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Schlafen

Es war zufällig gerade am Sedantag Gedenktag, der im Deutschen Kaiserreich (1871-1918) jährlich um den 2. September gefeiert wurde. Er erinnerte an die Kapitulation der französischen Armee am 2. September 1870 nach der Schlacht bei Sedan im Deutsch-Französischen Krieg. Er errang im Laufe des Kaiserreiches den Status eines inoffiziellen Nationalfeiertages. ( Anm.d.Hrsg.), daß ich zum letzten Mal die Stadt meiner Jugend besuchte. In den beflaggten Straßen umherschlendernd, geriet ich unversehens in den Menschenschwarm, der sich hinter dem Festzug her nach dem Kriegerdenkmal auf dem Friedhof wälzte. Wie war das Fähnlein der Veteranen zusammengeschmolzen, das an der Spitze marschierte. Schwere, gedrungene Männergestalten mit ergrauten Häuptern, die einst als behende Jünglinge im Siegeszuge mitgeschritten waren, und die stämmigen Landwehrleute von dazumal gebeugte Greise. Sie gingen fest zusammengeschlossen und abgesondert von dem großen Haufen, diese Veteranen mit ihren Ehrenzeichen und den in ihren harten Zügen tief eingegrabenen Erinnerungen, wie wandelnde Monumente inmitten einer neuen Zeit, für die der Große Krieg schon fast zum Märchen verklungen war. Selbst ihre Fahne schien nicht mehr so stolz und triumphierend zu flattern, als fühlte auch sie, daß sie nur noch ein Ding der Vergangenheit war. Denn die Errungenschaften des furchtbaren Jahres waren dieser jungen Welt schon ein ererbter Besitz, und von seinen Opfern nannte man kaum noch die Namen. Darum trug auch die Feier, die einst Orgien der Begeisterung entfesselt hatte, jetzt einen kühlen und offiziellen Charakter, und in der Tat war es eines der letzten Male, daß sie überhaupt begangen wurde.

Ich ließ mich vom Takte der Musik mit fortreißen, und ehe ich es wußte und wollte, fand ich mich mit den Andern auf dem Friedhof. Während die Fahnenkränze niedergelegt wurden und ein Festredner vortrat, verlor ich mich in die stillen Alleen des Gartens, die zwischen den eingesunkenen Gräberreihen durchführen. Die lange Zeile der Thujen, die ich, selber noch klein, als kleine Bäumchen gekannt hatte, fand ich als stattliche Bäume wieder. Ich entzifferte auf den Steinen manchen wohlbekannten, schon halb verwaschenen Namen, andere, deren Träger ich noch am Leben geglaubt hatte, blinkten mir von frischen Monumenten als traurige Überraschung entgegen. Tod und Leben sprachen heute von nichts anderem als von dem Wandel der Zeit.

Als ich von meinem Rundgang zurückkam, war die Feier schon zu Ende, und die Versammlung hatte sich aufgelöst; nur wenige Personen blieben bei dem frisch geschmückten Obelisken zurück. Unter diesen fiel mir ein dürftig gekleidetes altes Frauchen auf, das unverwandt, aber mit einem Ausdruck des Vorwurfs zu der goldenen Inschrift emporstarrte, welche die Namen der im Siebzigerkriege Gefallenen der Nachwelt aufbewahrt. Es war nicht möglich, aus ihrem Äußeren auf den Stand, dem sie etwa angehören mochte, zu schließen, aber jeder Zug ihres vergrämten runzligen Gesichtes sagte mir, daß ich eine trauernde Mutter vor mir sah. Hier war eine, die vom Wandel der Zeit nichts wußte – die Wunde, die sie im Herzen trug, war unverheilt und blutete beim Anblick dieser Marmortafel aufs neue. Als sie sich beobachtet sah, geriet sie in Verwirrung und wendete sich verschüchtert hinweg, wie wenn ich sie auf unrechten Wegen ertappt hätte. Unwillkürlich drängte sich mir die Frage über die Lippen, ob sie unter den Braven, denen dieser Denkstein errichtet sei, einen lieben Angehörigen habe.

Aber gleich bereute ich meine Worte, denn ich sah, daß eine heiße Röte in die wellen Wangen des Weibleins stieg und sich bis über die von dünnem weißem Haar umrahmte Stirn verbreitete, während Tränen in ihre Augen traten.

»Nein, meines Wilhelms Name steht nicht auf dem Stein,« antwortete sie mit vor Unwillen und Kränkung zitternder Stimme – »und er ist doch so gut wie die andern fürs Vaterland gefallen – aber meinen Wilhelm haben sie vergessen.«

Dabei rannen ihr die Tränen plötzlich und unaufhaltsam nieder, und sie sah sich wie hilfesuchend nach einem der Veteranen um, die noch bei dem Denkmal standen, einem rüstigen, mit dem Eisernen Kreuze geschmückten Mann, der freundlich zu ihr trat.

»Sehen Sie, Herr Inspektor,« rief sie ihm mit klagendem Ton entgegen, »noch immer steht meines Wilhelms Name nicht auf dem Stein.«

»Lassen Sie's gut sein, Frau Präzeptorin, die Herren haben jetzt anderes zu denken. Was liegt auch an dem Namen! Deshalb wird doch an dieser Stelle für Ihren Wilhelm so viel und vielleicht noch mehr gebetet als für irgend einen von diesen braven Gefallenen.«

In diesen einfachen Worten und in dem Ton, womit sie gesprochen wurden, lag ein gewisses Etwas, das mich seltsam berührte. Zudem wollte mir das Gesicht des Mannes bekannt erscheinen, ich hatte aber keine Zeit, mich darüber zu besinnen, denn das Gespräch der beiden fesselte meine Aufmerksamkeit.

»Ja, das sagen Sie mir jedesmal, Herr Inspektor,« entgegnete die alte Frau im vorwurfsvollen Tone eines Kindes, dem der Erwachsene die Erfüllung eines Versprechens schuldig geblieben ist. – »Aber das ist ein schlechter Trost für eine Mutter, die ihren liebsten Sohn hat hergeben müssen. Anfangs freilich, so lange mein armer Wilhelm noch zu den Vermißten gerechnet wurde, da konnten sie seinen Namen nicht hinaufsetzen zu den anderen, aber jetzt – wo seit so langer Zeit jede Hoffnung verschwunden ist« – ein Schluchzen riß ihr die Worte ab. »Ich kann's eben nicht verwinden, Herr Inspektor,« fuhr sie trostlos fort, »daß mein armer Bub allein von allen vergessen sein soll.«

»Die dabei waren, werden ihn nicht vergessen,« entgegnete der alte Soldat in einem Ton, der tröstlich klingen sollte, durch den es aber wie ein heimliches Zittern lief. »Und,« setzte er mit sinkender Stimme hinzu, »um keinen haben die Kameraden mehr geweint.«

Diese letzten Worte schienen die alte Frau ein wenig aufzurichten.

»Er war ein so lieber, herzensguter Mensch, mein Wilhelm,« sagte sie, zu mir gewendet, »alle waren ihm gut, die ihn kannten. Aber man hätte ihn mir so jung nicht nehmen sollen, er war ja gar nicht stark genug für die schrecklichen Strapazen, und wenn ihn auch die Kugel bei Champigny verschont hätte, so wäre er mir doch nicht gesund zurückgekehrt. Sie wissen es ja, was für ein zartes Pflänzchen er war, Herr Inspektor. Er ist eben im Leid zur Welt gekommen, nachdem sein Vater schon gestorben war, und hat nie die rechte Lebenskraft gehabt wie seine Brüder. Dabei war er doch so brav, so fleißig, der beste von allen. Das Frühaufstehen fiel ihm schwer, und doch war er immer der erste in der Schule. Abends fand ich ihn oft über seinen Büchern eingeschlafen, es zerriß mir dann das Herz, daß ich ihn wecken mußte, aber der Herr Lehrer war so streng, und die Aufgaben mußten gemacht sein. Und wie er sich dabei noch Mühe gab, mir zu helfen, woran keiner von den andern dachte! Wie er das Wasser für mich schleppte und das Holz klein machte, die Einkäufe besorgte. Einen besseren Sohn hat es nie auf der Welt gegeben. Alles tat er für seine Mutter, wenn er auch oft die Augen kaum offen halten konnte vor Müdigkeit. Ach, was mag er ausgestanden haben bei dem harten Dienst, mein armer Wilhelm! – Daran darf ich gar nicht denken.«

Der alte Soldat, an den diese Worte gerichtet hörte ihr geduldig zu, obgleich er dieselben Reden wohl schon hundertmal aus ihrem Munde vernommen haben mochte. Er hatte sie vorsichtig untergefaßt, da ihr beim Herabsteigen der Fuß an dem niedrigen Unterbau des Obelisken ausgeglitten war, und leitete die alte Frau über den rauhen Kiesweg sorgsam bis ans Gittertor.

Unwillkürlich schloß ich mich den beiden an, mehr und mehr betroffen von der Aufmerksamkeit des derben Veteranen für dieses zittrige kümmerliche Mütterlein, an das ihn doch augenscheinlich kein Verwandtschaftsverhältnis knüpfte.

»Ja, ja,« antwortete er im Gehen auf ihre Reden, »er hatte immer die große Müdigkeit und tat alles wie im Traume. Nur wenn die Feldpost kam, wurde er lebendig.«

Das Weiblein glänzte auf. »Dann kamen die Briefe von seiner Mutter – und die Pakete« – sie verlor sich in heitere und traurige Erinnerungen jener verhängnisvollen Tage. – »Jetzt darf er schlafen,« sagte sie endlich mit resignierter Mutterliebe, die ihrem Liebling das Beste gönnt. Der Veteran drückte ihr die Hand zum Abschied mit einer Erschütterung in den grobgeschnitzten Zügen, die mich überraschte.

»Und ich will doch nicht sterben, bis meinem Wilhelm seine Ehre widerfahren ist,« sagte sie eigensinnig, sich noch einmal nach dem Obelisken zurückwendend.

»Wir müssen eben eine neue Eingabe machen, Frau Präzeptorin,« antwortete der alte Soldat und sah ihr mit unbeschreiblichem Ausdruck nach, wie sie gestärkt und gehoben durch dieses Versprechen mit rüstigeren Schritten von dannen ging.

Ich hatte unterdessen Zeit gehabt, mir den Mann zu betrachten, und glaubte in ihm einen Nachbarssohn zu erkennen, der als Unteroffizier im Jägerkorps gestanden hatte und, wenn er sich auf Urlaub bei den Seinen aufhielt, zuweilen auch in mein elterliches Haus gekommen war.

Als ich ihn ansprach, zeigte sich's, daß meine Vermutung mich nicht täuschte. Nachdem wir uns die Hände geschüttelt und die üblichen Erkundigungen ausgetauscht hatten, fragte ich: »Warum wird denn der Frau ihr Anliegen nicht erfüllt? Sie ist doch wahrhaftig im Rechte.«

Der alte Soldat sah sich um, ob niemand zuhöre. Dann antwortete er in gedämpftem Ton:

»Ach, das ist eine traurige Geschichte. Der Wilhelm war so ein lang aufgeschossener schwächlicher Mensch, und sie hätten ihn freilich nicht zu den Soldaten nehmen sollen. Er schlief oft während des Marschierens ein und taumelte hin und her wie ein Betrunkener; einer schob ihn dem andern mit dem Ellbogen zu. Daß er den furchtbaren Gewaltmarsch nach Sedan ausgehalten hat, nimmt mich noch heute Wunder! Die Kameraden halfen ihm durch, wo sie konnten, aber in einer eiskalten Nacht bei Champigny traf ihn sein Schicksal doch. Unsere Feldwache hatte ihre Doppelpostenkette gegen das Marneufer ausgestellt. Der Vorpostendienst in den schaurigen Novembernächten war dort viel gefürchteter als die offene Schlacht. Wir mußten jeden Augenblick auf einen Überfall gefaßt sein und wurden Tag und Nacht, ohne uns regen zu dürfen, von den Kugeln der Zuaven Der Begriff Zuave wurde für in Nordafrika rekrutierte Söldner gebraucht. Die Zuaven trugen auffällige, an türkisch-orientalische Trachten angelehnte Uniformen; sie entwickelten sich seit der Mitte des 19. Jh. zu einer regulären Infanterietruppe der französischen Armee mit Elitecharakter. belästigt. Sie dürfen glauben, es war kein Spaß, auf der sumpfigen Wiese bei Schnee und Regen, mit den Füßen im Kot, die Hand beinahe fest gefroren am Gewehr, stunden- und stundenlang unbeweglich auszuhalten, nichts zu sehen als die dichteste Finsternis, nichts zu hören als das Rauschen des Wassers und ab und zu eine vorbeisausende Kugel.

Die Reihe kam auch an den Wilhelm, und es fügte sich, daß mit ihm zusammen der schneidigste Bursche aus der ganzen Kompagnie auf den Posten kommandiert wurde. Aber beim Morgengrauen, als die Ablösung kam, da gaben die zwei keine Antwort, und erst nach längerem Suchen fand man das eine Postenglied, mit dem Kopf in einer Pfütze liegend, tot, durch eine Kugel vom anderen Marneufer niedergestreckt. Zehn Schritte davon hinter einem Weidengebüsch saß der Wilhelm, gegen einen Baumstumpf gelehnt, auf dem nassen Boden. Der Kopf hing ihm auf die Brust herab, und angerufen regte er sich nicht. Wir glaubten, auch er sei tot – wär' er's doch gewesen! Aber nach vielem Rütteln kam er zu sich, er sah ganz verworren umher und konnte auf keine Frage Antwort geben. Er war vor Frost und Übermüdung eingeschlafen, der arme Teufel – eingeschlafen auf Vorposten vor dem Feinde! Die Kameraden hätten ihn gern gerettet, aber da war kein Vertuschen möglich, auch hatte er einen Feldwebel, der ihm aufsässig war. Ja, weiß Gott,« setzte er nach einer Pause seufzend hinzu, »es ist eine harte und schwere Sache um das Soldatenleben im Kriege.«

»Was ist mit ihm geschehen?« drängte ich atemlos.

»Das Kriegsgericht trat noch am selben Morgen zusammen. Das ganze Bataillon weinte um ihn. Aber was wollen Sie – die Disziplin –«

»Erschossen?!« rief ich.

Der Veteran sah sich um und machte eine Handbewegung, die um Schweigen bat.

Nach einer langen Pause fuhr er leise fort: »Es war die härteste Stunde meines Lebens. Das ganze Bataillon wurde dazu aufgestellt, und die besten Schützen mußten vortreten – ich war auch darunter. Allen zerriß es das Herz, außer dem Wilhelm selbst. Dem war alles gleichgültig, er konnte nicht mehr. Nur schlafen! Nun, dafür ist ihm gesorgt worden.

Aber sehen Sie, so große Tage noch für uns nachkamen, die Gründung des Reichs und der siegreiche Einzug in der Heimat – das Bild des Wilhelm in seiner letzten Stunde, wie er da mit verbundenen Augen an der Mauer lehnte, das bringe ich nicht aus den Augen. Und nie faßt seine Mutter meine Hand, daß mich nicht ein Schauer überläuft und ich denken muß: Wenn sie wüßte! – Sie weiß es nicht und wird nie davon erfahren. Sie lebt von der Hoffnung, seinen Namen da droben an der Marmortafel lesen zu können, was doch nie geschehen wird. Alle paar Jahre muß ich eine neue Eingabe für sie machen, die schreibe ich auf Stempelpapier, falte sie schön zusammen und stecke sie daheim in meinen Ofen. Es hülfe ja doch zu nichts, und die alten Geschichten läßt man besser schlafen. Wir können nur hoffen, daß die Völker endlich zur Vernunft kommen und daß so schreckliche Kriege sich nicht erneuern. Sonst – wie sollte ein Familienvater, der so etwas in seiner Jugend miterlebt hat, je noch eine Nacht ruhig schlafen!«

* * *


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