Michaïl Kusmín
Die grüne Nachtigall und andere Novellen
Michaïl Kusmín

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VI.

Die ersten Worte, die Madame Garnier an mich am nächsten Morgen richtete, waren:

»Erklären Sie mir, was das alles zu bedeuten hat!«

»Ich wollte Sie vor den unangenehmen Begegnungen mit jenem Herrn schützen . . .«

»Ja, Sie erreichen aber damit nur das, daß ich die Begegnung mit Ihnen für eine der unangenehmsten halten werde, die ich je im Leben hatte. Was soll ich jetzt meinem Manne sagen? Sie werden doch zugeben müssen, daß es etwas peinlich ist, vor dem Fenster seiner Frau einen ungebetenen Beschützer zu treffen!«

»War es denn ihr Gemahl?«

»Gewiß. Er ist erst gestern aus Rom gekommen. Das Schloß in seiner Zimmertüre war verdorben, und da er so spät keinen Schlosser finden konnte, machte er den Versuch, zu mir durchs Fenster zu gelangen; unsere Zimmer liegen im Parterre und auf dem gleichen Korridor.«

»Und ich glaubte, es sei Bruck gewesen.«

»Bruck? Was hat der bei mir zu suchen?«

»Das weiß ich natürlich nicht.«

»Hören Sie einmal, auch Vermutungen sollen ihre Grenzen haben! Außerdem ist Bruck plötzlich verschwunden, ich glaube gar, er ist abgereist. Ich kann unmöglich begreifen, warum er nicht die Ankunft meines Mannes abgewartet hat, der ihm doch sicher meine Schuld von zehntausend Franken bezahlt hätte. Ich wollte ursprünglich die Sache vor meinem Mann verheimlichen, mußte ihm schließlich aber doch alles sagen. Und dieser komische Bruck verschwindet gerade in dem Augenblick, wo sein Wunsch hätte in Erfüllung gehen können!«

»War er also nur Ihr Gläubiger?«

Madame Garnier lächelte.

»Gewiß. Er ist der Vertreter eines großen Geschäftshauses. Ich weiß zwar, daß die gesellschaftliche Position eines Menschen in Liebesangelegenheiten nicht die geringste Rolle spielt, aber Bruck dachte ganz gewiß an keinen Roman mit mir. Auch machte ich wohl auf ihn nicht genügend Eindruck.«

Nach einer Pause fügte sie hinzu:

»Wir wollen uns aber nicht zanken! Ich bin Ihnen immerhin dankbar, daß Sie mich von diesem Bruck erlöst haben.«

Wieder glitt ein Lächeln über ihre Lippen, und es ist mir auch heute nicht bekannt, ob Madame Garnier weiß, daß ich ihre Schuld beglichen habe.

 


 


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