Michaïl Kusmín
Die grüne Nachtigall und andere Novellen
Michaïl Kusmín

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V.

Es war mir nicht vergönnt, bei dieser Gelegenheit Signore Procacci, für den ich eine so aufrichtige Neigung und Hingebung empfand, zu sehen. Valerio war nämlich seit diesem Vormittag verschwunden, und niemand wußte, wo er sich aufhielt. Man hätte annehmen können, daß er vom Grafen Parabosco umgebracht worden sei, wenn Clementina nicht vollkommene Ruhe bewahrte, was im Falle seines gewaltsamen Todes wohl kaum möglich wäre. So vergingen etwa fünf Tage. Gelegentlich eines zweiten Besuches im Hause der Signora Ridi erfuhr ich, daß die Dame, die mich bei meinem ersten Besuche so sehr bezaubert hatte, nur eine Magd Scolasticas war: wie es bei Damen von gottgefälligem Lebenswandel oft der Fall ist, hatte sie ausgesucht liederliche Dienstboten. Ich muß gestehen, daß die Anziehungskraft, die sie auf mich übte, durch diese Entdeckung in keiner Weise beeinträchtigt wurde; sogar im Gegenteil: ihre Reize wirkten auf mich mit noch größerer Kraft, als es sich erwies, daß sie nicht unzugänglich waren. Es kam so weit, daß sie mich zu einem Rendezvous einlud, doch nicht in ihrer Kammer und nicht in meinem Gasthause, sondern draußen im Wäldchen vor der Stadt, wozu sie wohl vom angenehmen Wetter verleitet worden war.

»Bei der Hütte des Anachoreten«, sagte sie.

»Eines Anachoreten? Gibt es denn heutzutage noch Anachoreten?«

»Gewiß! Weißt du denn nicht, daß erst vor einigen Tagen hier vor der Stadt ein heiliger Einsiedler aufgetaucht ist, von dessen göttlichem Lebenswandel die ganze Stadt spricht? Er flieht aber die Menschen, was die letzteren natürlich um so mehr zu ihm hinzieht.«

Ich hatte noch nichts von diesem Anachoreten gehört, versprach ihr aber, abends in das Wäldchen zu kommen.

Das Wäldchen befand sich etwa drei Meilen von der Stadt entfernt. Ich kam lange vor der Stunde hin, wo die Sonnenstrahlen schräg zu fallen und den verzärtelten Stadtbewohnern angenehm zu werden beginnen. An diesem Tage war die Sonnenglut durch die dichten Wolken, die ab und zu über den Himmel zogen und sich zu einer Regenwolke anzusammeln drohten, etwas abgeschwächt. Bald begann es zu regnen, aber Santina, so hieß die Schöne, die ich ursprünglich für Signora Ridi gehalten hatte, war noch immer nicht da. Das Warten im Regen wurde mir zu dumm, und ich beschloß, in der Hütte des Anachoreten Zuflucht zu suchen, die sich übrigens als ein ganz gewöhnlicher verfallener Heuschober ohne Heu herausstellte. In der halbfinsteren Hütte war niemand da. Ich kletterte auf den Heuboden hinauf und spähte durch die Ritzen hinaus, ob meine Geliebte noch nicht käme; gleichzeitig lauschte ich auf jeden Ton, der von unten drang.

Bald ging die Türe auf, und in der Hütte erschien der Einsiedler, eine vermummte und durchnäßte Dame am Arm.

»Das ist ein netter Einsiedler!« dachte ich mir. »Er bringt sich gar Damen mit! Es ist aber auch möglich, daß sie sich einfach verirrte und er sich ihrer in väterlicher Sorge annahm, um ihr Schutz und Obdach zu geben.«

Der Einsiedler benahm sich aber trotz seines langen Bartes durchaus nicht wie ein Vater. Das Paar küßte und herzte sich mit solcher Leidenschaft, daß ich Santina und ihre Treulosigkeit vergaß. Die beiden gerieten immer mehr in Hitze. Er half der Dame, aus dem Mantel und bedeckte ihre bloßen Schultern mit Küssen. Schließlich nahm er sich seinen langen Bart ab und stand, zu meinem größten Erstaunen, als Valerio Procacci da. Nun nahm auch die Dame die Larve vom Gesicht und stellte sich als Clementina Cagliani heraus. Ich schrie vor Entzücken beinahe auf, als ich dieses Liebespaar sah, dessen Glück mir wirklich nahe ging; außerdem waren die beiden so hübsch, daß auch jeder andere an meiner Stelle entzückt sein müßte. Der Regen hatte inzwischen aufgehört, aber Signora Clementina blieb immer da. Ich sah, wie Santina zum Stelldichein kam und wieder fortging; ich konnte ihr aber nicht zurufen, daß ich da sei, ohne meine Anwesenheit dem Paare unter mir zu verraten. Wahrscheinlich machte ich aber in meinem Ärger irgendeine allzu heftige Bewegung, denn die Dame riß plötzlich ihren Mund vom Munde Valerios los und fragte:

»Was hat eben geknarrt? Ist jemand oben?«

»Wer soll oben sein? Es ist dir nur so vorgekommen!« antwortete der junge Mann und küßte sie wieder.

»Nein wirklich, dort rührt sich jemand!«

Nun hielt ich es selbst nicht länger aus, steckte meinen Kopf hervor und sagte laut, um die beiden zu beruhigen:

»Seid unbesorgt, Signore Valerio: das bin nur ich.«

Clementina schrie auf und lief flink wie ein Reh hinaus. Valerio sah mich eine Weile erstaunt und sogar erbost an und brach plötzlich in Lachen aus, indem er sagte: »Tommaso, Tommaso, du mordest mich! Es ist noch dein Glück, daß du dich nicht früher gemeldet hast, sonst hätte ich dich windelweich geprügelt! Wie kommst du her?«

Ich kletterte von meinem Posten hinunter und gab zunächst meiner Freude darüber Ausdruck, daß Procacci am Leben und anscheinend auch sehr glücklich sei. Nachdem wir über Valerios Verkleidung und meinen Beobachtungsposten gelacht hatten, brachten wir das Gespräch auf ernstere Dinge, wobei ich erfuhr, daß ich meinem Freunde bald wieder einen Dienst erweisen können werde. Er vertauschte die Mönchskutte mit seiner gewöhnlichen Kleidung, drückte mir die Hand, umarmte mich und sagte träumerisch:

»Tommaso, du solltest doch Signora Scolastica heiraten!«

»Was fällt Euch ein! Sie wird mich ja gar nicht nehmen wollen.«

»Das ist schon meine Sache und geht dich gar nichts an.«

»Es geht mich gar nichts an? Ich soll sie doch heiraten!«

»Das kann alles Signore Albano einrichten.«

»Ich höre diesen Namen zum erstenmal.«

»Wohl möglich, ändert aber nichts an der Sache.«

»Ich muß gestehen, daß ich noch niemals an diese Heirat gedacht habe, die mich, offen gestanden, wenig reizt.«

»Das ist wieder etwas anderes.«

»Ich würde sogar vorziehen, Santina, die Magd der Signora Ridi, zu heiraten.«

Valerio lächelte.

»Das wäre unüberlegt von dir. Santina ist durchaus keine Dame, die zu heiraten es sich verlohnte. So oft du nach Florenz kommst, wird sie dir immer zur Verfügung stehen.«

Nun fiel mir mein Patron und sein Tuchgeschäft ein, und ich mußte zugeben, daß Procacci recht hatte; ich gab jeden Gedanken an eine Heirat auf und malte mir aus, was für Genüsse mich bei meinen nächsten Besuchen in Florenz erwarteten.

Ich kann nicht sagen, daß Valerio trauriger als gewöhnlich war; er war nur ernster. Sein Gesicht war überhaupt so beschaffen, daß es keinerlei melancholische Gefühle ausdrücken konnte. Er begleitete mich bis zur Stadtgrenze und sagte mir noch einmal, daß ich immer auf seine Hilfe und seinen Beistand rechnen dürfe. Ich blickte ihm lange nach und ging dann langsam in die Stadt, während meine Gedanken mehr mit dem Schicksale Clementinas, als mit meinem verpaßten Stelldichein beschäftigt waren.


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