Michaïl Kusmín
Die grüne Nachtigall und andere Novellen
Michaïl Kusmín

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Der Überfall auf Barssukowka

I.

Die Handarbeit wollte heute bei Maschenjka nicht recht vorwärts kommen: Bald mischte sie in den blauen Grund grüne Perlen, bald stickte sie die Rosen mit lila, bald fielen die gelben Perlen auseinander; als ob sie statt ihrer früheren flinken und kunstvollen Fingerchen mit Werg ausgestopfte Stummel hätte. Es war aber ein ganz gewöhnlicher Tag, genau wie der gestrige und der vorgestrige Tag, und wohl auch wie der morgige sechste August, auf den das Fest der Verklärung unseres Herrn und Heilands fällt und an dem in der Kirche Äpfel geweiht werden, aus welchen man nachher Kuchen bäckt. Selbst die Unruhe, mit der Maschenjka aus ihrem Mezzanin auf die hinter dem Garten sich hinziehende Landstraße blickte, war die alte und unterschied sich gar nicht von ihrer gestrigen und vorgestrigen Unruhe; warum gerieten dann die grünen Perlen in den blauen Grund, und warum fielen die gelben von selbst auseinander?

Sie seufzte auf, legte ihre Handarbeit, einen Perlenbeutel mit Rosen und Vergißmeinnicht, auf die Seite, stützte sich auf einen Ellenbogen und begann auf das ihr von Kind auf vertraute Bild hinauszuschauen: den Garten, den Hof, die den Hügel hinaufsteigende Landstraße, die Windmühlen und den kaum sichtbaren See in der Ferne. Der Tag war weder heiter, noch trüb; manchmal kam die Sonne zum Vorschein, und manchmal fielen wieder einige Regentropfen. Alles war so gewöhnlich, daß Maria Petrowna Barssukow nicht nur alle Vorbeigehenden kannte, sondern auch ganz genau wußte, woher, wohin, warum und wozu ein jeder ging; ihre Beobachtungen konnten ihr daher nur den Genuß der Bestätigung altbekannter Tatsachen gewähren: nämlich daß Fjokla vom Viehhofe in die Küche ging; daß der kleine Lakai Kusjka in den Keller lief, um für Maschas Vater, Pjotr Trifonowitsch, der soeben von seinem Nachmittagsschläfchen erwacht war, einen kühlen Trunk zu holen, und daß die alte Markowna Pilze für das Abendessen brachte. Das alles war ihr wohlbekannt, und die Beständigkeit der Erscheinungen, die dem Herzen eine gewisse Beruhigung gewährt, flößt ihm zugleich ein bedrückendes und hoffnungsloses Gefühl ein, das der Langeweile gleicht.

Maria Petrowna kannte nicht nur alle Vorbeigehenden, sondern auch alle Töne, deren Ursprung unsichtbar war; sie kannte auch die Ursache und den Zweck eines jeden Lautes. Da knarrt das Tor, das Vieh wird hereingelassen, und das Brüllen der Kühe und das Blöken der Schafe kommen immer näher; in der Küche werden die Koteletts gehackt; auf der Viehweide wird gesungen; am Weiher klopft das Waschholz; im runden Salon übt Bruder Iljuscha ein Stück von Haydn, und bald erschallt hinter dem Fliederbusch der Pfiff, den sie immer um diese Stunde erwartet und der jedesmal ihren Herzschlag beschleunigt und auf ihre Wangen Rosen malt. Nach diesem Pfiff kommt jedesmal die barfüßige Fenja, Maria Petrownas Zofe und Vertraute, mit dem Ausdruck einer Verschwörerin und mit der stets gleichen freudigen Bestürzung auf dem runden Gesicht. Sie flüstert: »Es pfeift«, worauf Mascha erwidert: »Ich hab's gehört; halte nur Wache, Fenja.« Jedesmal sagt das Mädel: »Ich hab solche Angst, Fräulein! Wenn uns Pjotr Trifonowitsch erwischt, wird er mich auspeitschen und Sie bei den Zöpfen raufen!« Und dann verschwindet sie wie der Blitz im Gebüsch.

So war es auch dieses Mal: Kaum erklang im Flieder der leise Pfiff, als an der Schwelle Fenja erschien, und der Dialog zwischen dem Fräulein und der Zofe seinen gewöhnlichen Verlauf nahm. Und diese Wiederholung der Worte und des Herzklopfens, des Angstgefühls und der Liebessehnsucht erschienen ihr durchaus nicht langweilig, sondern waren jedesmal neu, noch nicht dagewesen und unerwartet. Ohne sich dessen bewußt zu sein, dachte Maria Petrowna jeden Abend beim Einschlafen als echte Naschkatze, wie morgen das Stelldichein verlaufen und wie ihr Grischa Iljitschewskij erscheinen würde: ob lustig, leidenschaftlich, enttäuscht, stolz, traurig oder schmachtend?

Sich mit den Beinen in den allzu langen Röcken verfangend und mit dem Strohhut über den glattgekämmten Haaren in den niederen Baumästen hängen bleibend, erreichte Mascha ein abseits stehendes Gartenhaus mit bunten Fenstern und zwei Eingangstüren; auf der Decke hatte ein leibeigener Künstler nach mündlichen Angaben Pjotr Trifonowitschs, der einmal in Italien gewesen und den schönen Künsten nicht abhold war, Guido Renis »Aurora« dargestellt.

Maria Petrowna stellte Fenja als Wachtposten draußen vor dem Eingange auf; kaum hatte sie die Schwelle überschritten, als sie von einem schlanken, kräftigen jungen Mann, dessen unverfälschte rosige Gesichtsfarbe, blendend weiße Zähne, unfügsames blondes Haar und treuherzige graue Augen von seiner ländlichen Herkunft zeugten, in die Arme geschlossen wurde. Nachdem die Verliebten ihrer unschuldigen Liebe den ersten Tribut gezollt, ließen sie sich, ohne die Hände voneinander zu lösen, auf die Bank nieder. Das Mädchen lehnte ihren Kopf an die Schulter des Jünglings, und dieser fragte sie mit vor Erregung bebender Stimme:

»Hast du mit dem Vater noch nicht gesprochen?«

»Wie wäre es möglich? Ich glaube, daß er mich eher töten, als meinem Wunsche willfahren würde. Ich kann mich sogar nicht entschließen, mich meinem Bruder Iljuscha anzuvertrauen.«

»Das wäre auch nicht nötig: je weniger Menschen eingeweiht sind, desto zuverlässiger wird das Geheimnis bewahrt. Verzage aber nicht: ich habe einen vortrefflichen, wenn auch kühnen Plan gefaßt. So Gott will, gelingt er mir, und dann wird uns nichts in der Welt mehr trennen können. Sei tapfer und vertraue mir.«

»Wie könntest du daran zweifeln, Grischenjka?« fragte Maria Petrowna, mit Zuversicht und Liebe in die treuherzigen und offenen Augen ihres Geliebten blickend, in denen sie Einfalt, Keuschheit und Ergebenheit lesen konnte, aber nichts von jenem vortrefflichen und kühnen Plan, von dem Grigorij Alexejewitsch soeben sprach.

Er drückte dem Mädchen fest die Hand, schwieg eine Weile, und fuhr dann mit besorgter und geheimnisvoller Miene fort:

»Was du über mich auch hören wirst, sollst du keinem Gerücht und keinem Gerede glauben. Tue so, als ob du alles glaubtest; doch im Herzen glaube nichts. Ich werde dich durch Wassilij benachrichtigen, was zu tun ist; du sollst ihm folgen und vertrauen wie dem Worte der Heiligen Schrift. Sei auf alles bereit und wisse, daß nichts Böses geschehen wird. Heute will ich dir nichts mehr sagen.«

Mascha schmiegte sich noch enger an den jungen Mann und begann wehmütig:

»Wenn es nur einmal ein Ende nimmt, Grischenjka! Ich kann es nicht länger ertragen; jeden Tag, bevor ich deinen Pfiff höre, verbrenne ich wie im Fieber; heute konnte ich nicht einmal sticken und habe alle Perlen durcheinander gebracht.«

»Hat jemand von den Deinigen etwas gemerkt?«

»Gewiß nicht. Der Vater schläft meistenteils, und wenn er nicht schläft, so schreit er die Dienstboten an. Und Bruder Ilja? Er liest seine Bücher, geht spazieren und begleitet mich, wenn ich singe, auf dem Klavier; doch er spricht mit mir fast nie. Bald kommt ja der Herbst!«

»Es gibt viele Schwämme: im Vorbeigehen habe ich es gesehen.«

»Jeden Tag essen wir welche. Ich wollte mit den Mädchen auf die Schwammsuche gehen, Vater erlaubte es aber nicht.«

In diesem Augenblick erschien in der Türe das runde Gesicht ihrer treuen Wächterin, und Fenja flüsterte, erregt mit den Händen winkend:

»Fräulein, man ruft Sie zum Abendessen, man kommt her!«

Grigorij Alexejewitsch umarmte Maschenjka, flüsterte ihr zum Abschied: »Sei bereit, Freundin, und verzage nicht!« verließ das Gartenhaus und verschwand im Dickicht, während Maria Petrowna in Begleitung ihrer barfüßigen Zofe nicht zu schnell, gleichsam lustwandelnd, die Richtung zum Hause einschlug, aus dem die schwachen Töne eines Haydnschen Menuetts wie das Summen eines Samowars klangen, und auf dessen Balkone die mächtige Gestalt ihres Vaters Pjotr Trifonowitsch Barssukow sich als dunkle Silhouette vom Abendhimmel abhob.


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