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Sie war gekommen, das kleine Mädchen war gekommen! Es ist schwer, die richtigen Worte zu finden, um ein so großes Ereignis zu berichten.
Sie traf erst spät im Herbst ein, als die Personenboote auf dem Löven schon ihre Fahrten eingestellt hatten und der Verkehr auf dem See nur noch durch ein paar kleine Frachtdampfer aufrecht erhalten wurde. Aber mit diesen hatte sie nicht fahren wollen – vielleicht hatte sie auch nicht einmal gewußt, daß es solche Frachtdampfer gab –, sondern sie hatte von der Eisenbahnstation aus einen Wagen nach Askedalarna genommen.
Jan in Skrolycka konnte sie also nicht auf dem Landungssteg bei Bro, wo er nun seit fünfzehn Jahren auf sie gewartet hatte, in Empfang nehmen. Denn fünfzehn Jahre lang war sie fort gewesen. Achtzehn Jahre lang hatte er sie in seinem Hause sein eigen nennen dürfen, und fast ebenso lange hatte er sie entbehren müssen.
Es traf sich auch nicht einmal so glücklich, daß Jan gerade daheim in seinem Hause war und Klara Gulla, als sie ankam, empfangen konnte; gerade da war er auf einen kleinen Schwatz nach Falla hinübergegangen zu der alten Großmutter, die jetzt aus dem Wohnhaus ausgezogen war und das Ausdingstübchen bewohnte. Sie gehörte zu den vielen einsamen alten Menschen, die der Kaiser sich bisweilen zu besuchen verpflichtet fühlte, um ihnen ein freundliches Wort zu sagen und ihnen den Mut zu stärken.
Nur Katrine stand zum Empfang auf der Schwelle des Hauses, als das kleine Mädchen in seine Heimat zurückkehrte.
Katrine hatte den ganzen Tag am Spinnrocken gesessen und eben das Rädchen angehalten, um einen Augenblick auszuruhen, als Wagengerassel vom Weg her an ihr Ohr drang. Es war ein sehr ungewohntes Ereignis, wenn ein Gefährt durch Askedalarna kam; Katrine trat an die Tür, um hinauszuschauen, und da merkte sie, daß es nicht ein gewöhnlicher Karren, sondern ein Stuhlwagen war.
In diesem Augenblick fingen Katrinens Hände heftig an zu zittern. Dies war eine Schwäche, die sich jetzt immer bei ihr einstellte, so oft sie erschrak oder sich über etwas aufregte. Sonst war sie trotz ihrer zweiundsiebzig Jahre noch recht gesund und kräftig. Sie hatte nur Angst, das Zittern könnte zunehmen und sie schließlich am Arbeiten hindern, und sie würde dann am Ende nicht mehr imstande sein, für sich und Jan den Unterhalt zu verdienen, was ihr bisher immer gelungen war.
Um diese Zeit hatte Katrine die Hoffnung, die Tochter je wieder zu sehen, so gut wie aufgegeben, und an diesem Tag hatte sie noch mit keinem Gedanken an sie gedacht. Aber sie sagte später, von dem Augenblick an, wo das Wagengerassel vernehmlich geworden sei, habe sie bestimmt gewußt, wer komme.
Sie ging an ihre Kleidertruhe, um eine reine Schürze herauszunehmen; aber ihre Hände zitterten zu heftig, sie konnte den Schlüssel nicht ins Schlüsselloch stecken. Es war ihr darum nicht möglich, sich ein wenig herauszuputzen, sie mußte so, wie sie war, hinausgehen und die Tochter begrüßen.
Das kleine Mädchen kam nicht in einer goldenen Kutsche dahergefahren, ja sie saß nicht einmal auf dem Wagen, sondern ging zu Fuß. Der Weg nach Askedalarna war nämlich noch ebenso schlecht wie zu der Zeit, als Erik in Falla und seine Frau mit dem Kinde zum Pfarrer gefahren waren, um es taufen zu lassen; jetzt ging sie auf der einen Seite des Wagens und der Fuhrmann auf der andern, um zwei große Koffer zu stützen, die hinter dem Wagenstuhl aufgestapelt und in Gefahr waren, in den Graben herunterzufallen. Großartiger ging's bei der Heimkehr nicht zu, aber mehr konnte vielleicht auch nicht verlangt werden.
Katrine hatte eben noch die Haustür aufmachen können, als der Wagen auch schon vor der Pforte hielt. Eigentlich hätte sie hineilen und die Gittertür öffnen sollen; aber sie tat es nicht. Ganz plötzlich fühlte sie einen so schweren Druck auf der Brust, daß ihr der Atem versagte und sie keinen Schritt machen konnte.
Obgleich der Gast, der jetzt die Pforte öffnete, wie eine Dame gekleidet war, wußte Katrine bestimmt, daß es ihre Tochter Klara Gulla war. Sie trug einen mit Federn und Blumen geschmückten Hut und ein Kleid aus feinem Stoff; aber es war trotz allem und allem das kleine Mädchen von Skrolycka.
Klara Gulla eilte vor dem Gefährt in den Hof hinein und trat mit ausgestreckter Hand auf Katrine zu. Aber Katrine blieb starr und steif stehen und schloß die Augen. Gerade in diesem Augenblick stieg eine große Bitterkeit in ihrem Herzen auf. Sie meinte, der Tochter nicht vergeben zu können, daß sie lebte und nun gesund und munter daherkam, nachdem sie ihre Eltern alle diese vielen Jahre hindurch vergeblich auf sich hatte warten lassen, ja, sie wünschte beinahe, die Tochter wäre überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, sich wieder zu zeigen.
Klara Gulla mußte gesehen haben, daß die Mutter am Umsinken war, denn sie schlang hastig die Arme um sie und trug sie fast in die Stube hinein.
»Liebe Mutter, du wirst doch nicht erschrecken!« sagte sie. »Kennst du mich nicht mehr?«
Katrine schlug die Augen auf und betrachtete ihre Tochter genau. Sie war ein verständiger Mensch und hatte nie erwartet, daß das Mädchen, das fünfzehn Jahre lang fort gewesen war, ganz genau so wiederkehren würde, wie sie gegangen war; aber sie erschrak doch über das, was sie sah.
Das Mädchen, das sie vor sich hatte, sah viel älter aus, als es eigentlich sollte, denn sie war ja erst im Anfang der Dreißiger; aber das kam nicht daher, daß ihr Haar an den Schläfen schon grau schimmerte oder daß die Stirne voller kleiner Falten war, sondern weil Klara Gulla häßlich geworden war. Das Gesicht hatte eine merkwürdig fahle Hautfarbe, und ein verschwommener, grober Zug lag um den Mund. Das Weiße des Auges hatte einen grauen Ton und war blutunterlaufen, und unter den Augen hing die Haut dick herab.
Katrins war auf einen Stuhl gesunken und hielt die Hände fest um die Knie geschlungen, um sie am Zittern zu verhindern, und dachte an das strahlende achtzehnjährige Mädchen in dem roten Kleide. So hatte sie in Katrinens Erinnerung bis jetzt immer weitergelebt. Und die arme alte Frau fragte sich ängstlich, ob sie es je so weit bringen würde, sich über die Rückkehr von Klara Gulla zu freuen.
»Du hättest uns schreiben müssen,« sagte Katrine. »Wenigstens einen Gruß hättest du uns schicken müssen, damit wir gewußt hätten, daß du noch am Leben bist.«
»Ja, das hätt ich tun sollen, ich weiß es wohl,« entgegnete die Tochter. Und ihre Stimme wenigstens war die alte geblieben, sie klang frisch und froh wie früher. »Aber im Anfang ist's mir ja schlecht gegangen – – – Ja, das habt ihr vielleicht gehört?«
»O ja, so viel wissen wir,« sagte Katrine mit einem tiefen Seufzer.
»Deshalb hab ich zuerst nicht geschrieben,« sagte Klara Gulla und lachte dabei laut auf. Auch jetzt hatte sie etwas Gesundes und Tatkräftiges an sich, gerade wie früher. Sie gehörte sicher nicht zu denen, die sich mit Reue und Selbstprüfungen quälen.
»Denk jetzt nicht daran, Mutter!« sagte sie, als Katrine fortgesetzt schwieg. »Jetzt geht's mir sehr gut. Ich bin Gastwirtin gewesen, das heißt, ich führe die Küche auf einem großen Dampfboot, das zwischen Lübeck und Malmö fährt, und jetzt im Herbst hab ich mir eine eigene Wohnung in Malmö gemietet. Bisweilen hab ich freilich gedacht, ich müßte euch eigentlich schreiben, aber ich hab nicht recht gewußt, wo ich anfangen soll. Dann hab ich gedacht, ich will's lassen, bis ich so weit sei, daß ich Euch und den Vater zu mir nehmen könnte. Und jetzt, wo alles geordnet ist und ich euch aufnehmen kann, dacht ich, es sei eine größere Freude, wenn ich selbst komme, als wenn ich schriebe.«
»Und du hast gar nichts von uns gehört?« fragte die Mutter.
Alle diese Aufklärungen hätten sie ja froh stimmen sollen, aber sie fühlte sich noch immer bedrückt.
»Nein,« antwortete Klara Gulla, fügte indes sofort gleichsam als Entschuldigung hinzu: »Ich wußte ja, daß man euch helfen würde, wenn es euch wirklich schlecht ginge.«
In diesem Augenblick mußte sie gesehen haben, wie sehr Katrinens Hände zitterten, obgleich sie sie fest ineinandergeschlungen hielt. Da begriff sie, daß die Eltern es wohl schwerer gehabt hatten, als sie sich je gedacht hatte, und sie versuchte, eine Art Rechtfertigung vorzubringen.
»Ich wollte nicht wie andere kleine Summen schicken, sondern lieber sparen, bis ich's so weit gebracht hatte, daß ich euch zu mir nehmen konnte,« sagte sie.
»Wir haben kein Geld nötig gehabt, wir wären zufrieden gewesen, wenn du geschrieben hättest,« entgegnete Katrine.
Klara Gulla versuchte, die Mutter aus ihrer Betrübnis herauszureißen, wie sie es immer getan hatte.
»Ihr dürft mir diesen Augenblick nicht verderben, Mutter,« sagte sie. »Jetzt bin ich ja wieder da. Kommt, wir wollen meine Koffer hereinschaffen und sie auspacken. Es ist allerlei Gutes zum Essen drin. Wir wollen ein Gastmahl herrichten, bis Vater heimkommt.«
Sie ging hinaus, um beim Abladen des Gepäckes zu helfen; aber Katrine folgte ihr nicht.
Klara Gulla hatte nicht gefragt, wie es dem Vater gehe. Sie dachte gar nicht anders, als daß er noch ganz wie früher auf Falka im Taglohn arbeitete. Ach, Katrine wußte wohl, daß sie der Tochter mitteilen mußte, wie es in Wirklichkeit um ihn stand; aber sie schob und schob es hinaus. Mit dem kleinen Mädchen war eben doch ein frischer Luftzug in die Stube hereingekommen, und Katrins bebte davor zurück, Klara Gullas Freude über ihre Heimkehr so schnell ein Ende zu bereiten.
Während Klara Gulls beim Abladen des Koffers mit Hand anlegte, sah sie sechs bis sieben Kinder an die Gitterpforte herankommen und in den Hof hineinlugen. Sie sagten nichts, sondern lachten nur, deuteten auf sie und liefen wieder davon.
Aber nach ein paar Augenblicken waren sie wieder da, und diesmal hatten sie in ihrer Mitte einen kleinen alten Mann, der zwar gelb und zusammengeschrumpft aussah, aber mit zurückgeworfenem Kopf und stramm aufgerichtet daherkam und die Füße hart auf den Boden setzte, wie ein marschierender Soldat.
»Das ist einmal ein sonderbarer Kerl,« sagte Klara Gulla zu dem Fuhrmann, gerade als der Alte und die Kinderschar durch die Pforte hereindrängten. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wer er war, aber ein Mann, der so großartig angetan war, mußte ihr ja auffallen. Auf dem Kopf trug er eine hohe Ledermütze mit einem Federbusch darauf, und um den Hals bis weit auf die Brust herab, zu einer Kette zusammengefügt, Sterne und Kreuze aus steifem Goldpapier. Es sah aus, als sollten sie ein goldenes Halsgeschmeide vorstellen.
Jetzt verhielten sich die Kinder nicht mehr still, sondern schrien aus vollem Halse:
»Kaiserin, Kaiserin!«
Der arme alte Mann gebot ihnen Schweigen und schritt voran, wie wenn die schreienden, lachenden Kinder eine Ehrenwache wären.
Als die Schar schon beinahe vor der Haustür angekommen war, stieß Klara Gulla einen lauten Schrei aus und flüchtete zu Katrine hinein.
»Wer ist das?« fragte sie in hellem Entsetzen. »Ist's der Vater? Ist er verrückt geworden?«
»Ja,« antwortete Katrine. Sie fing vor Aufregung an zu weinen und verbarg das Gesicht in ihrer Schürze.
»Ist er meinetwegen so geworden?«
»Der liebe Gott hat ihn aus Barmherzigkeit so werden lassen,« schluchzte Katrine. »Er sah, daß es ihm zu schwer wurde.«
Weiter kam sie nicht in ihrer Erklärung; denn jetzt stand Jan auf der Schwelle, hinter sich die ganze Kinderschar, die sehen wollte, wie diese Begegnung, die sie so oftmals hatten beschreiben hören, in Wirklichkeit ablaufen würde.
Der Kaiser von Portugallien ging nicht bis zu seiner Tochter hin. Er blieb dicht bei der Tür stehen und sagte seinen Willkommgruß her:
»Willkommen, willkommen, du klare,
du feine, du reiche Gulleborg!«
Diese Worte sprach er mit einer so abgemessenen Würde, wie die Hochstehenden in großen Augenblicken sie an den Tag legen, aber zugleich standen ihm helle Freudentränen in den Augen, und er konnte das Zittern seiner Stimme nur mit großer Anstrengung überwinden.
Nachdem der großartige, wohlüberlegte Willkommgruß hergesagt war, stieß der Kaiser mit dem silberbeschlagenen Stock dreimal hart auf den Fußboden, um Stille und Andacht zu gebieten, und dann fing er mit dünner schetternder Stimme zu singen an.
Klara Gulla hatte sich dicht neben ihre Mutter gestellt. Es sah aus, als wolle sie sich verstecken, sich hinter die Mutter verkriechen. Bisher hatte sie geschwiegen, aber als Jan zu singen begann, schrie sie in wildem Schrecken laut auf und wollte ihm Einhalt gebieten.
Aber da packte sie Katrine hart am Arm.
»Laß ihn!« befahl sie. »Seit du für uns verschollen gewesen bist, hat er sich darauf gefreut, dir dieses Lied vorsingen zu dürfen.«
Da schwieg Klara Gulla und ließ Jan singen.
»Dem Vater der Kaiserin
Ist es gar froh zu Sinn.
Die Zeitung hat's gesagt,
Östreich und Portugal,
Metz, Japan und sie all.
Bum, bum, bum, rataplan,
Bum, bum!«
Aber mehr konnte Klara Gulla nicht aushalten. Sie stürzte vor, jagte die Kinder eilig hinaus und machte die Tür hinter ihnen zu.
Dann wendete sie sich an ihren Vater, und sie stampfte überdies mit dem Fuß auf den Boden, sie war im Ernst erzürnt.
»So schweig doch, schweig!« befahl sie. »Hast du im Sinn, mich zum Spott und Gelächter des ganzen Dorfes zu machen, indem du mich Kaiserin nennst?«
Jan sah etwas verdutzt aus, aber nur für einen Augenblick. Sie war ja die große Kaiserin! Alles, was sie tat, war wohlgetan. Alles, was sie sagte, war Honig, war Balsam. In seiner Freude hatte er ganz vergessen, nach der goldenen Krone und dem goldenen Thron und den goldstrotzenden Kriegsobersten zu schauen. Wenn sie arm und hilflos scheinen wollte, so war das ganz allein ihre Sache. Sie war zu ihm zurückgekehrt, das war Freude genug.