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Der erste Oktober

Am ersten Oktober lag Jan in Skrolycka den ganzen Nachmittag angekleidet auf dem Bett, das Gesicht der Wand zugekehrt, und man konnte mit aller Mühe nicht ein Wort aus ihm herausbringen.

Am Vormittag waren er und Katrine an den Landungssteg hinuntergegangen, um Klara Gulla abzuholen. Nicht etwa, daß sie geschrieben oder gesagt hätte, sie werde am ersten Oktober kommen, nein, das hatte sie nicht getan. Jan allein war es gewesen, der ausgerechnet hatte, daß es so sein müßte.

Am ersten Oktober mußte ja doch Lars Gunnarsson das Geld bezahlt werden, also mußte auch Klara Gulla gerade an dem Tag mit dem Geld eintreffen; daß sie früher nach Hause kommen werde, hatte Jan nicht erwartet. Sie mußte natürlich so lange in Stockholm bleiben, wenn sie eine so große Summe zusammenbringen wollte. Aber daß sie länger ausbleiben würde, das konnte er auch nicht glauben, höchstens wenn es ihr nicht gelungen sein sollte, das Geld zusammenzuscharren; aber wenn erst der erste Oktober vorüber war, hätte sie ja gar keinen Grund mehr gehabt, noch länger fortzubleiben.

Während Jan voller Erwartung auf dem Landungssteg stand, hatte er sich gesagt, wenn Klara Gulla die Eltern vom Dampfboot aus sähe, würde sie wohl eine traurige Miene aufsetzen, und sobald sie an Land komme, würde sie sagen, es sei ihr nicht gelungen, die ganze Summe zusammenzubringen.

Und wenn sie das sagte, dann würden sie beide, er und Katrine, tun, als ob sie das Kind beim Worte nähmen, und Jan würde zu ihr sagen, er könne nicht begreifen, wie sie wage, nach Hause zu kommen, da sie doch wisse, daß Katrine und er nach weiter nichts fragten als nach dem Gelde.

Und dessen war er ganz gewiß gewesen, ehe sie über den Landungssteg gegangen war, würde sie eine dicke Brieftasche aus der Kleidertasche ziehen und sie in die Hände der Eltern legen.

Er hatte sich auch ausgedacht gehabt, er wolle dann Katrine die Banknoten in Empfang nehmen und nachzählen lassen. Er selbst aber wollte nur immerfort Klara Gulla ansehen.

Sie würde schon merken, daß er sich um gar nichts anderes kümmerte, als daß sie wieder heimgekommen war, und sie würde zu ihm sagen, er sei noch ebenso närrisch wie vor ihrer Abreise.

Auf diese Weise hatte Jan von dem ersten Wiedersehen geträumt gehabt. Aber der Traum war nicht so ganz in Erfüllung gegangen.

An diesem Tag hatten Katrine und Jan nicht gar so lange in Erwartung des Schiffes auf dem Landungssteg stehen brauchen. Das Boot traf zur rechten Zeit ein. Aber als es kam, war es mit Waren und Menschen, die auf den Brobyer Jahrmarkt wollten, so überfüllt, daß man im ersten Augenblick durchaus nicht entscheiden konnte, ob Klara Gulla an Bord war oder nicht.

Jan hatte erwartet, das Mädchen würde die erste sein, die über das Gangbrett daherkäme, aber statt ihrer kamen nur ein paar Männer. Als sie sich dann später auch nicht zeigte, wollte sich Jan auf dem Boot selbst nach ihr umsehen; er kam aber in dem Gedränge nicht durch. Er war indes seiner Sache noch immer vollkommen sicher, und als dann das Boot sein Gangbrett einzog, rief er dem Kapitän zu, er solle doch ja noch nicht abstoßen. Es sei noch jemand drüben, der an Land wolle.

Der Kapitän fragte seine Leute; aber diese antworteten, es sei niemand mehr da, der an der Svartsjöer Brücke aussteigen wollte, und so stieß das Boot ab.

Die beiden Eltern hatten also allein nach Hause gehen müssen; und sobald sie daheim angekommen waren, hatte sich Jan auf sein Bett geworfen. Er fühlte sich todmüde und vollkommen erschöpft, und es war ihm, als würde er nie wieder die Kraft zum Aufstehen finden.

Die Leute in Askedalarna hatten die beiden ohne Klara Gulla von der Landungsbrücke zurückkehren sehen und fragten sich nun gegenseitig, wie es denn jetzt gehen werde. Einer nach dem andern von den Nachbarn kam nach Skrolycka, um zu fragen, wie es stehe.

Immer wieder wurde die Frage laut, ob denn Klara Gulla wirklich nicht mit dem Boot gekommen sei? Und ob Jan und Katrine wirklich den ganzen September hindurch weder Brief noch Nachricht von ihr bekommen hätten?

Jan gab keine Antwort auf alle diese Fragen. Stumm blieb er auf seinem Bett liegen, wer auch immer hereinkommen mochte.

Katrine mußte den Leuten Auskunft geben, so gut sie konnte. Die Nachbarn dachten natürlich, Jan liege aus lauter Betrübnis und Verzweiflung darüber, daß sie nun ihr Haus verlieren würden, so stumm da. Mochten sie das doch glauben! Er machte sich nichts daraus.

Katrine weinte und jammerte, und die Nachbarsleute, die nun einmal da waren, meinten, sie müßten dableiben, um Katrine ihr Mitgefühl zu zeigen und ihr mit allen Trostgründen, die sie finden konnten, gut zuzusprechen.

Lars Gunnarsson werde ihnen das Haus sicherlich nicht nehmen, das sei ja ganz unmöglich. Das würde schon die alte Mutter auf Falla nicht zugeben. Sie sei doch früher immer eine sehr gerechte und redliche Frau gewesen.

Und der Tag sei ja auch noch gar nicht zu Ende. Klara Gulla könne schon noch von sich hören lassen, ehe es zu spät sei. Es wäre ja auch ganz merkwürdig, wenn es ihr wirklich gelungen wäre, in knapp drei Monaten zweihundert Reichstaler zu verdienen. Aber dieses Mädchen habe ja von jeher ein unbegreifliches Glück gehabt.

So wurde hin und her geredet und für und wider erwogen. Katrine sagte, in den ersten Wochen habe Klara Gulla überhaupt nichts verdienen können. Sie habe zuerst bei Leuten aus Svartsjö, die nach Stockholm gezogen waren, gewohnt, aber bei diesen habe sie für den Aufenthalt noch bezahlen müssen.

Aber dann sei sie zum guten Glück auf der Straße mit jenem Handelsmann zusammengetroffen, der ihr das rote Kleid geschenkt hatte, der habe ihr beigestanden und ihr eine Stelle verschafft.

Ja, ob man sich denn nicht denken könnte, daß dieser Handelsmann ihr auch das Geld verschafft hätte? Das wäre gar nicht unmöglich, meinten die Nachbarn.

Nein, unmöglich wäre es allerdings nicht, sagte Katrine, aber jetzt sei ja Klara Gulla weder selbst gekommen, noch habe sie einen Brief geschickt. Daraus gehe deutlich hervor, daß es ihr mißglückt sei.

Mit jeder Minute wurden die Leute, die da in der Stube saßen, ängstlicher und bedrückter. Sie hatten alle das Gefühl, als müsse den armen Menschen, die hier wohnten, bald etwas Schreckliches widerfahren.

Als die Traurigkeit gerade auf dem höchsten Punkt angekommen war, ging plötzlich die Tür auf und ein Mann trat ein, der bis jetzt kaum je in Askedalarna gesehen worden war, denn in solche abgelegenen Gegenden führte ihn für gewöhnlich sein Weg nicht.

Als der Mann eintrat, wurde es in der Stube so still, wie es in einer Winternacht im Walde manchmal sein kann; aller Augen richteten sich auf ihn, nur Jan rührte sich nicht und sah nicht auf, obgleich ihm Katrine zuflüsterte, der eben Eingetretene sei der Reichstagsabgeordnete Karl Karlsson in Storvik.

Der Reichstagsabgeordnete hielt ein zusammengefaltetes Papier in der Hand, und alle Anwesenden dachten nichts anderes, als daß er von dem neuen Eigentümer in Falla geschickt sei, um den Leuten in Skrolycka mitzuteilen, was ihrer wartete, da sie ja seine Forderung nicht bezahlen konnten.

Recht bekümmerte Blicke waren es, die sich da auf Karl Karlsson richteten; dieser aber trug seine gewohnte herrische Miene zur Schau, und niemand konnte daraus einen Schluß ziehen, wie hart der Schlag wohl sein würde, den auszuteilen er hierhergekommen war.

Er reichte zuerst Katrine die Hand und dann den andern. Die standen auf und grüßten, als die Reihe an sie kam. Der einzige, der sich nicht rührte, war Jan.

»Ich bin hier in der Gegend nicht genau bekannt,« begann der Reichstagsabgeordnete. »Ist dies hier nicht der Ort in Askadelarna, der Skrolycka genannt wird?«

Jawohl, das war er. Alle zusammen nickten als Antwort auf diese Frage, aber niemand in der Stube war imstande, ein lautes Wort über die Lippen zu bringen. Sie verwunderten sich sogar darüber, daß Katrine noch so viel Geistesgegenwart hatte, Börje zu knuffen, daß er aufstand und den Abgeordneten sitzen ließ.

Der Abgeordnete zog den Stuhl an den Tisch und legte zuerst einmal die Papierrolle darauf. Dann zog er seine Schnupftabakdose heraus und legte sie neben die Rolle. Darauf wurde die Brille aus dem Futteral genommen und sorgfältig mit dem blaugewürfelten Taschentuch abgerieben.

Als der Abgeordnete mit seinen Vorbereitungen so weit gediehen war, schaute er sich noch einmal im Kreise um. Alle, die dasaßen, waren ganz kleine Leute, die er nicht einmal dem Namen nach kannte.

»Ich möchte mit Jan Andersson in Skrolycka reden,« sagte er.

»Das ist der, der dort liegt,« bemerkte der Netzstricker und deutete auf das Bett.

»Ist er krank?« erkundigte sich der Reichstagsabgeordnete.

»Nein!« antworteten mehrere zugleich.

»Und er ist auch nicht betrunken,« fügte Börje hinzu.

»Er schläft auch nicht,« sagte der Netzstricker.

»Er ist heute schon sehr weit gegangen, deshalb ist er müde,« sagte Katrine. Sie meinte, es sei am besten, die Sache auf diese Weise zu erklären.

Zu gleicher Zeit beugte sie sich über ihren Mann vor und versuchte, ihn zum Aufstehen zu bewegen.

Allein Jan blieb liegen.

»Versteht er, was ich sage?« fragte der Abgeordnete.

»Ja, jawohl,« versicherten alle, die dasaßen.

»Vielleicht erwartet er keine guten Nachrichten, weil's der Herr Reichstagsabgeordnete Karl Karlsson von Storvik ist, der zu ihm aus Besuch kommt,« meinte der Netzstricker.

Der Abgeordnete drehte den Kopf und schaute den Netzstricker mit seinen kleinen rotgeränderten Augen an.

Dann sagte er:

»Ol' Bengsta in Ljusterby hat sich nicht jederzeit so davor gefürchtet, mit Karl Karlsson von Storvik zusammenzutreffen.«

Darauf drehte er sich wieder dem Tische zu und fing an, in einem Briefe zu lesen.

Die andern aber waren beinahe außer sich vor Freude. Er hatte mit freundlicher Stimme gesprochen, ja man hätte beinahe meinen können, er verziehe den Mund zu einem Lächeln.

»Die Sache verhält sich nämlich so,« fing der Abgeordnete an. »Vor ein paar Tagen habe ich einen Brief bekommen von einer, die sich Klara Fina Gulleborg Janstochter aus Skrolycka unterschreibt, und in diesem Brief teilt sie mir mit, sie sei aus der Heimat weggegangen, um zweihundert Reichstaler zu verdienen, die ihre Eltern am ersten Oktober Lars Gunnarsson für das Eigentumsrecht an dem Boden, auf dem ihr Häuschen steht, bezahlen müßten.«

Hier machte der Reichstagsabgeordnete eine Pause, damit die Zuhörer seinen Auseinandersetzungen besser folgen konnten.

»Und nun schickt sie mir das Geld,« fuhr er fort. »Sie bittet mich, selbst nach Askedalarna zu gehen und die Sache mit dem neuen Eigentümer auf Falla vollständig in Ordnung zu bringen, damit er nicht später mit neuen Schwierigkeiten kommen könne. Das ist ein sehr verständiges Mädchen,« lobte er und hob den Brief in die Höhe. »Sie wendet sich gleich von Anfang an an mich. Wenn das nur alle so machen würden, dann stünde es besser hier um die Gemeinde.«

Ehe er noch ausgesprochen hatte, saß Jan auf dem Bettrand und sagte:

»Was ist's mit dem Mädchen? Wo ist sie?«

»Und jetzt will ich fragen, ob die Eltern mit der Tochter einig sind und mir den Auftrag geben, abzuschließen mit–-«

»Aber das Mädchen, das Mädchen!« rief Jan. »Wo ist sie denn?«

»Wo sie ist?« sagte der Reichstagsabgeordnete und schaute wieder in den Brief. »Sie sagt, es sei ihr nicht möglich gewesen, in ein paar Monaten so viel Geld zu verdienen; aber jetzt habe sie eine Stelle gefunden, bei einer freundlichen Frau, die ihr das Geld als Vorschuß gegeben habe, und bei ihr müsse sie nun bleiben, bis es abverdient sei.«

»Und sie kommt also jetzt noch nicht zurück?« fragte Jan.

»Nein, vorerst nicht, wie es mir scheint,« antwortete der Abgeordnete.

Da legte sich Jan wieder nieder und kehrte sein Gesicht der Wand zu wie vorher.

Was kümmerte er sich noch um das Häuschen und alles andere? Was galt ihm das Leben, wenn sein kleines Mädchen nicht heimkam?


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