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Sommernacht

An dem Tag, wo bei dem Netzstricker die große Gasterei gegeben wurde, war Jan von Skrolycka zu Hause geblieben. Erst als es abend wurde, setzte er sich nach seiner Gewohnheit auf die steinernen Stufen vor der Haustür.

Er war nicht gerade krank, fühlte sich aber matt und schwach; in der Stube war es nach dem langen sonnigen Tag drückend heiß, und so freute er sich, draußen frische Luft zu schöpfen. Aber auch im Freien war noch nicht viel von Abkühlung zu spüren, das merkte er sehr bald; trotzdem blieb er draußen sitzen, hauptsächlich deshalb, weil es da gar so viel Schönes zu sehen gab.

Der Juni war außerordentlich heiß und trocken gewesen, und die Waldbrände, die in allen trockenen Sommern wüteten, hatten auch ihren Anfang genommen. Das merkte Jan an den schönen blauweißen Rauchschichten, die sich gerade vor ihm über den Bergen jenseits des Duvsees auftürmten. Bald sah er auch weit gegen Süden ein hellglänzendes lockiges Wolkenhaupt, und als er seinen Blick auf den Storsnipa im Westen richtete, gewahrte er auch dort große, mit Feuer untermischte Wolken aufsteigen. Es war, als sollte die ganze Welt in Brand geraten.

Von der Stelle aus, wo Jan saß, sah er keine Flammen; aber es war ihm doch recht unheimlich zumute bei dem Gedanken, daß im Walde das Feuer raste und sich ungehindert ausbreiten konnte. Hoffentlich beschränkte es sich auf die Waldstrecken und verheerte nicht auch noch Häuser und Bauernhöfe.

Die Luft war überaus drückend, und Jan fiel es schwer, Atem zu holen; es war ihm fast, als sei schon sehr viel Luft verbrannt und nächstens keine mehr da. Nicht immer gleichmäßig, aber in kurzen Zwischenräumen kam eine Woge Brandgeruch daher, der einem die Nase beizte. Aber dieser Geruch kam nicht aus einer Herdstelle in Askedalarna, sondern es war ein Gruß von dem großen Feuer aus Tannennadeln und Moos und Reisig, das mehrere Meilen entfernt brannte und zischte.

Die Sonne war schon vor einer kurzen Weile feurigrot untergegangen, hatte aber noch so viel Purpurfarbe zurückgelassen, um den ganzen Himmel rot zu malen. Nicht nur nach der Seite, wo die Sonne vor kurzem noch geleuchtet hatte, war der Himmel mit zartem Rot übergossen, sondern in seiner ganzen weiten Ausdehnung. Und zu gleicher Zeit wurde das Wasser des Duvsees dunkel wie ein schwarzer Spiegel, und über diese schwarze Fläche ergossen sich Streifen von purpurschimmerndem Blut und glänzendem Gold.

Das war eine Nacht! Eine von den Nächten, in denen man für die Erde gar keinen Blick mehr übrig hat, in denen man nur noch Augen hat für den Himmel und für das Wasser, in dem sich der Himmel widerspiegelt.

Aber während Jan da vor seinem Häuschen saß und ganz in den wundervollen Anblick versunken war, stieg plötzlich ein Gedanke in ihm auf. Es war wohl ganz ausgeschlossen, daß er recht sah, aber ihm war, als sei das Himmelsgewölbe herabgesunken. Für seine Augen wenigstens war es der Erde heute viel näher als gewöhnlich.

Ganz bestimmt war das nichts Verkehrtes, er konnte sich doch auch nicht vollständig täuschen. Die große blaßrosa Kuppel senkte sich auf die Erde herab. Zugleich nahmen auch der Qualm und die Hitze zu, und Jan war drauf und dran hineinzugehen. Er fühlte schon die große Hitze, die von dem zum Schmelzen heißen Gewölbe, das auf ihn herunterkam, ausging.

Jan hatte ja oft und viel davon reden hören, daß die Erde einmal untergehen werde, und meistens hatte er sich gedacht, der Weltuntergang werde unter furchtbarem Donner und Blitz und Erdbeben vor sich gehen, wobei die Gebirge in die Meere stürzten und die Wasserwogen sich über die Täler und das ebene Land ergießen und alles Lebendige vernichten würden.

Aber niemals hatte sich Jan gedacht, das Ende könnte auf die Weise kommen, daß die Erde unter dem Himmelsgewölbe begraben würde und die Menschen von der Hitze und dem Qualm umkämen. Das kam ihm fürchterlicher vor als alles andere.

Er legte die Pfeife weg, obgleich sie erst halb ausgeraucht war, blieb aber sonst ruhig auf demselben Fleck sitzen. Denn was hätte er wohl tun sollen? Das war nichts, das er von sich abwehren, nichts, dem er aus dem Wege gehen konnte. Man konnte nicht zu den Waffen greifen, um sich zu verteidigen, auch nicht ein Versteck suchen, um sich darin zu verbergen. Ja, ob man auch so mächtig gewesen wäre, alle Seen und Meere zu leeren, so würden alle Wasser nicht hingereicht haben, die Glut des Himmelsgewölbes zu löschen. Wenn man die Berge aus ihrem Grund hätte herausreißen und sie als Stützen unter das Himmelsgewölbe aufrichten können, dieses schwere Gewölbe hätten sie doch nicht zu tragen vermocht, wenn es heruntersinken sollte und mußte.

Aber eins war sehr merkwürdig dabei: es war, als merke außer ihm gar niemand etwas von dem, was vorging.

Doch jetzt, seht, seht! Was war das, was dort über dem Bergkamm emporstieg? Wurde dort nicht eine Menge schwarzer Punkte auf den hellen Rauchwolken sichtbar? Diese Funken fuhren sehr schnell durcheinander und dehnten sich dann zu kurzen Strichen aus, ungefähr so, wie wenn Bienen schwärmen.

Das waren natürlich Vögel. Aber wie merkwürdig, sie hatten sich von ihrer nächtlichen Ruhestätte erhoben und waren mitten in der Nacht hoch in die Luft hinaufgeflogen!

Ja, die Vögel wußten immer mehr als die Menschen. Sie hatten es gefühlt, daß etwas Außerordentliches im Anzug war.

Es wurde nicht früher Nacht als sonst, im Gegenteil, die Hitze nahm noch immer zu. Und etwas anderes war ja auch gar nicht zu erwarten, denn das rote Gewölbe kam immer näher. Jan kam es vor, als sei es nun schon so tief herabgesunken, daß es den Gipfel des Snipa, der dort drüben so hoch aufragte, berührte.

Aber wenn der Weltuntergang so nahe war und er nicht mehr auf eine Botschaft von Klara Gulla und noch weniger auf ein Wiedersehen mit ihr hoffen konnte, ehe alles zu Ende war, dann wollte er nur noch um eine einzige Gnade bitten: daß es ihm vergönnt würde, herauszubringen, in was er ihr zuwider gehandelt hatte, damit er es wieder gutmachen könnte, ehe alles, was zum irdischen Leben gehörte, zu Ende war. Was war es nur, was hatte er getan, was sie nicht vergessen und nicht vergeben konnte? Warum waren ihm die Kaiserkleinode genommen worden?

Gerade als er sich diese Fragen stellte, fiel sein Blick auf ein kleines Stückchen Goldpapier, das vor ihm auf dem Boden lag. Es glänzte und blinkte, wie wenn es die Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte, aber in diesem Augenblick war Jan nicht danach gestimmt, sich um so etwas zu kümmern. Das Goldpapier rührte wohl von einem der Sterne her, die er von der närrischen Ingeborg entlehnt hatte. Aber von dieser Eitelkeit hatte er schon den ganzen Winter über nichts mehr wissen wollen.

Es wurde immer heißer, und das Atmen fiel Jan immer schwerer. Ja, das Ende kam heran, und es war vielleicht recht und gut, daß es sich nicht weiter hinauszog.

Er fühlte eine große Mattigkeit über sich kommen, und diese Schwäche nahm rasch zu. Nun konnte er schon nicht mehr aufrecht dasitzen, sondern mußte sich von den Stufen heruntergleiten lassen und sich auf der Erde ausstrecken.

Es war vielleicht Unrecht gegen Katrine, daß er ihr nicht mitteilte, was im Anzug war. Aber Katrine war noch nicht heimgekommen, sondern noch auf der Gesellschaft beim Netzstricker.

»Wenn ich mich doch nur bis zum Netzstricker hinschleppen könnte!« dachte Jan. »Dem alten Ol' Bengtsa hätt' ich auch noch gern ein Abschiedswort gesagt.«

In diesem Augenblick sah er Katrine in Gesellschaft des Netzstrickers daherkommen. Darüber freute er sich sehr. Er wollte ihnen zurufen, sie sollten sich beeilen, brachte aber kein einziges Wort über die Lippen.

Gleich darauf standen die beiden bei Jan und beugten sich über ihn.

Katrine holte Wasser und gab ihm zu trinken, und allmählich kehrten seine Kräfte einigermaßen zurück, und er konnte ihnen sagen, daß das Jüngste Gericht angebrochen sei.

»Ja, das muß wahr sein!« sagte Katrine, »Das Jüngste Gericht! Nein, du hast Fieber und redest irre.«

Nun wendete sich Jan an den Netzstricker.

»Und Ihr, Ol' Bengtsa,« sagte er, »seht Ihr auch nicht, daß das Himmelsgewölbe immer tiefer heruntersinkt?«

Der Netzstricker gab Jan gar keine Antwort, sondern richtete seine Worte an Katrine:

»So kann's nicht weitergehen,« sagte er. »Ich glaube, wir müssen jetzt das versuchen, was wir auf dem Weg hierher besprochen haben. Es wird am besten sein, ich gehe jetzt gleich nach Falla hinüber.«

»Aber Lars wird nicht wollen,« erwiderte Katrine.

»Ihr wißt doch, daß Lars nach dem Wirtshaus gefahren ist. Ich glaube, die alte Mutter auf Falla wird schon den Mut haben und – – –«

Hier wurde der Netzstricker von Jan unterbrochen, der es nicht ertragen konnte, die beiden von alltäglichen Dingen reden zu hören, wenn sich so Großes vollzog.

»Sagt jetzt nichts mehr!« bat er. »Hört Ihr nicht die Posaunen des Gerichts? Hört Ihr nicht, wie es in den Bergen dröhnt?«

Um Jan zu willfahren, schwiegen die beiden andern und lauschten einen Augenblick hinaus. Und da konnte man ihnen wohl anmerken, daß auch sie etwas Außergewöhnliches hörten.

»Es kommt ein Gefährt vom Wald hergerasselt,« sagte Katrine. »Was soll denn das bedeuten?«

Je näher das Gefährt kam, desto mehr verwunderten sie sich.

»Und es ist doch Sonntagabend!« meinte Katrine. »Wenn es Werktag wäre, könnte man es eher verstehen. Wer kann das nur sein, der in einer Sonntagsnacht mit einem Wagen durch den Wald fährt?«

Darauf schwieg sie und lauschte wieder hinaus. Und jetzt hörte man deutlich die Räder über die Felsen schleifen und den Hufschlag eines Pferdes, das den steilen Hügel herabstürmte.

»Hört ihr's? Hört ihr's?« sagte Jan.

»Ja, ich hör's,« antwortete Katrine. »Aber 's geht mich nichts an, wer's ist. Jetzt muß ich zu allererst dich zu Bett bringen, Jan. Daran hab ich zu denken und an weiter nichts.«

»Und ich geh nach Falla,« sagte der Netzstricker. »Das ist wichtiger als alles andere. Also auf später miteinander!«

Der Alte machte sich, so schnell er konnte, auf den Weg, und Katrine ging ins Haus hinein, um das Bett für Jan zurechtzumachen. Aber sie war kaum hineingegangen, als das Gerassel, das sie und der Netzstricker für gewöhnliches Wagengerassel gehalten hatten, schon ganz nahe war. Nun hörte es sich an wie das Dröhnen von schweren Streitwagen, und der ganze Boden zitterte, als es näher herankam. Jan rief laut nach Katrine, und sie eilte rasch zu ihm hinaus.

»So hab doch keine Angst, Jan!« rief sie. »Jetzt seh ich auch das Pferd. Es ist die alte Braune von Falla. Komm, richt dich auf, dann kannst du sie auch sehen!«

Sie schob den Arm unter Jans Nacken und richtete ihn auf.

Zwischen dem Erlengebüsch, das den Weg umsäumte, nahm Jan einen Schein von einem Pferd wahr, das in wilder Eile auf Skrolycka zustürmte.

»Siehst du's jetzt?« fragte Katrine. »'s ist nur Lars Gunnarsson, der nach Hause fährt. Er hat sich wohl im Wirtshaus einen Rausch angetrunken, und so weiß er nicht, welchen Weg er genommen hat.«

Gerade als sie das sagte, fuhr das Gefährt an ihrer Gitterpforte vorüber, und da konnte man es besser sehen. Und da sahen alle beide, Jan und Katrine, daß der Wagen leer war; das Pferd hatte keinen Lenker.

In demselben Augenblick stieß Katrine einen lauten Schrei aus und zog ihren Arm so heftig zurück, daß Jan mit einem dumpfen Fall wieder auf den Boden zurücksank

»Gott helfe mir!« rief sie. »Hast du's gesehen, Jan? Er ist geschleift worden!«

Sie wartete Jans Antwort nicht ab, sondern stürmte durch den Vorplatz auf den Weg hinaus, wo das Pferd eben vorübergerast war.

Jan ließ sie gehen, ohne eine Einwendung zu machen. Er freute sich sogar, daß er wieder allein war. Noch immer hatte er keine Antwort auf die Frage gefunden, warum die Kaiserin böse auf ihn war.

Das kleine Stückchen Goldpapier lag jetzt dicht unter seinen Augen und glitzerte ganz hell, er mußte es unwillkürlich noch einmal ansehen. Und von dem Goldpapier glitten seine Gedanken zu der närrischen Ingeborg hin und zu jenem Tag, wo er mit ihr vor dem Landungssteg bei Borg zusammengetroffen war.

Und jetzt ging ihm ein Licht auf! Ja, hier war die Antwort, nach der er gesucht hatte! Jetzt wußte er, weswegen das kleine Mädchen den ganzen Winter hindurch unzufrieden mit ihm gewesen war. Gegen die närrische Ingeborg hatte er sich versündigt. Er hätte ihr ihre Bitte, mit nach Portugallien reisen zu dürfen, nicht abschlagen sollen.

Daß er doch eine so schlechte Meinung von der großen Kaiserin gehabt hatte, zu denken, sie würde die närrische Ingeborg nicht bei sich haben wollen! Gerade solchen, wie diese arme Ingeborg, wollte sie am liebsten helfen.

Es war nicht verwunderlich, daß sie erzürnt gewesen war. Er hätte es besser verstehen müssen; die Armen und Unglücklichen, gerade sie waren in ihrem Reich willkommen.

Es war indes nicht viel in der Sache zu tun, wenn es keinen morgenden Tag mehr gab. Aber wenn es noch ein Morgen gab, dann würde er gleich zur närrischen Ingeborg gehen und mit ihr reden; das sollte das erste sein, was er tat.

Er schloß die Augen und legte die Hände zusammen. Nun war doch diese Sorge gestillt, das empfand er als eine große Erleichterung. Jetzt kam ihm das Sterben lange nicht mehr so schwer vor.

Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen sein mochte, als er Katrinens Stimme wieder dicht neben sich hörte.

»Aber Jan, was ist denn mit dir? Du wirst mir doch nicht wegsterben wollen?«

Das klang so ängstlich, daß er nicht anders konnte, als die Augen aufmachen.

Und was sah er da auf den ersten Blick? Katrine hielt den Kaiserstock und die grüne Ledermütze in der Hand.

»Ich hab die in Falla gebeten, mich das für dich mitnehmen zu lassen,« sagte Katrine. »Ich hab zu ihnen gesagt, wie's auch gehen möge, so sei's besser, du bekommst sie wieder, als daß dir die Lust zum Leben vollends ganz verginge.«

Jan faltete die Hände.

Das kleine Mädchen, die große Kaiserin, war sie nicht merkwürdig! Kaum war er sich seiner Sünde bewußt geworden und hatte versprochen, sie wieder gut zu machen, als sie ihm auch schon ihre Gnade und ihr Wohlgefallen wieder zuteil werden ließ.

Jan überkam eine große wunderbare Erleichterung. Das Himmelsgewölbe hob sich wieder, die Luft strömte frischer herein, und die große Hitze entwich. Er war jetzt imstande, sich wieder aufzurichten und nach den Kaiserkleinoden zu greifen.

»Ja, jetzt kannst du in aller Ruhe zu Bett gehen,« sagte Katrine. »Jetzt wird sie dir niemand mehr streitig machen wollen, denn Lars Gunnarsson ist tot.«


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