heute an Sie ab.«

»Ich teile es Ihnen mit.«

Der Diener legte einen ganzen Stoß von Besuchskarten auf den Tisch und meldete, daß der Warteraum voll von Menschen sei.

»Sie sehen,« sagte der Maestro und stand auf.

Der Verleger verabschiedete sich.

»Übrigens,« sagte der Maestro, als der Besucher gerade die Hand auf die Klinke legte, so nebenbei: »Sie wissen, ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, jungen Künstlern vorwärts zu helfen. Das geht natürlich auf Kosten meiner Berufsarbeit. Wer mir den Ausfall ersetzen hilft, tut den Künstlern Gutes.«

»Aber natürlich!« rief der Verleger freudig und erriet sofort den Zusammenhang. »Wenn ich Ihnen für diese Zwecke zehntausend Mark überweisen darf?«

»Es ist meine Pflicht, sie anzunehmen,« erwiderte der Maestro.

Eine kurze Verbeugung beiderseits, dann ging der Verleger hinaus.

Der Maestro aber rief seine Stenotypistin und diktierte ihr, noch bevor er das Material hatte, einen Artikel für den Verlagskatalog, der nichts und alles sagte, jeden Direktor aber, der ihn in die Hand bekam, überzeugte, daß die hier angekündigten Werke ihn auf lange Zeit hinaus aller Repertoiresorgen enthoben. Für die Einfügung der Namen der Opern und Operetten ließ er Raum offen und befahl der Stenotypistin, das Diktat abzuschreiben und ihm in vierzehn Tagen wieder vorzulegen. Er unterzeichnete aus Utilitätsgründen, wie er dem Verlage später schrieb, nicht mit seinem Namen, sondern mit Severus. Und die Zukunft lehrte, daß sich die »Neue Gesellschaft« der Werke dieses Verlegers mit ganz besonderer Liebe annahm.

Als der Maestro seinen Artikel fertig hatte und eben die erste Dame aus dem Warteraum zu sich bitten ließ, platzte, unangemeldet wie gewöhnlich, Frau Cäcilie in sein Bureau.

»Also, bester Maestro,« begann sie und schmiß sich in den Klubsessel, der seinem Schreibtisch gegenüberstand. – »Sie müssen mir helfen! Denken Sie, Günther revoltiert. Er weigert sich, Künstler zu werden! Er hat seinen Violinbogen in Stücke gebrochen und mir vor die Füße geworfen.«

Der Maestro sah Cäcilie an, als wenn sie ihm die gleichgültigste Geschichte von der Welt erzählte.

»Aufgehetzt haben sie ihn mir,« fuhr sie fort. »Und wissen Sie, wer? Die kleine Linke, die Tochter meines Hausmeisters. Sie hat ihm eingeredet, er verstände nichts von Musik und mache sich lächerlich!«

»Ich kenne sie! Sie ist ein Wildfang! Aber Musik hat sie in den Knochen, diese kleine Satanita!«

»Sie wollen damit doch nicht etwa sagen, daß diese Portiersjöhre etwa beurteilen kann . . .«

»Gewiß kann sie das! Sie hat Gehör. Vox populi vox dei, wie der Lateiner sagt.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Macht nichts. Jedenfalls: sie hat nicht unrecht.«

»Maestro!« schrie Cäcilie und warf die Arme hoch. – Und das Bürofräulein nebenan sah von der Maschine auf, schüttelte den Kopf und dachte:

»Schon wieder eine!«

»Wenn ich Sie bisher mit dieser Eröffnung verschont habe,« fuhr der Maestro, der sich jetzt sicher im Sattel glaubte, »so geschah es mit Rücksicht auf die mütterliche Eitelkeit, die ich nicht kränken wollte.«

»Maestro!« wiederholte Cäcilie, und das Bürofräulein nebenan dachte: »Entsetzlich!«

»Heut' aber,« sagte der Maestro, »wo die Existenz der ›Neuen Gesellschaft‹ nicht mehr davon abhängt, kann ich es wagen . . .«

»Ja, was hat denn die Existenz der ›Neuen Gesellschaft‹ mit der künstlerischen Begabung meines Sohnes zu tun?« fragte Cäcilie erstaunt.

»Hatte! Heut' nicht mehr!« verbesserte der Maestro, besann sich aber sofort und sagte: »Das heißt, verstehen Sie mich nicht falsch! Ich meine, heute, wo die Macht der ›Neuen Gesellschaft‹ die künstlerische Zukunft Ihres Sohnes gewährleistet, brauchen wir uns nicht gerade auf ein Kunstgebiet festzulegen, für das er so gar keine Begabung mitbringt.«

»Was heißt das?«

»Daß es nicht durchaus die Violine sein muß. Daß es auch etwas anderes sein kann. So weit ich mich erinnere, war Ihr Wunsch doch der, daß Günther den freien, unabhängigen, nur von ideellen Gesichtspunkten vorgeschriebenen Weg eines freien Künstlers gehen soll. Welche Art Kunst er aber ausübte, darüber wurde, soviel ich mich erinnere, ein bindender Entschluß nicht gefaßt.«

»Sie meinen also, er könnte . . .«

»Einen anderen künstlerischen Beruf wählen!« ergänzte der Maestro. »Sehr richtig! und zwar einen, bei dem ihm nicht, wie bei dem Violinspiel, jeder auf die Finger sehen kann. Ich denke zum Beispiel, wie wäre es, wenn er Komponist oder Dichter würde?«

»Himmlisch! Aber wie macht man das?«

Der Maestro kniff die Augen zusammen.

»Es ließe sich wohl machen,« sagte er.

»Am Ende beides?«

Er sah sie verschmitzt an. »Auch das!«

»Maestro!« schrie Cäcilie und schmiß vor Glück die Arme in die Höh'. Und das Bürofräulein nebenan sprang auf, warf den Kopf zurück und sagte empört:

»Jetzt küßt er sie!« –

»Natürlich, ein gewisser Apparat gehört schon dazu!« ergänzte der Maestro, »ich wollte nur sagen: es kostet Geld.«

»Fordern Sie!« rief Cäcilie. »Sie wissen, für den Ruhm meines Sohnes ist mir nichts zu teuer!«

»Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen und Ihnen dann berichten, gnädige Frau.«

Cäcilie erhob sich.

»Wenn ich Sie nicht hätte, Maestro!« sagte sie und gab ihm die Hand.

Der Maestro verbeugte sich höflich und erwiderte:

»Ganz auf meiner Seite!«

 


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