Michaïl Kusmín
Die grüne Nachtigall und andere Novellen
Michaïl Kusmín

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Ein Meister in seinem Fach

Meine Bekannten hatten im letzten Sommer zwei Dienstmädchen, die beide Polja hießen. Die eine hieß eigentlich mit dem richtigen Namen Pelageja und die andere Pawla; aber man nannte sie alle beide abgekürzt Polja, und zwar zur besseren Unterscheidung die eine »Zimmer-Polja« und die andere »Küchen-Polja«. Die Familie war vernünftig genug, um auf die weiblichen Dienstboten nicht den moralischen Maßstab anzuwenden, dem auch die Herrschaft selbst gar nicht entsprechen konnte; darum wurde von den Mädchen nichts mehr verlangt, als daß sie ihre Arbeit anständig verrichteten und ein sympathisches Wesen zeigten. In bezug auf Ausgänge und Herzensaffären genossen sie vollkommene Freiheit, von der aber eine jede auf ihre Art Gebrauch machte.

Pawla, oder die Küchen-Polja, hatte kein Verständnis für ruhige Gefühle; und wenn die Liebe nicht von Eifersucht, Verrat, Schlägen und der Gefahr, mit Vitriol begossen zu werden, begleitet war, so hielt sie sie nur für eine uninteressante Intrige. Die weniger romantisch gestimmte Zimmer-Polja machte ganz einfach die Bekanntschaft eines Meisters aus einer nahen Friseurstube und war bereits gegen Ende des Sommers mit ihm verlobt. Wir alle sahen öfters ihren Bräutigam: nicht nur wenn wir uns von ihm rasieren ließen, sondern auch, wenn er in seinem neuen Anzug, mit Handschuhen und Spazierstock in der Hand, die Zimmer-Polja spazieren führte.

Er hieß Denis Petrowitsch Kotow, nannte sich aber infolge der in seinem Berufe begründeten Vorliebe für alles Elegante und Gewählte nicht anders als »Monsieur Dionys«, worüber wir immer lachen mußten, weil uns dieser Name an den bekannten Roman »Zorn des Dionysos« erinnerte.

Dionysos war ein schwächlicher junger Mann, blond, und mit etwas schielenden Augen, was ihn aber gar nicht hinderte, sehr sorgfältig zu rasieren, wobei er nicht das französische System anwandte, dessen Hauptwitz darin liegt, daß man mit einem einzigen Hieb des Rasiermessers eine ganze Backe auf einmal abrasiert (es ist kein besonders angenehmes System), sondern das russische System, welches darin besteht, daß man jedes Fleckchen der Haut für sich leicht und sorgfältig abschabt und die ganze Arbeit als eine Art unendlich feine, augentötende Handarbeit betreibt. Er war sehr sanft und empfindsam und gebrauchte im Gespräch gerne gewählte Ausdrücke. Die Zimmer-Polja hätte einen besseren Gatten gar nicht finden können, um so mehr als Dionys, trotz seiner Vorliebe für elegante Kleidung, eine gewisse Summe zusammengespart hatte, mit der er in nächster Zeit ein eigenes Geschäft zu gründen beabsichtigte.

Die Zimmer-Polja teilte uns das alles so treuherzig und freudestrahlend mit, daß es uns ein Vergnügen war, die Entwicklung dieser empfindsamen und idyllischen Geschichte zu verfolgen.

»Polja, Sie sollten doch Ihren Denis Petrowitsch aufs Land schicken, damit er eine Kumys-Kur durchmacht. Er sieht gar zu kränklich aus.«

»Finden Sie? Nein, er ist vollkommen gesund; er sieht nur so schmächtig und unansehnlich aus, aber er ist gesund. Ich bin ja auch keine Riesin, mir genügt er . . .«

Wir nahmen wohl mit Recht an, daß die verliebte Polja einfach Angst hatte, ihren Verlobten für die Dauer der Kur aus den Augen zu lassen, und daß sie vom Wunsche beseelt war, sobald als möglich ein glückliches Hauswesen mit ihrem schieläugigen Monsieur Dionys zu gründen.

Da brach aber der Krieg aus, und eines Tages hörten wir, daß der Friseur sich als Freiwilliger gemeldet hatte. Polja teilte uns dies mit demselben zufriedenen Gesicht mit, mit dem sie uns vorher von ihrer bevorstehenden Hochzeit erzählt hatte.

Diese Gleichgültigkeit war um so erstaunlicher, als das Mädchen sonst von einer übertriebenen Empfindsamkeit war. Sie hatte sich aber schon im voraus in die Rolle der tapferen und lustigen Helferin ihres zukünftigen Gatten eingelebt, der Gattin, mit der sich der Mann auf Schritt und Tritt berät, die ihn für gewissenhaft und rechtschaffen hält und die seine Entschlüsse immer unterstützt, auch wenn sie ihrem unverständigen Herzen noch soviel Kummer bereiteten. Auch diesmal konnte man aus ihren Worten die geschraubten Redewendungen ihres Dionys heraushören, die sie vielleicht nicht ganz verstanden, aber jedenfalls mit Liebe hingenommen hatte.

»Wie kann Denis Petrowitsch zurückbleiben, wo alle, halbe Kinder und solide Männer hinausziehen? Man wollte ihn anfangs auch gar nicht nehmen, denn er ist gar zu schmächtig und schielt ein wenig; aber er setzte es doch durch. Bedenken Sie nur: es ist eine Zeit, wie wir sie vielleicht nie wieder erleben! Es ist ja gewiß eine schwere Prüfung, aber man muß auch Gott danken, daß es uns vergönnt ist, diese Zeiten zu erleben und daß wir sagen dürfen: Auch wir waren dabei!«

»Und Sie wollen ganz allein zurückbleiben, Polja?«

Das Mädchen schien ganz erstaunt, daß man von ihr überhaupt sprach.

»Ich? Mein Gott! Was tun denn die anderen? Bin ich denn irgendwie besonders? Natürlich heiraten wir, bevor Denis Petrowitsch ins Feld kommt; gleich nach Maria Himmelfahrt wollen wir heiraten, damit es fester hält. Und dann werde ich warten. Der Krieg wird doch nicht ewig dauern! Wir wollen sogar das Geschäftslokal schon jetzt mieten.«

Polja war also wieder die Zimmer-Polja; das heißt, sie kehrte zu meinen Bekannten zurück. Dionys ließ sich mit ihr tatsächlich trauen und zog mit seinem Regiment hinaus; seine Frau band sich aber wieder die Schürze vor und nahm den Staubwedel in die Hand.

Als wir alle von der Sommerfrische in die Stadt zurückgekehrt waren, kam ich mit meinen Bekannten selten zusammen und verlor daher den tapferen Dionys und seine zärtliche Freundin aus dem Gesicht. Endlich ging ich aber doch einmal hin. Es fiel mir gleich auf, daß das Zimmermädchen sehr schlecht aussah; ich schrieb es aber der ungenügenden Beleuchtung im Vorzimmer zu. Etwas später fragte ich die Hausfrau:

»Was hat eigentlich Ihre Zimmer-Polja? Ist mit ihr etwas passiert?«

»Da sieht man, daß Sie bei uns seit einer Ewigkeit nicht mehr gewesen sind! Sie wissen nichts von den wichtigsten Ereignissen! Der arme Dionys hat ja beide Beine verloren!«

»Was Sie sagen! Der arme Dionys, die arme Polja! Wo ist er nun jetzt?«

»Denken Sie sich nur: noch immer draußen!«

»An der Front?«

»Ja.«

»Wie ist es nur möglich? Ohne Beine?«

»Natürlich ist er dort nicht mehr Soldat! Ich will Ihnen übrigens seinen Brief zeigen.«

Die Frau ging für einen Augenblick hinaus und kam mit einem Briefbogen in der Hand zurück, den sie mir einhändigte. Im ersten Augenblick dachte ich nicht daran, daß der Friseur beide Beine und nicht beide Arme verloren hatte, und war daher über die vollendet kalligraphische Handschrift erstaunt. Die Handschrift war wirklich ganz hervorragend schön, ebenso auch der Ton des Briefes, welcher zeigte, daß Denis Kotow trotz seiner modernen Kleidung und seines komischen Namens doch ein echter Russe war, ein würdevoller und solider Mensch, der einen Brief nicht als ein flüchtiges Lebenszeichen betrachtet, sondern als ein historisches Sendschreiben.

»Meine liebste Gemahlin Pelageja Nilowna! Nachdem ich Ihnen zu allererst Gesundheit und Wohlergehen wünsche, teile ich Ihnen mit, daß ich am Leben und bei bester Gesundheit bin. Mit dem Feind kamen wir an die fünfmal zusammen, und wenn es auch zu keiner wirklichen Schlacht kam, so ist die Schießerei doch immer lebensgefährlich, und es kommt so auf dasselbe hinaus. Das geniert einen nur in den ersten zwei Tagen; dann gewöhnt man sich an alles und fühlt sich ganz normal, als ob nichts Besonderes los wäre. Die Verpflegung ist nicht schlecht, und wir leiden auch soweit keinen Mangel. Was braucht auch der Mensch? Die Gegend ist jetzt überall die gleiche, aber in Friedenszeiten ist es hier sicher sehr schön, besonders wenn man draußen auf dem Lande wohnt. Den Tabaksbeutel, den Sie mir genäht haben, habe ich noch auf der Reise verloren. Ferner teile ich Ihnen, Pelageja Nilowna, mit, daß mir am siebzehnten dieses Monats etwas Unangenehmes passiert ist: durch eine Granate wurde mir das linke Bein weggerissen, und als man mich im Lazarett untersuchte, so stellte es sich heraus, daß man auch das andere amputieren mußte. Das habe ich alles glücklich überstanden, und ich wollte Ihnen bisher nichts davon schreiben, um Sie nicht unnötigerweise zu beunruhigen, ehe sich das endgültige Ergebnis meiner Lage zeigte. Nun ist alles nach bestem Wunsch erledigt, und ich kann Ihnen sagen, daß ich mich entschlossen habe, an die Front zurückzukehren, natürlich nicht mehr als Gemeiner in den Schützengraben, sondern in die Etappe, da ich ein Meister in meinem Fache bin und an solchen Leuten ein Mangel herrscht. Ein jeder dient wie er kann. Man wollte mir mein Bein zeigen, ich wollte es aber nicht sehen. Ich muß Ihnen gestehen, teuerste Pelageja Nilowna, daß mir Tränen in die Augen traten, als ich diesen Vorschlag hörte. Das war natürlich gleich nach der Operation, und ich war sehr schwach, sonst würde ich mir daraus nichts machen. Die Ärzte sagten mir das, nicht um über mich zu lachen, sondern weil sich die andern oft für die Glieder interessieren, die man ihnen amputiert hat. Ich hoffe, daß Sie jetzt, nachdem Sie erfahren haben, daß ich am Leben und beim besten Wohlergehen bin und wieder in meinem Fache arbeite, sich nicht umsonst grämen, sondern gemeinsam mit mir dem allbarmherzigen Herrn und Heiland danken werden.«

Dann folgten die obligaten Grüße; zum Schluß hielt es der Briefschreiber doch nicht aus und unterzeichnete seine Epistel mit: »Der Ihnen wohlbekannte Monsieur Dionys.«

Die Hausfrau hatte gewartet, bis ich mit der Lektüre fertig war, und sagte:

»Diese Gefühlslosigkeit ist doch wirklich erstaunlich! Er machte immer den Eindruck eines durchaus intelligenten Menschen; nun kommt aber doch der Bauer zum Vorschein!«

»Mir scheint, Sie mißbilligen seine Geistesgegenwart?«

»Nein, ich staune nur.«

»Nun, und wie, nahm Polja diese Nachricht auf?«

Die Dame zuckte die Achseln, errötete und sagte mit unzufriedener Stimme:

»Sie hat mich förmlich totgeschlagen. Das hatte ich von ihr wirklich nicht erwartet.«

Ich war natürlich begierig zu hören, wodurch ein so gutmütiges Geschöpf wie die Polja meine Bekannte hatte so erbittern und selbst »totschlagen« können.

»Erlauben Sie einmal! Anfangs weint sie natürlich und reibt sich die Augen. Doch am gleichen Abend kommt sie zu mir und fragt mich: ›Was meinen Sie, gnädige Frau: da Denis Petrowitsch jetzt ohne Beine ist, wird er doch irgendwelche besondere kurze Hosen tragen müssen; ihm sind aber noch drei Paar ganz neue lange Hosen geblieben; was soll ich mit diesen Hosen tun? Verkaufen?‹ Vor Empörung verlor ich sogar die Sprache; aber nachher schrie ich sie so an, daß sie zu weinen anfing. Dann schlossen wir wieder Frieden. Nein, denken Sie sich nur diese Gefühlsroheit: der Mann hat beide Beine verloren, und sie sitzt da und zerbricht sich den Kopf, was sie mit seinen Beinkleidern anfangen soll!«

»Auf den ersten Blick mag das ja wirklich ungeheuerlich und komisch erscheinen; aber wissen Sie, wie ich darüber denke? Ich glaube, daß ihr Mann, trotz seines Berufes und trotz seiner gewählten Ausdrucksweise, trotzdem er Monsieur Dionys heißt, bunte Schlipse trägt und in sein Poesiealbum Verse schreibt, daß er trotz alledem, als ein Meister in seinem Fach, den Hausfraueninstinkt Poljas, der in ihren Worten zum Durchbruch kam, zu würdigen wissen wird. Eine andere würde tagelang weinen, sich dann von ihrem verstümmelten Manne lossagen und ihr Schicksal beklagen; diese überlegt sich aber gleich, wie sie unter den gegebenen Umständen leben soll. Sie denkt gleich an die Wirtschaft; ihre Worte zeugen nicht von Erbitterung, nicht von Aufruhr gegen das Schicksal oder Verzweiflung, sondern von treuer Liebe und Wirtschaftlichkeit. Sie ist eine gute Hausfrau und eine verläßliche Stütze ihres Mannes. Und das ist nach meiner Ansicht gar nicht zu unterschätzen.«

»Ich weiß wirklich nicht, Sie müssen doch immer etwas Originelles sagen.«

Ich glaube aber, daß ich mich kaum origineller gebärdete, als Polja selbst, die in diesem Augenblick den Tee herumreichte, sicher, freundlich und still, wie eine echte Meisterin in ihrem Fach.

 


 


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