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Als Günther am Nachmittag desselben Tages seiner Mutter auf das bestimmteste erklärte: »Ich mache den Schwindel nicht mit,« war Cäcilie, die ihre große Hoffnung zusammenbrechen sah, einer Ohnmacht nahe, berief noch für den Abend des gleichen Tages den Familienrat und zählte in bewegten Worten die moralischen und materiellen Schäden auf, die ein Rücktritt Günthers zur Folge haben würde.
»Nicht nur er, dessen Zukunft ich in eure Hände legte, würde der Lächerlichkeit verfallen, wir alle, die ›Neue Gesellschaft‹, die sich so laut für ihn eingesetzt hat, träfe das gleiche Schicksal. Ein Skandal ohne Beispiel wäre die Folge.
»Darüber, daß ein Rücktritt Günthers, sowie überhaupt alles, was geeignet ist, einen von uns bloßzustellen, koste es was es wolle, vermieden werden muß, darüber sind wir uns wohl alle einig,« sagte Leo.
»Wie wäre es,« sagte Alfred, der Assessor, »wenn man einen Arzt zu Rate zöge.«
Alle sahen auf.
»Was sollte der tun?« fragte der Oberlehrer.
»Nun,« erwiderte Alfred, »ohne Frage befindet sich Günther zur Zeit in einem Zustand seelischer Erregung. Das Examen, die bevorstehende Premiere, die Vorgänge bei der heutigen Probe, das alles sind Dinge, die auf ein an sich schon sensibles Gemüt nachteilig wirken müssen. Ich meine daher, daß für Günther nach den Erregungen der letzten Zeit ein mehrwöchentlicher Aufenthalt in einem erstklassigen Sanatorium gut sein würde.«
Alle verstanden. Nur der Oberlehrer äußerte Bedenken. Er sprach von der Durchsichtigkeit des Zwecks, von der Gewissenlosigkeit des Arztes, der sich dazu hergäbe, von Freiheitsberaubung und Verdrehung des Rechts, das in diesem Falle auf Seiten Günthers sei.
»Ich muß sagen,« erklärte Leo, »daß auch mir der Gedanke, Günther, der ein Bild strotzender Gesundheit ist, in ein Sanatorium zu sperren, nicht sympathisch ist.«
»Ich lehne jede Teilnahme an einem solchen Schritt ab,« erklärte der Oberlehrer.
»Der Geist des Familienrats verlangt Einmütigkeit,« forderte Cäcilie.
»Um sie nicht zu stören, erkläre ich meinen Austritt!«
»Worunter hoffentlich nicht die freundschaftlichen Beziehungen zwischen uns leiden,« warf Leo ein.
Professor Sasse überlegte. Im Nebenzimmer deckten die Diener die Tafel zum Abendessen. Auf den trockenen Gaumen des Oberlehrers zauberte das Klirren der Gläser den Geschmack des 93-er Ducru Brauaire. Der herbe Zug um die Mundwinkel verschwand. Die Lippen bewegten sich.
»Aber gewiß!« sagte er. »Ich gehe solange ins Bibliothekzimmer.«
Aber Alfred, der Assessor, widersprach.
»Entweder, Herr Professor, Sie erkennen den mit Dreiviertel-Mehrheit gefaßten Beschluß des Familienrats an und erklären sich mit uns solidarisch, oder Ihre Ideen kontrastieren so stark mit den unsrigen, daß Sie eine Gemeinsamkeit in dieser Form mit Ihrem Gewissen nicht vereinbaren können. Das hätte dann natürlich auch Folgen auf Ihre Tätigkeit in der Redaktion der ›Neuen Gesellschaft‹, für deren Solidarität ich mich verantwortlich fühle.«
Der Oberlehrer erschrak; er zog die Stirn in Falten, rückte den Kneifer gerade und sagte mit Pathos, das echt war und die Bewegtheit seines Gemüts zeigte:
»Meine Lebensaufgabe, den Humanismus gegen die Reformatoren, die das Gymnasium verschandeln wollen . . .«
»Gut!« brach der Assessor die Rede ab. »Wir kennen den Tenor, Sie haben lediglich zu entscheiden, ob Sie die Fortführung Ihres Kampfes und Fortsetzung Ihrer Tätigkeit in der ›Neuen Gesellschaft‹ Ihrem Eigensinn opfern wollen oder nicht.«
Die Brust des Professors hob und senkte sich. Er führte die Hand an die Stirn. Jeder Nerv spannte sich. Die Artikel seiner Gegner zogen mit riesenhaften Lettern an seinem geistigen Auge vorüber. Dazwischen das Klirren der Gläser, das in seinem Fieber zu vollen Akkorden anschwoll. –
»Nein!« rief er. »Nein! Ich kann das Glück Hunderttausender nicht einem Einzelschicksal opfern. Ich unterwerfe mich! Beschließen Sie! Ich bleibe und unterwerfe mich!«
»Gut!« sagte Leo. »Aber ein Schritt, wie er hier vorgeschlagen wird, kann nur im alleräußersten Fall in Frage kommen. So etwas haftet einem Menschen doch an! Denkt doch, mit achtzehn Jahren in einem Sanatorium. Schließlich kommt er noch in den Ruf, anormal zu sein.«
»Das ist für einen Dichter die beste Empfehlung,« erwiderte der Maestro.
»Dann ist es ja die höchste Zeit, daß man etwas dafür tut,« sagte Cäcilie.
Schließlich aber setzten sich doch Leos Bedenken durch. Es sollte, ehe man zum Äußersten griff, ein letzter Versuch gemacht werden, Günther umzustimmen.
Die nächste Frage lautete: wer war am ehesten dazu geeignet?
Der Vater, die Mutter, Fiffi, der Maestro – jeder nannte einen andern, bis der Direktor aufstand und erklärte:
»Das kann nur Frida Linke.«
Alle sahen auf und glaubten, falsch verstanden zu haben.
»Wie kommen Sie denn auf die?« fragte Cäcilie.
»Im übrigen ist sie krank!« erklärte der Assessor. »Und fehlt schon drei Wochen.«
Da enthüllte der Direktor die Wandlung Frida Linkes in Viccy Ury, die auf alle, besonders aber auf den Assessor, starken Eindruck machte.
Cäcilie übernahm es, mit ihr zu reden. Damit war die Tagesordnung erschöpft; der Schmaus begann. –