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Zurückgehalten

Die Leute fanden es höchst merkwürdig, daß Klara Gulla nun Tag um Tag auf dem Borger Landungssteg stehen mußte, um auf jemand zu warten, der niemals kam.

Nicht an schönen Sommertagen stand Klara Gulla wartend auf dem Landungssteg, sondern bei düsterem, stürmischem Novemberwetter und im dunklen, kalten Dezember. Auch träumte sie da nicht schöne holde Träume von Reisenden, die aus weiter Ferne kämen und mit Pomp und Staat an Land stiegen. Ihre Augen und Gedanken waren nur immer auf ein Boot gerichtet, das vor der Schiffslände hin und her fuhr und nach einem Ertrunkenen suchte. Im Anfang hatte sie gemeint, der, auf den sie wartete, werde gleich gefunden werden, sobald man mit dem Dreggen in Gang käme; aber darin hatte sie sich getäuscht. Tag um Tag arbeiteten zwei alte geduldige Fischer mit der Draggleine, aber sie fanden nichts.

Ganz nahe bei den Borger Landungssteg sollten im Seegrund ein paar tiefe Löcher sein, und mehrere von den Leuten meinten, Jan sei gewiß in einem von diesen versunken. Andere wieder sagten, hier an der Landzunge sei eine sehr starke Strömung, die nach der großen Kirchenbucht hinführe, und Jan könnte ja möglicherweise dorthin mitgerissen worden sein. Klara Gulla ließ die Draggleinen verlängern, so daß sie bis in die tiefste Tiefe des Löven hinabreichten, auch ließ sie den Dragganker über jeden Zoll breit in der Kirchenbucht hingleiten; aber es glückte trotzdem nicht, ihren Vater ans Tageslicht heraufzubefördern.

Gleich am ersten Tag nach dem Unglück hatte Klara Gulla einen Sarg bestellt, und als er fertig war, ließ sie ihn nach dem Landungssteg befördern, damit man den Toten, sobald er gefunden würde, hineinlegen könnte. Von da an stand der Sarg fortwährend auf der Brücke. Klara Gulla ließ ihn nicht einmal bei Nacht in das Warenlager hineinstellen. Das Lager wurde geschlossen, wenn der Aufseher fortging, der Sarg aber sollte immer bereit sein, damit Jan nicht auf ihn zu warten brauchte.

Der alte Kaiser hatte auf dem Steg oft gute Freunde um sich her gehabt, die ihm die Wartezeit verkürzten; aber Klara Gulla stand fast immer ganz allein draußen. Sie redete niemand an, und man ließ sie auch sicherlich gern in Ruhe; denn in den Augen der Leute hatte diese Tochter, die die Schuld an ihres Vaters Tod trug, etwas Unheimliches.

Im Dezember hörten die Bootfahrten auf, und von da an stand Klara Gulla vollständig allein auf dem Landungssteg. Niemand störte sie. Die Fischer wollten das Suchen nach dem Leichnam auch einstellen. Aber da gebürdete sich Klara Gulla ganz verzweifelt; der Vater mußte gefunden werden, das war ihre einzige Hoffnung, ihre einzige Rettung. So lange der See nicht zugefroren war, durften die Männer ihre Versuche nicht einstellen. Sie mußten an der Landzunge bei Nygård und bei Storvik suchen, der ganze Löven sollte abgesucht werden.

Je länger die Ungewißheit dauerte, desto ängstlicher und eifriger wurde Klara Gulla, daß der Tote gefunden wurde. Sie hatte sich bei einem Häusler in der Nähe von Borg eingemietet und es im Anfang auch über sich gebracht, wenigstens einige Stunden am Tag zu Hause zu bleiben. Aber allmählich wurde sie von so großer Angst erfaßt, daß sie sich kaum zum Schlafen und zum Essen Ruhe gönnte. Jetzt hielt sie sich beständig auf dem Landungssteg auf, nicht allein während der kurzen Tage, sondern auch während der langen endlosen Abende, bis es Zeit war, zu Bett zu gehen.

Während der beiden ersten Tage nach Jans Tod hatte die alte Katrine neben Klara Gulla auf dem Steg gestanden und auf Jan gewartet. Aber dann ging sie zurück nach Skrolycka.

Sie verließ den Steg nicht aus Gleichgültigkeit, sondern weil sie es nicht aushalten konnte, mit der Tochter zusammen zu sein und sie von Jan reden zu hören. Denn Klara Gulla verstellte sich nicht, und Katrine wußte wohl, wie es stand. Klara Gulla war nicht aus zärtlicher Fürsorge oder aus Gewissensqual so eifrig für die Bergung des Leichnams und dessen Begräbnis in geweihter Erde bemüht, sondern weil sie sich fürchtete, so lange der Vater, an dessen Tod sie schuld war, unbegraben auf dem Grunde des Sees lag. Sie hoffte, wenn der Vater erst gefunden war und sie ihn in der Erde des Kirchhofs begraben lassen konnte, dann würde er ihr nicht mehr so gefährlich erscheinen. Aber so lange er sich da befand, wo er jetzt war, fühlte sie unbeschreibliches Entsetzen vor ihm und vor der Strafe, die seinetwegen über sie kommen würde.

Klara Gulla stand auf dem Landungssteg bei Borg und sah in den See hinunter, dessen Wasser immer erregt und grau war. Keiner ihrer Blicke konnte die Oberfläche des Wassers durchdringen, aber ihr war trotzdem, als könne sie den weiten Grund des Sees sehen, der sich unter ihr ausbreitete.

Da drunten, da saß er, der Kaiser von Portugallien. Er saß auf einem Stein, hatte die Hände um die Knie geschlungen, und seine Augen starrten in das graugrüne Wasser hinein, in der beständigen Erwartung, daß sie zu ihm kommen würde.

Den ganzen Kaiserstaat hatte er abgelegt. Der Stock und die Ledermütze waren ja nicht mit in die Tiefe gesunken, und die papierenen goldenen Sterne hatten sich wohl im Wasser aufgelöst. Da saß er in seinem alten fadenscheinigen Rock mit zwei leeren Händen. Aber dafür war jetzt auch nichts Unechtes und Lächerliches mehr an ihm. Jetzt war er nur noch gewaltig und furchtbar.

Nicht mit Unrecht hatte er gesagt, er sei Kaiser. Eine so große Macht hatte er im Leben gehabt, daß der Feind, den er gehaßt hatte, gestürzt und daß seinen Freunden geholfen worden war. Diese Macht hatte er auch jetzt noch, und sie verließ ihn nicht, weil er tot war.

Nur zwei Menschen hatten ihm in seinem Leben wirklich Böses getan. An dem einen war er schon gerächt worden. Der andere aber war sie, seine eigene Tochter, die ihn zuerst wahnsinnig gemacht und ihn dann in den Tod getrieben hatte. Auf sie harrte er nun da drunten in der Tiefe.

Jetzt war seine Liebe zu ihr zu Ende. Jetzt erwartete er sie nicht mehr, um sie zu loben und zu preisen. In das düstere Reich der Toten wollte er sie hinunterziehen zur Strafe für alles, was sie an ihm verbrochen hatte.

* * *

Zu einem fühlte sich Klara Gulla stark versucht. Sie hätte den großen schweren Deckel des Sarges abnehmen und diesen dann über den Landungssteg wie ein Boot aufs Wasser hinausgleiten lassen mögen. Dann wäre sie selbst hineingestiegen, wäre vom Land abgestoßen und hätte sich dann ganz vorsichtig auf dem Lager von Sägespänen ausgestreckt.

Sie wußte nicht, ob sie dann gleich untersinken oder vorher eine Weile auf dem See umhertreiben würde, bis der Wellenschlag ihr Fahrzeug mit Wasser gefüllt und es in die Tiefe hinabgezogen hätte.

Sie dachte auch, ob sie vielleicht gar nicht untersinken würde, sondern zuerst weit auf den See hinausgeführt und schließlich an einer der erlenumsäumten Landzungen an Land geworfen würde.

Die Versuchung, diese Probe zu machen, war sehr stark für Klara Gulla. Sie würde die ganze Zeit vollkommen still liegen bleiben und keine Bewegung machen und weder Hände noch Arme benützen, um den Sarg weiterzutreiben, sondern sich vollständig der Gewalt ihres Richters übergeben. Er sollte sie zu sich in die Tiefe ziehen oder sie mit dem Leben davonkommen lassen, ganz wie er wollte.

Wenn sie sich in dieser Weise seinem Willen unterwarf, würde vielleicht die große Liebe wieder ein Wort sprechen. Vielleicht würde sie sich ihrer erbarmen und ihr gnädig sein.

Aber ihre Furcht war zu groß; sie wagte es nicht mehr, sich auf seine Liebe zu verlassen. Nein, sie wagte es nicht, den schwarzen Sarg auf den See hinauszuschieben.

* * *

In diesen Tagen wurde Klara Gulla von einem alten Bekannten und Freund auf dem Landungssteg aufgesucht. Er hieß August und wohnte noch bei seinen Eltern daheim auf Där Nol in Prästerud.

August war ein ruhiger und kluger Mann, und Klara Gulla tat es gut, als sie mit ihm redete. Er sagte ihr, es wäre besser, wenn sie fortreiste und ihre frühere Arbeit wieder aufnähme. Es sei gewiß nicht gut für sie, wenn sie hier auf dem einsamen Landungssteg noch länger auf den Toten warte.

Klara Gulla antwortete, ehe ihr Vater nicht in geweihter Erde begraben sei, wage sie nicht abzureisen; aber davon wollte August nichts hören.

Als er zum erstenmal mit ihr redete, wurde nichts entschieden; aber als er sie zum zweitenmal aufsuchte, versprach sie ihm, seinen Rat zu befolgen. Sie trennten sich mit der Verabredung, daß August sie am nächsten Tag mit seinem eigenen Gefährt abholen und nach der Eisenbahnstation fahren würde.

Wenn August das nun getan hätte, wäre vielleicht alles gut gegangen. Aber er war verhindert, selbst zu kommen, und schickte einen Knecht mit dem Wagen. Trotzdem setzte sich Klara Gulla auf den Stuhlwagen und fuhr ab. Aber auf dem Weg redete sie mit dem Fuhrmann von ihrem Vater und munterte ihn auf, ihr einige von den Geschichten zu erzählen, die bewiesen, daß er das zweite Gesicht gehabt hatte; da berichtete dieser dasselbe, was ihr Katrine damals auf dem Landungssteg gesagt hatte, und noch mehrere andere Bespiele.

Als Klara Gulla eine Weile zugehört hatte, befahl sie dem Knecht, umzukehren. Entsetzen hatte sie gepackt, und sie wagte nicht weiterzufahren. Der alte Kaiser von Portugallien war zu mächtig. Klara Gulla wußte wohl, daß die Toten, die nicht in geweihter Erde begraben sind, ihre Feinde verfolgen und hinter ihnen herjagen. Sie mußte den Vater aus dem Wasser herausschaffen, mußte ihn in den Sarg legen, Gottes Wort mußte über ihm gesprochen werden, sonst fand sie nie wieder einen Augenblick Ruhe.


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